Bernd Boden

Dismatched: View und Brachvogel


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schneller Folge sanken fruchtba­re, schwarze Erdklumpen auf die Seite. Zwar riss nach nur wenigen Spannen der Keil ab, die Vorteile der Konstruktion aber waren nur zu offenbar geworden. Brachvogel war aufgefallen, dass der veränderte Pflug dem Ebsel deutlich mehr Widerstand entgegengesetzt hatte. Vielleicht konnte man das mit einem Dop­pelgespann von Ebseln ausglei­chen. Er ging in die Knie, um sich die Lage der Erdschol­len genauer anzusehen, vielleicht sollte er auch den Winkel seines Erdumwerfers noch steiler machen. Aber das waren nur Kleinigkeiten, denen er sich später widmen konnte. Im Prinzip hatte sich seine Idee als tragfähig erwiesen und nur darauf kam es an. Als er sich wieder aufrichtete, wurde er gewahr, dass Bruna sie aus der Ferne beobachtete. Für sie musste die Erprobung des Erdumwerfers so ausgesehen haben, als hätten sie einen Stein aus dem Weg geräumt. Brachvo­gel nahm seine Runden wieder auf und Agror bezog seine Stellung am Pflugpfahl, um die Seilwicklungen zu überwachen.

      Bruna war inzwischen nahe herangekommen. Stur und mit zusammengebissenen Zähnen zog Brachvogel seine Runden. Er empfand die ausgeklügelte Prozedur des nächtens im Kreise Pflügens als völlig überflüssige Schnörkelei, die niemandem etwas nutzte. Nicht sollte die Klave der Natur, sondern die Natur der Klave dienen. Was war falsch daran, sich das Leben zu erleichtern? Was war falsch daran, durch Einsatz der richtigen Mittel, die zugegebe­nermaßen tiefer in die Erde eingriffen, einem Acker mehr Frucht abzuringen, als mit einem Ritzpflug möglich war? Was war falsch daran, die altüberkommenen und ausgetretenen Pfade zu verlassen und Neues auszuprobieren? Die Dinge konnten doch nur besser werden! Je län­ger er das Treiben in der Klave von seiner Warte aus betrachtete, desto stärker drängte sich ihm der Verdacht auf, dass es dem Kreis der Weisen Frauen um die Archontin mit all ihrer Demut und Besonnenheit und dem stoischen Beharren auf dem, was schon immer so gewesen war, weniger darum ging, Übel von der Klave abzu­wen­den, als vielmehr darum, die eigene Macht zu festigen und die Mannlinge in Abhängigkeit zu halten.

      Aus der Ferne ließ sich jetzt ein kehliges Trompeten vernehmen. Brachvogel hielt inne, blickte voll gespannter Erwartung nach oben und suchte den Himmel ab. Richtig: Von Süden her zog eine Kette von Kranichen ihre pfeilgerade Schnur in die Luft. Es begann wieder! Von nun an würden täglich tausende dieser großen Vögel über den Himmel ziehen. Sie schienen immer ganz genau zu wissen, wohin sie wollten und in den offenen Horizont hinein geradewegs auf ihr Ziel zuzufliegen. Es war dies eine Zeit des Aufbruchs. Alles in der Natur keimte, spross, wuchs, üppigte und geilte, drängte vorwärts, verdrängte dabei anderes und strebte möglichst schnell in die Breite und Höhe, um sich Licht, Luft und Raum zu erobern. Auch Brachvogels Blut wallte vor unbestimmtem Verlangen, grenzenloser Sehnsucht und unbändigem Tatendrang.

      Für die Klave aber war das Symbol des Kranzes, das die Archontin eben während der Zeremonie mithilfe des dunklen Tönens in den Köpfen der Mannlinge heraufbeschworen hatte, leider nur allzu treffend: Ihrer aller Leben verlief im Kreis, war erstarrt im ewig immer Gleichen. Doch Brachvogel war es satt, wie ein Ebsel an der Leine im Kreis herumzulaufen. Die Eintönigkeit seiner Tage und das eherne Gehäuse der Riten und Kreisläufe schnürten ihm schier den Odem ab. Er sehnte sich nach dem offenen Horizont. Er wollte wider den Stachel löcken, wollte das Reis sein, das aus dem Rund des Kranzes ausbrach. Er würde sehen, ob er der Archontin nicht die Vorteile seines Pfluges schmackhaft machen konnte. Mochten Demut und Besonnenheit Luna, dem Mondtag und den Müttern gehören, Tatkraft und Stärke der Männer aber gehörten Sol und dem Sonnentag.

      System / ClockedCounter / Update_567 / Takt_17.856.730

       Dein Schlaf gehört dir!

      Agitation der Oneironauten

      Die leichten Bewegungen des in völliger Dunkelheit auf dem Wasser treibenden Körpers lösten leise Wellen aus, die sich an den würfelförmigen Ausstülpungen der Wände des schalltoten Raumes brachen. Die Citizen war völlig nackt. Lediglich ihre Kopfhaut war mit einem supraleitfähigen Gel überzogen, in das ein engmaschiges Netz von Elektroden eingebettet war, die Art und Intensität der Aktivitäten ihrer unterschiedlichen Hirnhemisphären ausforschten. Das 34,8 Grad warme Wasser entsprach exakt der Außentemperatur ihrer Haut und seine durch den Zusatz von Magnesiumsulfat erhöhte Dichte hielt sie völlig schwerelos in der Schwebe. Dergestalt von allen äußeren Sinnesreizen abgeschirmt hatte sich die Citizen ganz in ihre Innenwelten zurückgezogen.

