Bernd Boden

Dismatched: View und Brachvogel


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zu schweben und legten ihre Bestimmung noch nicht offen, nichts war festgeschrieben, es herrschte weder gestern noch morgen, war weder Mond- noch Sonntag und alles schien möglich. Seit er denken konnte, lebte Brachvogel im Dazwischen, fühlte sich nirgends zugehörig, mochte sich nicht festlegen, liebte den offenen Horizont der Möglichkeiten, in dessen endlosen Weiten er sich verlieren konnte. Hier im Dazwischen war er wirkmächtig, wob sein Gespinnst von Ideen und empfand, was immer es zu empfinden gab.

      Vielleicht würde es ihm ja heute Nacht gelingen, etwas ins Leben zu rufen, dass die Geschicke der Klave in neue Bahnen lenken konnte.

      Doch noch war Brachvogel weder Herr seiner Zeit, noch Jagdfrau, noch der Schmiedin Gehilfling, sondern nur ein unbedeutendes, fest im Gewerk der Klave verzahntes Rädchen, das unausweichlich und unbarmherzig angetrieben wurde. Schnell schöpfte er in der Wölbung der zusammengelegten Hände Wasser aus der Schüssel, warf es sich ins Gesicht und rieb sich den Schlaf aus den Augen, säuberte sich die Zähne mit dem ausgefaserten Ende eines Buchenreises, das er vorher mit etwas Pottasche bestreut hatte, band sein Schamtuch um, zog seinen Kittel an und schlüpfte in seine Sandalen.

      Nachdem die Oberfläche des Wassers in der Schüssel nun wieder glatt wie ein Spiegel war, strich er sich seine braunen, schulterlangen Haare hinter die Ohren und beugte sich über das Gefäß, um sich die Stoppeln seiner Gesichtsbehaarung abzuschaben. Ein hageres Gesicht, mit weit auseinander liegenden grünen Augen, dichten Brauen, einer leicht schief stehenden Nase, einem schmalen Mund und einem energischen Kinn blickte ihn an. Vorsichtig begann er sich mit einer Tonscherbe, deren Kante er an einem Wetzstein geschärft hatte, über die Wangen zu fahren. Brachvogel hasste diese mühsame Prozedur, aber hierzu ein Messer zu benutzen, war ihm, wie allen anderen Mannlingen, die unter Haarwuchs im Gesicht litten, verwehrt. Da sein Gesichtshaar sehr schnell spross, hätte er es gern einfach wachsen lassen, doch das war verpönt und selbst die Stoppeln erregten den Anstoß der Frauen.

      Als er mit seinen Genossen aus der Hütte trat, gewahrte er in einem Winkel der Gasse eine kleine Gestalt, die sie ganz unverhohlen neugierig anstarrte. Sicher ein frisch aus der Stätte der Aufzucht entlassenes Milchkind, ein Knabling, der an den Anblick von Mannlingen noch nicht gewöhnt war. Wie alle unter dem Rund von Luna geborenen Mannlinge war auch Brachvogel in der Stätte der Auf­zucht ausschließlich im Kreise der Mütter aufgewachsen und bis zum Alter von sieben Umlaufzwölfen von wechselnden Brüsten genährt worden.

      Seit vielen Lunaumläufen schon waren immer weniger Menschen zur Welt gekommen und jedes neue Leben war zu kostbar und unterlag unüberschaubaren Einwirkungen, als dass die Mütter es von Geburt an dem alltäglichen Leben in der Klave aussetzten. Stattdessen wurden die neugeborenen Knablinge als Milchkinder in der Stätte der Aufzucht von den Müttern umhegt und von allen schädlichen Einflüssen ferngehal­ten, bis sie die Milch der Friedfertigkeit untereinander, der Behutsamkeit im Umgang mit der Schöpfung und der Demut gegenüber Luna zur Gänze in sich aufgesogen hatten und in die­sem Geiste gefestigt und erstarkt schließlich in das Leben in der Klave entlassen werden konnten. Die Kleinen Frauen dagegen, so munkelte man, wurden unter nicht offenbaren Umständen an einem Ort namens Hort der Weisung auf ihre Lenkungsaufgaben den Mannlingen und ihre Verantwortung der Schöpfung gegenüber vorbereitet. Es war schon seltsam, dachte Brachvogel, Mannlinge waren zwar für die Zeugung nötig, schienen aber sonst einen eher schädlichen Einfluss auf die Milchkinder auszuüben, sonst würden sie nicht so strikt von ihnen ferngehalten.

      Kein Wölkchen zog am Nachthimmel dahin und die volle Luna stand schon hoch über der Klave, die von schmalen Gassen durchzogen an den Steilhang eines Berges geschmiegt am Ufer eines großen Stromes lag, den ein breiter Fahrweg säumte. Diese wenigen Nächte in den Frühjahres- und Herbstmonaten, in denen Luna gegen Ende des zweiten Viertels ihres Um­laufs fast ihre volle Gestalt erreicht hatte, bis sie in ganzer Rundung erstrahlte und dann im dritten Viertel ihres Umlaufs wieder langsam an Fülle abnahm, waren dem Pflügen der Felder und dem Säen gewidmet. So war es Brauch seit alters her und die Worte der Archontin und der Weisen Frauen bestätigten ohne Unterlass, dass diesen überlebensnotwendigen Verrichtun­gen, die den Ernteertrag der Klave sichern sollten, nur unter dem Lichte des Nachtgestirns ein gutes Gelingen beschieden war. Unausweichlich würde auch in dieser Nacht der vollen Mon­din die Archontin die Bewohner der Klave wieder mit einer Rede voller Salbung überzie­hen, um die nächtlichen Arbeiten weihevoll einzuleiten.

