Bernd Boden

Dismatched: View und Brachvogel


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um sich mit einem SurpriseDrink auszustatten. Dieses von der EventFactory neu entwickelte Getränkekonzept beruhte darauf, dass der unbedarfte Flüssigkeitsliebhaber aus den unter­schiedlichsten Zutaten, die nicht im Detail, sondern nur in Form allgemeiner Geschmacksrich­tungen oder ihrer erwartbaren Wirkung ausgewiesen waren, sein ganz individuelles Getränk zusammenstellte. Das Areal der SurpriseDrinks nahm auf dem Buffettisch eine erstaunlich große Fläche ein.

      In Fächern mit Beschriftungen wie süß, sauer, salzig, fruchtig, bitter, aromatisch, pfeffrig, klebrig, perlend oder belebend, beruhigend, aufwühlend, nachdenklich stim­mend, euphorisierend und vielen mehr lagen unscheinbare Aluwürfel, die lediglich die entsprechende Kategorie, eine Mengenangabe und – wenn vorhanden – den Alkoholgehalt oder den einer anderen Droge aufwiesen. Außerdem gab es da Korrelationen, die View bislang noch nie mit einem Getränk in Verbindung gebracht hatte: Pelzig-samtig, trocken-sandig, langsam-sackend, feurig-stürzend, quälend-ziehend, kurzlebig-wuchtig, nachhaltig-erstaun­lich etc. Angesichts der Jobanbahnungsgespräche, die sie hier noch führen würde, beschloss sie, um die Zutaten mit Prozentangaben einen weiten Bogen zu machen. Auch das Fach mit dem Hinweis „?!“ mied sie geflissentlich. Nachdem sie spontan etwa 10 Aluwür­fel mit der Beschriftung nach oben auf ein Tablett gelegt hatte, ordnete sie diese in 3 Gruppen an, legte einige Würfel zurück und ersetzte sie durch solche, die ihr passender erschienen. Mit ihrer Komposition zufrieden, schob sie die Aluwürfel nacheinander in die Aufnahmeöff­nung des Mixers und betätigte den Startknopf. Das Gerät heulte kurz auf und entließ dann eine schäumende Flüssigkeit undefinierbarer Farbe in das unter dem Ausguss stehende Glas. Sie nahm einen vorsichtigen Schluck.

      Uh, auf diese Geschmacksexplosion war sie nicht vorbereitet, fruchtig und dabei süß und pfeffrig zugleich. Gar nicht übel eigent­lich, nur sehr ungewohnt, aber vielleicht gerade deshalb interessant genug, um sich schwarz auf weiß ausdrucken zu lassen, welche Ingredienzien genau sie sich da in welchem Mischungsver­hältnis zusammengerührt hatte. So konnte sie die Mixtur bei einer späteren Gelegenheit exakt reproduzieren. Einen passenden Namen dafür hatte sie auch schon: SecureFuture. Ganz sicher mit dieser Benennung war sie sich allerdings nicht. Vielleicht erlebte sie ja bezüglich der Kategorie „nach­haltig-erstaunlich“ noch eine böse Überraschung, doch vorerst ging es ihr sehr gut.

      Ihr Glas in der Hand stand View eine Weile unschlüssig herum und überlegte, in welches der Grüppchen sie sich einklinken sollte, als einer der Citizens, von denen sie vermutet hatte, dass er zur Agency gehörte, direkt auf sie zusteuerte.

      „Kibele2k5?“

      Aha, dachte View und nickte, tatsächlich die Agency.

      „Sei gemittelt. Schöne Feier hier! Mein Name ist Sonol2ak von der Agency of SocialTechnology. Sicher hast du schon von uns gehört.“

      „Natürlich ist mir die Agency ein Begriff.“

      „Wir besuchen Initiationsfeiern wie diese hier aus gutem Grund, weil sich uns so eine Gelegenheit bietet, persönlich mit solch hoffnungsvollen Talenten wie dir, die frisch die UniqueSchool abgeschlossen haben, ins Gespräch zu kommen. Hast du Interesse?“

      „Wie könnte ich kein Interesse haben? Die Agency ist einer der potenziellen Arbeitgeber, die mir das System mit hoher Wahrscheinlichkeit angetragen hat – aber das weißt du schon.“

      „Sicher. Aufgrund deines Profils war das natürlich abzusehen. Aber Genaueres müssen wir hier auch gar nicht besprechen. Widme dich doch wieder deinen Gästen und komm morgen nach der BadPastLesson gegen Takt 54.000 bei uns vorbei. Dann besprechen wir alles Weitere. Den Lead zu meinem Profil und meinen LokalisationPoint habe ich dir bereits übermittelt. Ist das so Okay für dich?“

      „Vielen Dank, ja, das werde ich tun“, bestätigte View. „Ich freue mich.“

      „Dann also bis morgen“, nickte ihr der Agent noch einmal freundlich zu und verschwand wieder in der Menge.

      Doppelgauß, das ließ sich ja ganz wie erwartet an, resümierte View. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würde sie also bei der Agency anfangen!

