Bernd Boden

Dismatched: View und Brachvogel


Скачать книгу

die Anträge des Systems zur Mittelung um und sorgt so durch Absehbarkeit und Berechenbarkeit des SocialBehaviour für Sicherheit

      Scout der Agency: Spürt Dismatchte auf und mittelt, recentert sie

      MatchingEye: Drittes Auge, das über den Köpfen der Citizens schwebend deren LifeScript aufzeichnet

      Morpheustron: Einheit des MatchingEyes, die verhindert, dass sich die Citizens an ihre Träume erinnern können

      Board of PredictiveProfiling: Prognostiziert auf Basis sämtlicher Daten mit hoher Wahrscheinlichkeit die Zukunft

      Authority of PoliticalIndoctrination: Entwickelt und steuert die Messages der Influ­enceBoards im Sinne der Mittelung

      BadPastLessons: Zeigt den Citizens am Beispiel der Schrecken der praekata­klystischen Zeiten eindringlich, dass die Mittelung in die beste aller Welten führt

      RhythmClimbing: Flächendeckend gehyptes Event zur emotionalen Aufladung der Mittelung

      BuyingGuidance: Sorgt durch eine stringente Einkaufsbiografie für ein optimiertes Psychogramm der Citizens

      Oneironuten: Widerstandsgruppe der Traumschiffer, die die Mittelung unterwandert, indem sie Morpheustrone stört und Bücher verteilt

       Einheiten des Systemtakts

      Sekunde: MicroTakt

      Minute: MinorTakt

      Stunde: MacroTakt

      Tag: MegaTakt

      Woche: GigaTakt

      Monat: TeraTakt

      Jahr: MajorTakt

      System / ClockedCounter / Update_566 / Takt_15.563.200

      „Sicherheit ermöglicht Freiheit. – Mittelung schafft Sicherheit.

       Ohne Mittelung keine Freiheit. – Abweichung erfordert Intervention .“

      Agency of SocialTechnology

      Der erste bewusste Eindruck, an den View sich erinnern konnte, war das sanfte Pulsieren der Statusanzeige ihres MatchingEyes über ihrer GrowUpUnit. Das kaum wahrnehmbare Surren des fliegenden Auges wiegte sie in den Schlaf. Die Linsen der Kameras folgten jeder ihrer Bewegungen. Und im Gegensatz zu den Gesichtern, die sich über sie beugten und wieder verschwanden, den be­wegten Bildern, die von Zeit zu Zeit über ihrem Kopf erschienen und den mechanischen Gebilden, die sich ab und an über ihren Händen drehten, war das MatchingEye ihr nimmer­müder und allgegenwärtiger Begleiter, der von Anbeginn unablässig über ihr schwebte. Seit Views Konzeption in den Genbanken der UterusLabs war über ihr MatchingEye ihr gesamtes Leben in einem kontinuierlichen LifeStream aufgezeichnet und als LifeScript abgespeichert worden.

      An diesem Abend wurden anlässlich ihrer Initiation als gemittelte Avera­gedCitizen der Community die KeyVisuals vorgestellt, die das System als maßgebend für Views Werdegang ermittelt hatte. Neben ihrem MatchingAdvisor, ihren CustomBuddys und etlichen Vertretern der Agency of SocialTechnology und der MatchingAdministration hatten sich auch alle ihre Mates 1st-step, etliche 2nd- und 3rd-step und sogar jemand 4th-step im MatchingCube ihres Habitats versammelt.

      In dem weiten, dämmerigen Raum flackerten auf holografischen Säulen Schlüsselszenen aus Views bisherigem Leben: View als Embryo im NucleusTank zusammengekauert, zum ersten Mal den Daumen in den Mund führend. View zwischen den Labien des BirthSimulators heraus ins Leben gepresst. View mit gespitzten Lippen in seliger Selbstvergessenheit an der LactoCare saugend. View erstmals ihr MatchingEye fixierend und mit den Augen verfolgend. View ihre ersten Labiallaute bildend. View, der sich ein erstes Lächeln ins Gesicht stiehlt. View die ersten taumelnden Schritte wagend. View bei ihrer ersten selbstständigen Defäkation auf dem AquaCleanAbsorber. View mit vor Konzen­tration zusammengepressten Lippen ihren ersten Kopffüßler malend. View mit leuchtenden Augen während ihres ersten SozioEmpathischen Trainings im CorporateGrowthCenter mit ihren Peers. View bei ihren ersten Schritten in den digitalen Weiten des OmniNets. View in verschiedenen Unterrichtssituatio­nen während ihrer Zeit auf der UniqueSchool of Averaging. View mit glänzenden Augen und vor Erregung geröteten Brüsten während ihres ersten SexDatings im LoveGym mit Hatrico7C7. View in ihrer allabend­lichen MatchingSession beim Screenen ihres DayStreams die Erlebnisse ihres Tages kategorisierend.

