Bernd Boden

Dismatched: View und Brachvogel


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gleich sind. Das ist im Prinzip auch angemessen und in Bezug auf Wellness und Sicherheit aller auch dringend notwendig. Und doch gibt es einen Unterschied. Du kennst den Grundsatz: ‚Jedem nach seinen Bedürfnissen.‛ Diesem Grundsatz trägt das BasicIncome Rechnung, das jeder Citizen bezieht und das unabhängig dessen, was er zum großen Ganzen beiträgt, einen grundlegenden Lebensstandard sichert, hinter den niemand zurückfallen kann.“

      Hier drängte sich View sofort der Gedanke an ihr KatharsisEgg auf. Schon die BasicVersion hätte sie sich von ihrem Grundeinkommen nicht leisten können und an das KatharsisEggOdour wäre erst gar nicht zu denken.

      „Wir hier in der Agency erweitern nun den Grundsatz ‚Jedem nach seinen Bedürfnissen‛ um den Zusatz ‚Dem Einzelnen gemäß seinen Fähigkeiten‛. Die Grundbedürfnisse aller Citizens sind gleich und jeder der 3 Millionen Citizens unserer Urb hat ein Anrecht darauf, dass sie befriedigt werden.

      Doch die Fähigkeiten der Citizens sind ungleich verteilt und um die Urb in Funktion zu halten, ist auch eine gewisse Diversität der unserer Citzenship zugrunde liegenden Genkulturen unumgänglich. Ganz vordergründig betrachtet erfordern administrative und steuernde Funktionen nun einmal höhere Qualifikationen als rein repetitive und reproduktive Tätigkeiten. Die BadPastLessons werden dir anschaulich gemacht haben, dass in den Zeiten vor dem Finalen Kata­klysmus ein Großteil der Menschen in solchen rein reproduktiven oder gar repetitiven Sektoren tätig war. Die sich in sturer Mechanik ständig wiederholenden repetitiven Tätigkeiten haben wir gründlich abgeschafft und auch der Großteil der reproduktiv versorgenden Arbeiten ist von den Service- und MaintenanceUnits übernommen worden.

      Mit dem erforderlichen Abstand und angesichts der komplexen Hintergründe betrachtet, wäre es aber trotz dieser Errungenschaften in Wissenschaft, Robotik und Nanotechnologie suboptimal, in unseren GenBanken und UterusLabs nur Citizens mit herausragenden Fähigkeiten zu generieren, weil wir damit gewissermaßen alles auf eine Karte setzen würden. Denn sämtliche Informationen, die uns aus der Zeit vor dem Kataklysmus zur Verfügung stehen, haben gezeigt, dass nur die Systeme längertaktig überlebensfähig waren, die über eine gewisse Vielfalt ihrer Mitglieder verfügen konnten. Ausschläge ins Extreme, sowohl eine zu hohe Diversität und Vielfalt als auch eine zu große Homogenität und Einheitlichkeit, waren dagegen immer verhängnisvoll.

      Eine überschaubare Vielfalt in gemittelter Qualität zu schaffen lautet daher die Devise. Im Grunde eben genau das, was die klassische Gaußsche Glockenkurve auszeichnet.“

      Sonol hielt inne, lächelte und sah View an: „Wenn ich zu sehr ausschweife, unterbreche mich ruhig. Konntest du mir bis dahin folgen?“

      „Geht schon in Ordnung. Ich frage mich nur, was hier konkret die Aufgabe der Agency ist.“

      „Die Aufgabe der Agency ergibt sich aufgrund der Tatsache, dass Genpool und Sozialisation zu ungefähr gleichen Teilen zur Entwicklung und damit dem Verhalten der Citizens beitragen; es ist bislang noch nicht gelungen, das genaue Verhältnis exakt zu ermitteln. Den GenCoktail können wir zwar zu 100 Prozent bestimmen, die Sozialisation, die ja bei aller Normierung und Mittelung immer auch auf subjektivem Erleben beruht, lässt sich dagegen nicht hundertprozentig beeinflussen.

      Die Generierung neuer Citizens überlassen wir getrost den Biotechnikern, die gemittelte Qualität der Sozialisation zu gewährleisten aber ist unser Ding. In Bezug auf die Konzeption neuer Citizens hört die Arbeit der Genbastler genau dann auf, sobald ein kleiner Citizen sich anschickt, den BirthSimulator zu passieren. Da die Sozialisation aber ein Leben lang andauert, begleitet die Agency einen Citizen eine weitaus längere Strecke und unsere Einflussnahme endet erst, wenn ein Citizen die Ebene wechselt und sein Körper in den ZeroWaste-Kreislauf eingespeist wird.