      Diese waren Gegenstand des Interesses einer Gruppe von Citizens, die auf ein Set von Monitoren blickten, die Aufschluss über das Geschehen im Inneren des SensoryDeprivationTanks gaben, der alle äußeren Sinnesreize ausschloss. Infrarotkameras übertrugen Lage und Bewegungen des Körpers und vor allem in Großaufnahme das Gesicht der Citizen, die auf der Salzwasserlösung schwebte: Ihre Züge waren völlig entspannt, lediglich die Augen unter den geschlossenen Lidern befanden sich in ständiger Bewegung. Die Kurven und Linien des Enzephalogramms, das die Elektroden auf ihrer Kopfhaut übermittelten, gaben die Aktivität ihrer Hirnhemisphären wieder. Auf einem Bildschirm überlagerten sich die Amplituden von Theta-, Alpha- und Betawellen in einem charakteristischen Muster. Ein untrüglicher Indikator dafür, dass die Synapsen ihres limbischen Systems mit höchster Intensität feuerten.

      Die Citizen träumte tief. Dass sie sich, obwohl von allen Sinnesreizen abgeschottet, innerlich im Zustand höchsten Erlebens befand, zeigten auch ihr angestiegener Blutdruck, die unregelmäßige Atmung und der bis auf die Muskelringe um die Augen herabgesetzte Muskeltonus; ein Mechanismus, der den unwillkürlichen Impuls, geträumte Bewegungen körperlich umzusetzen, ins Leere laufen ließ und sie so vor Verletzungen schützte.

      „Esther tritt jetzt in die fünfte REM-Phase ihres Schlafs ein“, bestätigte eine hochgewachsene Frau, die dem neben ihr stehenden Traumnovizen als Seherin Kassandra vorgestellt worden war. „Siehst du, wie ihre Augen unter geschlossenen Lidern Bewegungen und Abläufen folgen, die sie im Traum wahrnimmt? Sie durchlebt in der Regel 4 bis 6 solch intensiver Traumphasen, von denen jede jeweils etwas länger dauert, die fünfte im Mittel etwa 40 MinorTakte. Aber da wir weder exakt wissen, wie lange sie diesmal in REM5 bleibt, noch sicher davon ausgehen können, dass sie tatsächlich eine noch längere sechste Tieftraumphase erlebt, werden wir sie in 35 MinorTakten wecken. Unmittelbar aus dem REM-Schlaf erwachend, können wir uns nämlich am intensivsten an unsere Träume erinnern.“

      „Warum träumt Esther im Tank und nicht in ihrem Bett?“

      „In der REM-Phase schlafen wir nicht so fest wie im traumlosen Tiefschlaf, sind also prinzipiell störungsanfällig. Wir glauben, durch den Ausschluss aller äußeren Sinneseindrücke die Intensität des Traumerlebnisses steigern und beim Aufwachen im Tank eine besonders unverfälschte Traumerinnerung provozieren zu können. Deswegen nennen wir die Salzlake, auf der Esther treibt, auch ,Mne­mosyne‛. Mnemosyne hieß bei den alten Griechen, eines der vielen mythischen Völker vor dem Finalen Kataklysmus, ein Fluss, dessen Wasser die Erinnerung zurückbringen sollte.“

      Auf die Wellenmuster auf dem Bildschirm deutend fuhr Kassandra fort: „Um dir zu vergegenwärtigen, was die einzelnen Kurven bedeuten, stelle dir das Bewusstsein und das Unbewusste einmal als die entgegengesetzten Punkte eines Kontinuums vor, das von Wellen unterschiedlicher Länge durchzogen wird. Je niedriger nun die Frequenz einer Hirnwelle, je länger sie also ist, umso eher weist sie auf eine Aktivität hin, die in den Zentren des Hirns angesiedelt ist, die unterbewusste oder unbewusste Inhalte verarbeiten. Je höher die Frequenz einer Hirnwelle, also je kürzer sie ist, umso mehr zeigt sie eine Aktivität des Wachbewusstseins oder einen Zustand höchster Konzentration oder Intensität an.

      Hier nun haben wir viele lange Wellen mit relativ niedriger Frequenz ‒ Thetawellen. Die Kurven mit etwas höherer Frequenz sind Alphawellen und die ganz kurzen hochfrequenten, Betawellen.

      Die Thetawellen signalisieren die Aktivität des persönlichen Unterbewusstseins und stehen auch für die Verarbeitung von Inhalten des überpersönlichen Unbewussten. Sie sind charakteristisch für die Phase tiefen Träumens, das sich vor allem in den Regionen des limbischen Systems und hier besonders in einer Amygdala genannten Hemisphäre abspielt. Neben dem Stammhirn ist das limbische System die tiefste und älteste Hirnschicht und von der Amygdala wird gesagt, dass hier der Ursprung der Emotionen liegt. Du kannst dir denken, dass das limbische System und die Amygdala beim Träumen besonders