Bernd Boden

Dismatched: View und Brachvogel


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ermöglichen Berechenbarkeit. − Berechenbarkeit schafft Sicherheit.“ Das musste von der MatchingAdministration und BigDataAlliance kommen. Korrekt!

      „Sicherheit ermöglicht Freiheit. − Freiheit erfordert Sicherheit.“ Das war mit hoher Wahrscheinlichkeit ihr mit hoher Wahrscheinlichkeit zukünftiger Arbeit­geber. Richtig, das Logo der Agency erschien: eine stilisierte gaußsche Glockenkurve.

      „Wer die Zukunft er-mittelt, sichert die Gegenwart.“ Board of PredictiveProfiling.

      „Nur ein professionell angeleiteter Kauf stärkt dein Persönlichkeitsprofil!“ BuyingGuidance.

      „Messen, wählen, teilen. Was nicht messbar ist, existiert nicht.“ SocialRankingCircle.

      Der Screen flimmerte und wurde völlig dunkel. Dann erschienen große weiße Schriftzeichen. Kein Clip, kein Ton, nur Text.

      „Dein Schlaf gehört dir!“

      Das konnte View nicht einordnen. Ein Anbieter von Luxusliegen? Kein Urheber. Da, auch auf dem nächsten InfluenceBoard.

      „Dein Schlaf gehört dir!“

      Jetzt überlagerte dieser seltsame Slogan immer wieder für einige MicroTakte die Werbung auf sämtlichen Boards, die View passierte, ohne dass jemals angezeigt wurde, von wem er stammte. Dann war es vorbei und die üblichen Reminder erschienen wieder.

      Inzwischen war der Tower der Agency in Sichtweite gerückt. Er lag mitten in einem Geschäftsviertel, an dessen Peripherie die AntiGrav endete. View verließ ihr Cab, gewöhnte sich kurz an die Schwerkraft, die ihre Arme nun wieder nach unten zog, und bestieg einen der bereitstehenden Hover, mit denen Kurzstrecken zurückgelegt wurden. Als Member der Agency hätte sie einen speziellen Zubringer der AntiGrav nutzen können, aber noch hatte sie keinen Kontrakt mit ihrer DNA gesiegelt und so schlängelte sie sich durch die Menge der Citizens, die ganz offensichtlich ihre CasualFreeTime genossen und durch die ShoppingMalls flanierten, die eine der Prachtstraßen der Urb, die GaußAvenue, säumten. Selbst in diesem dichten Gedränge konnte sie sich erlauben, den SpeedoMat des Hovers hochzuziehen, denn dessen CrashDefender verhinderten Zusammenstöße, verur­sach­ten aber des Öfteren einen ziemlichen Schlingerkurs, um eben diese zu vermeiden.

      Vor View tauchte eine Citizen auf, deren Brust und Rücken mit Tafeln behängt waren, auf denen Werbung für RetroFashion aufgebracht war. Richtig, die BadPastLessons hatten ja wieder einmal CuriosityWeeks ausgerufen, deren Thema diesmal „Die Entwicklung der Werbung vor dem Finalen Kataklysmus“ war. Diese Citizen war eine SandwichWoman, ein wandelnder Werbeträger und EyeCatcher, wie er damals wohl üblich gewesen war. View grinste vor sich hin. Kurios, in der Tat. Sie konnte sich nicht vorstellen, sich mit solch statischen und analogen Informationen begnügen zu müssen, sondern liebte es, alle Pros und Cons von Angeboten umfassend und in allen Fassetten im OmniNet zu recherchieren und sämtliche Rankings der Peers ihrer SocialUnit dazu einholen zu können. Nur so ließ sich eine sichere und ihrem Psychogramm kongruente Kaufentscheidung treffen.

      Die GaußAvenue endete unter einem monumentalen Bogen in Gestalt einer Glockenkurve, der auf den MesotesCircus führte, einen weitläufigen Platz, auf dem der Tower der Agency bis fast unter die Kuppel ragte. „Ohne Mittelung keine Freiheit. – Abweichung erfordert Intervention.“, stand über dem Portal. Diese Botschaft wurde nicht wie üblich auf ein InfluenceBoard gestreamed, sondern war als gewissermaßen in Stein gehauenes MissionStatement in weithin sichtbaren Lettern in das Material der Außenhaut des Gebäudes eingelassen. View stellte ihren Hover ab und sah sich um. Der Platz war dicht mit Citizens besetzt, die nach ihrer Shoppingtour an einer der zahlreichen Fontänen saßen oder in das Foyer des AgencyTowers strömten, um sich vor Ort die neuesten Statistiken anzusehen, was vor dem Hintergrund dieses Ambientes wesentlich eindrucksvoller war, als die Daten lediglich im OmniNet abzurufen.