      View fand es aufregend, so buchstäblich im Blickpunkt zu stehen. Sie schlenderte von Grüppchen zu Grüppchen, begrüßte hier jemand, den sie lange nicht outNet gesehen hatte, wechselte dort ein paar Worte und versuchte im Allge­mei­nen, einen guten Eindruck zu machen, denn während solcher Initiationsfeiern waren in der Regel Recruiter von Firmen und Organisationen anwesend, die einem spannende Joban­gebote machten. Sie rechnete mit hoher Wahrscheinlichkeit damit, von einem Recruiter der Agency of SocialTechnology angesprochen zu werden.

      Trotzdem konnte sie ihren Blick nicht von den Szenen ihres LifeScripts abwenden. Bislang war ihr immer nur der Stream ihrer jeweils aktuellen Entwicklungsperiode zugänglich gewesen und nun rauschte ihr Leben erstmals im Gesamtzusammenhang an ihr vorbei. Man­ches war schon so lange her, dass sie sich kaum noch daran erinnern konnte oder es völlig aus ihrem Bewusstsein verschwunden war. Neben vielen verschwommenen Eindrücken und Empfindungen, die die Szenen aus ihrer frühen Kindheit in ihr auslösten, stieg plötzlich ganz unmittelbar und eindringlich das Gefühl von Sicherheit und Angekommensein in ihr hoch, das sie nach ihrem ersten SozioEmpathischen Training erfüllt hatte.

      Sie musste etwa 5 gewesen sein, als ihr Betreuer einen beim ProductMemory ausgebroche­nen Streit zum Anlass nahm, alle 8 Kinder des Samples der GenKohorte327XK4, mit denen View im CorporateGrowthCenter täglich zusammen war, zur Unterweisung zu schicken:

      „Ihr seid jetzt alt genug, um zu begreifen, warum es immer wieder zu solchen Zankereien kommt und morgen werden wir lernen, was wir machen können, damit dies in Zukunft nicht mehr so ist.“

      Am nächsten Tag war dann ihr MatchingAdvisor gekommen und die Kinder hatten sich mit ihm in einen Kreis gesetzt und er hatte sie gefragt:

      „Wenn ihr euch aussuchen könntet, eine Frucht zu sein, welche würdet ihr dann sein wollen? Wenn ihr ge­wählt habt, bekommt ihr jeweils einen Sticker mit dieser Frucht auf euer Shirt.“

      Die bekann­testen Lieblingsfrüchte waren schnell gefunden und in denjenigen Fällen, wo mehrere Kinder etwa einen Apfel oder eine Birne wollten, wurden die Sticker einfach nummeriert, um eine eindeutige Identifikation mit ihrem Träger zu ermöglichen. View meinte sich zu erinnern, nach langem Zögern eine Kiwi gewählt zu haben, weil sie mit dieser Frucht bestimmt keinem anderen Kind in die Quere kommen würde. Sie war stets auf Sicherheit bedacht, wollte sich keine Blöße geben, da sie die Reaktionen ihrer Peers nie abschätzen konnte. Sie war in der Gruppe die Außenseiterin, schwamm immer nur ganz am Rande mit, ängstlich darauf be­dacht, weder völlig abzudriften noch in den Strudel der Aktivitäten gezogen zu werden, in dem sie fürchtete unterzugehen. Sie fühlte sich immer fremd und war in der Gruppe niemals völlig entspannt.

      „Was mögt ihr denn an euren Früchten besonders und was eher nicht? Wie sollten sie sein und wie eher nicht?“, verfolgte der Advisor seine Strategie weiter und ent­wickelte mit den Kindern die Gegenpole von süß und sauer, weich und hart, knackig und laff, fruchtig und herb, reif und unreif etc. Für jeweils eine dieser Dichotomien mussten die Kinder sich dann entscheiden, um die tendenziell positive oder negative Befindlichkeit ihrer Frucht zu charakterisieren. Und auch hier gab es dann die entsprechenden Sticker: Zuckerwürfel und Zitrone für süß und sauer, Kissen und Stein für weich und hart, ein prall-grünes und ein runzlig-gelbes Salatblatt für knackig und laff etc. Auch diese Sticker brachten die Kinder an ihrem Shirt an, das jeweils eher negativ besetzte Attribut aus Sicht des Betrachters links und das eher positiv Besetzte rechts neben ihrer Frucht.

      „Ich