      Während die anderen Mannlinge von dergestalt Sprüchen offensichtlich angerührt und beflügelt wurden, war Brachvogel ihrer allmählich überdrüssig, konnte er doch zwischen dem, was die Archontin deklarierte und prophezeite und dem, was sich dann tatsächlich begab, niemals einen wie auch immer gearte­ten Zusammenhang ausmachen. Das, was sich tatsächlich ereignete, schien gänzlich von dem unabhängig zu sein, was die Archontin oder eine der Weisen Frauen stets so würdevoll ver­kündeten. Alle Zeremonien und Rituale konnten augenscheinlich weder Heil hervorrufen noch Unheil bannen. So hatten während der letzten Pflanzperiode in den dem Pflügen und Säen geweihten Nächten dichte Wolken den Himmel bedeckt, so dass Lunas Strahlen die Erde nicht erreichen konnten, darob die Klave gezwungen war, die Erde am Tage aufzubrechen und den Samen im Lichte der Sonne in sie zu legen. Obwohl dies natürlich als sehr bedroh­liches Omen galt, war die Ernte so gut oder so schlecht ausgefallen wie ehedem. Und obwohl die Weisung der Schamaninnen immer wieder lautete, dass die Zeichen für die Empfängnis neuen Lebens gut stünden, waren in den zurück­liegenden Umlaufzwölfen der Klave immer weniger Nachkömmlinge gewährt worden.

      Heute Nacht nun strahlte das Licht der Mondin so hell, dass Brachvogel vom Hüttenkranz seiner Frauschaft aus die gesamte Klave bis hinunter zur Lunagleiß überblicken konnte, auf deren Wassern eine breite Bahn schimmernden Glanzes lag, die dem Strom wahrlich alle Ehre machte. Der Tag war sehr warm gewesen und der würzige Geruch von Rosmarin lag in der Luft, der sich im Sonnenglast von dem Kraut gelöst und durch den Tau der Dämme­rung noch verstärkt hatte. Hinter Brachvogel ragte die Flanke des Fernwarte geheißenen Ber­ges in die Höhe. Im Süden links neben ihm verlief zwischen Steilhang und Ufer einer der beiden Wälle, die die Klave zum offenen Land hin sicherten. Rechts neben sich erspähte er in nord­östlicher Richtung in der Ferne den gegenüberliegenden Wall. Die Klave erstreckte sich etwa zweitausend Doppelschritte in der Biegung des Flusses und mochte wohl an die dreißigtausend Häupter zählen.

      Überall waren jetzt die Mannlinge zu den Versammlungsstätten unterwegs und auch Brachvogel und seine Genossen mussten flussaufwärts zum in der Mitte der Klave gelegenen großen Rund der Kündung und Ver­sammlung. Als sie sich auf den Weg machten, sah er neben sich seinen Schatten und die der anderen schreiten. Statt sich dem Gewirr der engen Gassen zwischen den Hütten der einzelnen Frauschaften auszusetzen, die sich an der Flanke des Berges hinzogen, nahmen sie den kürzesten Weg hinunter zur Lunagleiß und folgten dann dem breiten Fahrweg am Ufer.

      Die Gleiß war die Lebensader der Klave. Ihre Wasser erlaubten den Transport schwerer Lasten aus dem stromaufwärts gelegenen Umland. Die leeren Lastschuten wurden von Ebseln, die die Wildheit und Stärke des Ebers mit der Fügsamkeit und Ausdauer des Esels vereinten, weite Strecken stromauf gezogen und trieben beladen mit Getreide, Kartoffeln und Rüben, tonhaltiger Erde, Bauholz und Steinen, die zur Errichtung festerer Bauten als der üblichen Hütten benötigt wurden, wieder stromab und landeten am unmittelbar unterhalb des flussaufwärtigen Walles gelegenen Hafen an, wo sie entlastet wurden.

      Es war ein immerwährender Kampf – der natürlich stets auch der beschwörenden Worte der Archon­tin bedurfte – den Treidelpfad, der am Ufer dahinführte, nach den Überschwem­mun­gen im Frühjahr und Herbst wieder gangbar zu machen. Es war keine geringe Kunst, die Zugleinen so auszurichten und zu halten, dass die Leinenreiter die Schuten gut lenken konnten und die kostbare Ladung weder der Gewalt des Stromes anheimfiel und abgetrieben wurde, noch am Ufer auflief und zum Stillstand kam. Aber war die Fahrt einmal in Gang gekommen, bedurfte es nur noch geringer Anstrengung, die Schute auf Kurs zu halten. Im Gegensatz zu den vielen anderen Aufgaben, die er zu versehen hatte, liebte Brachvogel die langen und trägen Tage, an denen er von seiner Weisungsfrau zum Leinenreiter bestellt wurde. Unter sich das dampfende Tier, neben sich den behäbig murmelnden Fluss, zog er dann gemächlich dahin und musste lediglich darauf achten, dass die Leine, die vom Geschirr seines Ebsels zur Schute führte, immer straff ge­spannt blieb, und so gesichert war, dass sich die Zuglast gleich­mäßig auf die