      View fiel ein Citizen auf, der sich gerade auf eine Mauer schwang, die eine der Fontänen einfasste. Seine Erscheinung wirkte irgendwie deran­giert, ohne dass sie hätte sagen können, woran das lag. Der Mann breitete die Arme aus und schrie etwas über die schwach blinkenden Statusanzeigen der MatchingEyes hinweg, die über den Köpfen der Menge schwebten. View konnte nur den Rest verstehen:

      „Ich bin ein Rufer in der Wüste und wahrlich, ich sage euch:

      Die Fülle des Daseins ist verdorrt,

      das Salz des Lebens ist verweht,

      das eherne Regime der Mittelung verurteilt euch zu ewigem Gleichmaß.

      Was ihr nicht suchet, werdet ihr nicht finden.

      Was ihr nicht erwartet, wird euch nicht geschenkt werden.

      Was ihr euch nicht vorstellen könnt, wird euch nicht beglücken.“

      Erst als die Gestalt von der Mauer sprang und zwischen den Citizens untertauch­te, wurde View klar, was ihr so seltsam vorgekommen war. Ein Solist? Konnte es sein, dass über dem Kopf dieses „Rufers“ kein MatchingEye schwebte? Doch ehe sie darüber Gewissheit erlangen konnte, war er schon in der Menge verschwunden.

      Sie wies dem Vorfall keine besondere Bedeutung zu und betrat das Foyer der Agency, dessen Decke sich erst in der Höhe mehrerer Stockwerke über ihr wölbte. Auf den HoloSäulen, mit denen der weitläufige Raum bestückt war, tickerten die aktuellen Statistiken und Umfrageergebnisse und nahmen in um die eigene Achse rotierenden Kubusdiagrammen dreidimensionale Formen an.

      View ließ sich auf ihrem AeroFlat den Weg zu Sonols WorkingCell 68/56 in einer der oberen Etagen zeigen. Da der Lift keine Zwischenhalte ansteuerte, erreichte sie Level 68 nach kurzem Takt. Dort passierte sie eine lange Flucht identisch aussehender Türen und hatte schließlich Cell 56 erreicht. Ihr Besuch wurde schon auf dem VisitorDisplay angezeigt: Kibele2k5, Takt 54.000. Die Anzeige blinkte. Sie wurde also erwartet und konnte eintreten. Sonol2ak saß über sein ManagingDesk gebeugt und arrangierte und manipulierte mit weit ausholenden ikonografischen Gesten die zahlreichen 3D-Diagramme, die aus dessen Screens wuchsen und mit ihrer Gestalt auch ständig ihren Aussagegehalt veränderten. Eine Seite der Cell war transparent und bot View einen spektakulären Ausblick. Vor ihr breitete sich nicht nur die Topografie des CapitalGround, sondern auch die der nächstgelegenen Plattformen aus.

      Sonol blickte auf: „Willkommen in der Agency, Kibele2k5. Sei gemittelt.“

      „Sei ebenfalls gemittelt, Sonol2ak“, erwiderte View, die Mühe hatte, ihren Blick von dem phänomenalen Panorama loszureißen. „Ich freue mich sehr, hier zu sein.“

      „Ja, wir überblicken von hier aus die halbe Urb und was noch besser ist, wir haben das Verhalten der 3 Millionen Citizens und der 93.750 SocialUnits der gesamten Urb fest im Griff“, lachte Sonol und legte besondere Emphase auf „gesamte Urb“. „Aber nimm doch Platz.“

      View sah sich um. Die einzige freie Sitzgelegenheit, ein drehbarer und in Höhe und Achsneigung stufenlos verstellbarer Sitzpilz, war nicht, wie sie eigentlich erwartet hätte, vor dem ManagingDesk, sondern dahinter, direkt neben Sonols Pilz platziert. Das ließ erfreulicherweise darauf schließen, dass in der Agen­cy LeanManagement nicht nur propagiert, sondern auch praktiziert wurde. View nahm Platz, richtete sich aus und arretierte mit einem leichten Schlag auf den Stil Sitzhöhe und Neigung.

      Sonol wandte sich von seinen Diagrammen ab und schwang auf View zu. „Vorab bin ich gehalten ‒ nur für den Fall, dass wir nicht zusammenkommen, wovon ich zwar nicht ausgehe, aber immerhin ‒ dich darauf hinzuweisen, dass du alles, was du in diesem Gespräch erfährst, streng vertraulich behandelst. Wenn du Member der Agency bist, bekommst du ohnehin eine Sicherheitseinstufung, aber solange du die noch nicht hast, muss ich mich darauf verlassen können, dass nichts, worüber wir nun sprechen werden, aus den 6 Wänden dieser Cell dringt. Einverstanden?“

      „Sicher.“

      „Wir hier in der Agency versehen gewisse hoheitliche Aufgaben, die mehr als entscheidend für die Mittelung und damit für die Sicherheit und das Weiterkommen der Urb sind und wir sind der Meinung, dass uns das zu einem gewissen Sonderstatus berechtigt.“

      Aufmerksam fixierte Sonol Views Blick und als er nichts darin fand, was ihn daran hindern