      Schon die Einführung des BirthSimulators geht auf uns zurück. Statt unseren ausgereiften Nachwuchs einfach den NucleusTanks zu entnehmen, schicken wir ihn durch den engen Schlauch des BirthSimulators und simulieren so die Bedingungen der Humangeburt. Als Kinder noch auf dem sogenannten natürlichen Wege auf die Welt kamen, war die Erfahrung der Enge des Geburtskanals das erste Angsterlebnis, das für ihre spätere Einstellung gegenüber Risiken und Gefahren prägend war. Der Mythos und psychologische Studien besagen, dass das Angstempfinden von Kindern, die dieses Geburtstrauma nicht durchleben, geringer ausgeprägt ist. Und Citizens, die wenig oder gar keine Angst haben, verhalten sich nicht berechenbar und sind damit nur schlecht zu mitteln. Das ebenfalls von uns entwickelte Konzept der BadPastLessons beruht ebenfalls auf Angst.“

      Und es funktionierte, erinnerte sich View schaudernd an ihre Fahrt in dem „Zer­knall­treibling“.

      „Aber ich schweife ab – deine Aufgabe in der Agency: Um also im Rahmen der Sozialisation jedes Citizens diese, wie schon gesagt, überschaubare Vielfalt in gemittelter Qualität schaffen zu können, suchen wir solche aus der Masse he­rausragenden Talente wie dich. Du hast mit deinem Einsatz für deine MateCompany – übrigens eine sehr gute Wahl – eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass du nicht nur die Motive der Peers deiner unmittelbaren SocialUnit, sondern da­rüber hinaus auch die anderer Citizens nachvollziehen und in gemittelte Bahnen lenken kannst, die daher geeignet sind, die WirtschaftsSozialität der Urb zu stärken.“

      Hier sah Sonol View erwartungsvoll an.

      „Was hätte ich denn in dieser Hinsicht in der Agency konkret zu tun?“

      „Diese berechtigte Frage habe ich schon viel früher erwartet. Offensichtlich bist du aber an Hintergründen interessiert und kannst zuhören, ohne zu unter­brechen und vorschnell falsche Schlüsse zu ziehen. Auch eine nicht ganz unbedeutende Qualifikation für den Job, den wir dir anzubieten haben. Ich will versuchen, mich kurz zu fassen.

      Die grundlegenden Abläufe der Matchingprozesse in der Urb sind dir natürlich bekannt: Ihr Ziel ist – und das kann ich nicht oft genug wiederholen – das Schaffen von Sicherheit durch eine überschaubare Vielfalt in gemittelter Qualität. Lass uns mit diesem Ziel im Hinterkopf einmal die grundlegenden sozialen Aktivitäten ins Auge fassen, also im Grunde alles das, was du im Rahmen einer MatchingSession managst. Was regelst du denn da so?“

      View zögerte kurz. War das eine versteckte Prüfung? Doch wie auch immer, sie musste antworten. „Ich bewerte, ranke, klassifiziere und kategorisiere das, was die Peers meiner SocialUnit und ich tagsüber erlebt haben, um es in Übereinstimmung zu bringen und Mitteln zu können.“

      „Was machst du da beispielsweise ganz konkret?“

      „Ich beurteile und bewerte meine Meinungen, Einstellungen und mein Verhalten, indem ich sie den vom System angetragenen Kategorien zuweise und in ein Ranking einordne, ich klassifiziere Produkte und Services, bringe sie ebenfalls in eine Rangfolge und analysiere so meine und die entsprechenden Käufe der Peers meiner Social­Unit ... und im Zweifelsfalle starte ich eine Matching­Schleife, um ein Verhalten, die Bewertung eines Verhaltens oder die Bewertung eines Produktes oder eines Services zu mitteln.“

      „In welchem Zweifelsfalle?“

      „Ja, natürlich immer dann, wenn ein Peer im Verhalten, einem Kauf, einer Meinung oder einem Classifying vom Mittel meiner SocialUnit zu sehr abweicht, versuchen wir übrigen Peers das in einem MatchingLoop wieder anzugleichen und zu mitteln.“

      „Ganz genau! Wie erlebst du es, wenn deine SocialUnit wegen deines eigenen Verhaltens oder Votens ein MatchingLoop startet?“

      „Dann bin ich immer neugierig festzustellen, aufgrund welchen Verhaltens, welcher Wahlen, Classifyings und Votings ich vom Mittel abge­wichen bin und bin, ehrlich gesagt, auch immer etwas unruhig, bis dann alles geklärt ist.“

      „Schön. Das verstehe ich sehr gut. In der Regel kann es ja durchaus einigen Takt dauern, bis jemand wieder in die Mitte seiner Unit zurückgeholt wird. Schließlich sollen der Loop und die individualisierten Anträge des Systems ja niemanden abrupt in die Mitte zurückzwingen, sondern davon überzeugen, dass Mittelung eine höhere Lebensqualität bringt, weil sie unser aller Leben vorhersehbar und damit sicherer macht. Unser Ziel, eine absolut sichere Gesellschaft zu schaffen, können wir langfristig nur über Einsicht erreichen. Zwang schafft zwar kurzfristig Stabilität, provoziert aber letztlich immer Widerstand. Und Widerstand macht die Dinge unberechenbar.