Bernd Boden

Dismatched: View und Brachvogel


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wie ihr ausseht“, entließ sie ihr Advisor. „Gut oder schlecht, knackig oder laff, süß oder sauer? Und wenn ihr eure Wahl getroffen habt, macht ihr die Smileys und Grumpies, die ich euch jetzt austeile, rechts oder links an eure Frucht. Einen Smiley rechts, wenn ihr euch eher gut fühlt und mit den anderen etwas machen wollt und einen Grumpie links, wenn ihr euch eher schlecht fühlt und wollt, dass die anderen euch vorsichtig behandeln. Wenn ihr euch nicht entscheiden könnt, ist das nicht schlimm, dann lasst sie einfach weg. Aber dann können die anderen nicht wissen, wie ihr euch fühlt, und behandeln euch vielleicht falsch.“

      View gehörte zu denen, die morgens immer ihren Smiley oder Grumpie setzten und sie hasste es, wenn andere sich nicht entscheiden konnten. Endlich war sie mit ihren Gefühlen nicht mehr völlig auf sich zurückgeworfen, war aus dem Sumpf ihrer Innerlichkeit gezogen, der sie von den anderen isoliert hatte. Sie musste nicht länger befürchten, nicht verstanden zu werden oder unangemessen zu reagieren. Sie legte ihre Befindlichkeit und ihre Gefühle offen und im Gegenzug offenbarten sich die anderen ihr. So konnte es weniger zu Missverständnissen und Animositäten kommen. Und das Setzen der Smileys oder Grumpies geschah nicht etwa nur nach Lust und Laune der Kinder, sondern war vom MatchingAdvisor und den anderen großen Citizens ausdrücklich erwünscht und verbindlich gemacht worden, so dass die Kinder über­zeugt davon waren, das Richtige zu tun. Falls Views Befindlichkeit sich tagsüber einmal nicht so entwickelte, wie sie es morgens angezeigt hatte ‒ und das war eigentlich oft der Fall ‒ be­mühte sie sich trotzdem, sich so zu fühlen oder zumindest so zu geben, um den Erwartungs­haltungen ihrer Peers zu entsprechen und sie nicht ins Leere laufen zu lassen. Damit lagen die sonst so komplizierten zwischenmenschlichen Dinge nun zum Greifen offen. View hatte end­lich Verhaltenssicherheit erlangt und binnen weniger Wochen dümpelte sie nicht mehr im Brackwasser am Rande ihrer Gruppe, sondern stand in deren Zentrum.

      Vergaußt und gemittelt, waren diese Zeiten schon lange vorbei, lächelte View in sich hinein. Anstelle der Unsicherheit und des Gefühls des Verlorenseins, die ihre ersten Lebensjahre geprägt hatten, waren Sicherheit und Berechenbarkeit getreten und heute bereiteten ihr ihre SocialRelations keinerlei Probleme mehr. Das System hatte ihr auf der Basis von identischen oder kompatiblen MatchingPoints jede Menge Mates zugewiesen, mit denen sie eine Grundgesamtheit bildete, deren Mitglieder mit ihren übereinstimmende Features und Merkmalsausprägungen aufwiesen oder solche, die sich sinnvoll ergänzten. Ihr gesamtes gesellschaftliches Leben spielte sich innerhalb dieser SocialUnit ab und sie genoss es, rund um den Takt eine Gruppe von Peers zu haben, mit denen sie ihre Interessen, Ideen, Wünsche und Vorlieben passgenau teilen und auch weiterentwickeln konnte. Jede Minute ihrer Zeit war getaktet und verplant. Sie war es gewohnt, ständig aktiv zu sein, Dinge zu machen und Spaß zu haben. Wie alle anderen Citizens auch genoss sie jederzeit schnelle und konkrete Verwirklichung im Hier und Jetzt. Alles war berechenbar und umgeben von Services und Produkten, die ganz unmittelbar Nutzen und Vergnügen stifteten, waren die Menschen in ein absehbares und verlässliches Gefüge von Abläufen und Aktivitäten eingebettet.

      Wie View im Geschichtsunterricht an der UniqueSchool of Averaging gelernt hatte, war das Leben nicht immer so erfüllt und so sicher gewesen. In den Zeiten vor dem Finalen Kataklysmus, als die Community sich dem Takt des Systems noch nicht überantwortet hatte, konnte man nie wissen, was auf einen zukam und wälzte folglich ständig Probleme, hegte weitreichende Vorstellungen und wartete geduldig auf irgendetwas Erhabenes oder Beglückendes, das ebenso groß wie unbestimmt war und ohnedies niemals eintrat.

      Jetzt hatte View die School mit einem Score von fast 100 Prozent abgeschlossen und ihr vom System erstelltes Profil im OmniNet würde das Interesse vieler spannender Organisationen wecken, so dass sie aus etlichen Jobalternativen frei würde wählen können. Sie war sich noch nicht restlich darüber im Klaren, welche Richtung sie exakt einschlagen sollte. Aber die Ergebnisse der noch ausstehenden Tests und Auswertungen würden auch ihre letzten Zweifel und Unsicherheiten ausschließen, so dass sie sich hundertprozentig sicher sein konnte, zur richtigen Entscheidung geführt worden zu sein. Die Konturen ihres zukünftigen Lebens waren abgesteckt und vermessen und erstreckten sich klar vor ihr wie das feste Band der AntiGrav, über die die Verkehrs- und Warenströme der Urb verliefen.