      Erst jetzt merkte sie, wie angespannt sie den ganzen Takt über gewesen war. Zwar hatte sie ein Recruitinggespräch in etwa dieser Richtung erwartet, aber eine Realität, die ihre Erwartungen auch tatsächlich eingelöst hatte, war immer beruhigender, als eine lediglich erwartbare Realität, selbst wenn sie eine relativ hohe Eintrittswahrscheinlichkeit hatte.

      Views Blick blieb an einem der HoloScreens hängen, die die Szenen aus ihrem LifeStream zeigten. Hier musste sie etwa 12 MajorTakte alt gewesen sein. Sie stand mit der Gruppe ihrer Peers vor einem Gehege im AnimalDrom und bot sichtlich begeistert einem Waschbären, der sie durch seine von dunklem Fell umrandeten Augen zutraulich ansah, auf der flachen Hand eine Portion synthetischer Kerne an. Sie konnte sich noch daran erinnern, selbst auf die Gefahr hin, dass etwas von dem Waschbärnasch herunterfiel, den Hinweis ihres AnimalAdvisors genau befolgt zu haben, dabei die Handfläche keinesfalls zu wölben, damit das AnimalPet nicht auf die Idee kam, an ihren emporgerichteten Fingerspitzen zu knabbern.

      View aktivierte den Timer ihres AeroFlats: Takt 3.487. Es war schon spät und sie merkte, dass ihre Energie um den Nullpunkt herumdümpelte. Sie drehte noch eine kurze Runde, um sich bei Freunden und Besuchern ihres Initiation­Events zu bedanken und zu verabschieden und machte sich dann zu ihrem Hexagon auf. Bevor sie das Bewerbungsgespräch mit dem Recruiter der Agency führte, wollte sie ihren Entspannungszyklus voll ausschöpfen. Die Wohnräume innerhalb der einzelnen Habitate waren konzentrisch um den MatchingCube angeordnet und so dauerte es nicht lange, bis sie die Tür ihres Hexagons hinter sich geschlossen hatte, das nur ein kleines Stück den CircuitWalk hinunter lag.

      Auf dem großen Screen, der den Raum beherrschte, trat ihr eine mittelgroße Frau gegenüber, unter deren fließendem Gewand sich schlanke Glieder abzeichneten. Unter kaum wahrnehmbaren, wie fragend hochgezogenen Augenbrauen blickten sie leicht oval geschnittene blaue Augen an. Dieser Gesichtsausdruck und die Tatsache, dass sie sich niemals damit begnügte, die Dinge nur oberflächlich wahrzunehmen, sondern überall genau hinsah, um Durchblick zu bekommen, hatten View auch ihren Nickname eingetragen. Sie fand, dass die filigranen Win­dungen ihrer kleinen, enganliegenden Ohren zu der fast perfekt symmetrisch geformten Wölbung ihres kahlen Kopfes einen wirkungsvollen Kontrast bildeten. Die relativ hoch angesetzten Wangenknochen gaben ihrem Lächeln etwas strahlend Offenes. Mit ihrer Nase dagegen war sie nicht ganz so einverstanden, der vielleicht eine Spur zu breite Sattel erschien ihr ein wenig unvorteilhaft. Auch ihre Lippen waren vielleicht etwas zu schmal, das Kinn vielleicht eine Spur zu weich definiert. Aber all das würde sich gegebenenfalls ändern lassen. Nach einer Phase ziemlich radikaler schönheitschirurgischer Eingriffe sah es aktuell allerdings fast so aus, als würde wie so oft der Trend ins Gegenteil umschlagen und sogenannte natürliche Gesichtszüge gauß werden. Momentan war View mit ihrem Aussehen aber ganz zufrieden. Es diente ihrer Selbstvergewisserung, wenn sie sich zusätzlich zu ihrem Konterfei auf dem Screen noch in den Spiegeln sah, mit denen 3 der 6 Wände des wabenförmig angelegten Raumes versehen waren.

      Sie klatschte in die Hände:

      „Licht: 500 Lux, flächendeckend, cremeweiß; Geruch: Anis; Musik: Brain-

      Smoother von den Averagers.“

      Da sie Ordnung, Überschaubarkeit und Klarheit über alles schätze, verfügte Views Hexagon über eine Ausleuchtung, die keine Schattenareale entstehen ließ. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass der Duft von Anis sie in kürzester Zeit herunterbrachte und die Klänge von Brain­Smoother taten ihr Übriges. View bevorzugte klare Linien und matte, helle Farben und so hatte sie ihren Raum in den LivingStyles „elementar“, „funktional“, „sachlich“ und „puristisch“ ausgestattet; Kategorien, in denen sie jeweils die höchste von 5 möglichen Merkmalsausprägungen gewählt hatte. Sie konnte nicht nachvollziehen, wie sich Sonoki3ab, eine ihrer FirstMates, in Styles wie „verschwurbelt“, „versponnen“ und „verschattet“ wohlfühlen konnte. Deren Hexagon war eine von schwach rötlichem Licht erfüllte Höhle, in der nichts an dem Platz zu sein schein, an den es gehörte und allein die Anzeigen auf dem Screen verlässliche Orientierung ermöglichten. Da View und Sonoki aber 95 Prozent ihrer Mat­chingPoints teilten und so in fast allen anderen Kategorien übereinstimmten,