      „Na, alles im Mittel?“, zog Siema27#X, eine von Views FirstMates, sie auf die Seite. „Wie findest du mich?“ fragte sie mit einem triumphierenden Grinsen, reckte den rechten Arm in die Höhe, winkelte die Hand ab und deutete mit dem Zeigefinger von oben auf ihren Kopf, während sie sich um die eigene Achse drehte.

      Siema surfte immer auf dem Kamm der höchsten Welle dessen, was gerade gauß war. Aktuell waren das die CoatingCo­lours. Siema schillerte in allen 7 Farben des Regenbogens, dessen Streifen sich ohne Unterbrechung gleichermaßen über ihre Kleidung, die textilfreien Hautpartien an Händen, Armen und Ausschnitt, ihr Gesicht und ihre Kopfhaut zogen.

      „Wie hast du das denn hinbekommen?“ erwiderte View anerkennend.

      „Neue Produktlinie von EpidermaSoft und SecondSkin. Du ziehst ein spe­zialbeschichtetes weißes Suit an, gewissermaßen als Grundierung ‒ und da gibt es einiges an Auswahl ‒, gehst dann zu einem ColourPoint, schlüpfst in die Kabine, wählst ein Motiv, machst die Augen zu und bekommst es dann nahtlos auf die Klamotten und dein Astralkörperchen appliziert. Funktioniert ungefähr so wie eine Rundumdusche, in der du das Ganze dann übrigens abends auch wieder abspülen kannst.“

      „Das ist auch gut so, sonst würdest du morgens wahrscheinlich aussehen wie ein zerlaufenes Ganzkörpermakeup“, lachte View.

      „Hab dir und den Mates den Lead zu den Produktsites schon geschickt“, infor­mierte Siema und verschwand wieder zwischen den Leuten, um sich bewundern zu lassen.

      View ließ ihren Blick über die bunte Vielfalt im Saal schweifen. Siema war eindeutig der Paradies­vogel und würde wahrschein­lich wie schon so oft wieder einmal Trendsetterin sein.

      Da waren etwas abgehoben wirkende Gestalten in grauen Overalls mit dem Emblem der MaAd auf der Brust; zwei senkrecht aufgestellte Handflächen, die zu einem HighFive ansetzten und durch eine Spiegelung in einer langen Kette von HighFives ins Unendliche zu laufen schienen. View hatte dieses Emblem der Mat­chingAdministration immer als etwas unpassend empfunden. Die „Matchies“, wie sie genannt wurden, waren als kühle Techniker und akribische Verwalter eher nicht für ihre Temperamentsausbrüche bekannt. Wahrschein­lich versuchte man durch das Symbol der HighFive die Akzeptanz und Attraktivität der Adminis­tration in der Öffentlichkeit zu erhöhen.

      In der MatchingAdministra­tion liefen sämtliche Datenströme der Urb zusammen. Diese LegionBytes an Daten wurden auf der Basis von auf molekularer Ebene codierter und dann synthetisierter DNA in gigantischen Datenbanken gespeichert und für den Zugriff der verschiedensten Stellen und Dienste aggregiert. Wer hier arbeitete, nahm zum Frühstück wahrscheinlich codierte DNA-Sequenzen zu sich, um die darin gespeicherten Informationen im Falle eines Systemausfalls jederzeit abrufbereit zu haben. Das war nicht Views Ding, denn das System hatte ihr stark ausgeprägte Empathiefähigkeiten und einen hohen Wert in emotionaler Intelligenz ausgewiesen und daher wollte sie nicht mit Daten, sondern mit realen Menschen arbeiten. Das Betätigungsfeld der Matchies betraf dagegen immer nur den digitalen Abdruck der Realität, auch wenn View natürlich klar war, dass der in der Administra­tion geschärfte Abdruck dann wiederum der Realität seinen Stempel aufdrückte.

      Völlig anders dagegen lagen die Dinge bei der Agency of SocialTechnology, die stets von der Aura des Geheimnisvollen umgeben war. View war zwar bekannt, dass hier die LifeScripts aller Citizens, ihre sämtlichen Ratings und Rankings sowie die der Mates ihrer jeweiligen SocialUnits ausgewertet und daraus dann Psychogramme und die entsprechenden MatchingPoints abgeleitet wurden, aber wie das im Detail ablief und was hier noch so alles abging, konnte sie nur vermuten. Ganz offensichtlich an der Arbeit der Agency war nur, dass von Zeit zu Zeit deren Scouts auf­tauchten, viele Fragen stellten oder als stille Beobachter aus einer Ecke heraus das Geschehen mit Argusaugen verfolgten, um dann wieder zu verschwinden. So konnte View auch jetzt mit hoher Wahrscheinlichkeit ausmachen, wer von den Citizens im Raum ein Scout der Agency war. Nicht an der Kleidung, denn die Agents passten ihr Outfit in der Regel dem des Umfelds an, in dem sie gerade tätig waren, wohl aber an ihrem Verhalten: Diejeni­gen, die sich intensiv mit anderen unterhielten, dabei aber oft die Gesprächsgruppen wechselten,