Bernd Boden

Dismatched: View und Brachvogel


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des Egg zulegen, deren SensoHaptoren nicht nur den Anschein der Schwerelosigkeit erweckten, sondern den Floater tatsächlich schweben ließen.

      Jeder Citizen ging im Alter von 12 Jahren mit einem Anbieter seiner Wahl eine auf Langfristigkeit angelegte Kundenbindung ein. Mit Zwölf hatte jeder hinreichende Produkt- und Angebotskenntnisse sowie genügend Markttransparenz erworben, um eine begründete Wahl für diese wichtige Partnerschaft treffen zu können, die exklusiv, aber nicht verbindlich war. Kunden und Unternehmen sahen in dieser Allianz eher Chance als Pflicht. Vonseiten der Anbieter, die ihre angehenden Kunden mit einer Patenschaft umwarben, hieß es daher:

      „Wir haben die Verpflichtung, unseren Kunden zu dienen. Unsere Kunden aber nicht die Pflicht, bei uns zu kaufen.“

      Mit dem Zustandekommen eines Clientingkontrakts wurden die jungen Citizens zu Markenbotschaftern ihrer MateCompany. Sie testeten Warenmuster, bevor die Produkte in den offenen Verkauf kamen und beantworteten im Zuge von Neuentwicklungen entsprechende Fragen zu Design und Funktionalität. Im Gegenzug gewährte ihnen der Konzern Sonderkonditionen, sponserte ihre Ausbildung und stellte einen Arbeitsplatz in Aussicht, den sie antreten konnten, falls ihnen das System keine anderen Möglichkeiten antrug. Die Unternehmen hatten mit ihren Patenkunden Scouts und Multiplikatoren in den Zielgruppen und konnten hoffen, lebenslang einen begeisterten Kunden zu haben und dessen Ertragswert in Form des CustomerLifetimeValue voll auszuschöpfen.

      Die jungen Citizens ließen sich das Logo ihrer MateCompany auf die Innenseite ihres linken Unterarms einskinnen. Auf Views Arm prangte das Bildlogo von Pear: eine stilisierte auf der rechten Seite angebissene Birne, mit einem einzelnen, ebenfalls nach rechts gerichteten Blatt. Lange vor Views Zeit hatte Pear mit dem PearMonchalard den Prototyp eines portablen Kommunikators auf den Markt gebracht. Die Technik dieses AirSolidifiers beruhte darauf, durch Ionisation aus einer nur wenige Moleküle mächtigen Luftschicht ein nanostrukturiertes Gitter zu formen, das als Projektionsfläche für die durch einen Laser projizierten Inhalte diente und wie ein Touchscreen benutzt werden konnte. Inzwischen trug jeder ein solches, AeroFlat genanntes Gadget am Arm, über das die gesamte mobile Kommunikation lief. Die MatchingEyes, die alle Citizens, zwei Armlängen über ihren Köpfen schwebend, wie ihr persönlicher Duft überallhin begleiteten, stellten als HotSpot die Verbindung zum System her.

      View war sich lange nicht sicher gewesen, welches Unternehmen sie zu ihrer MateCompany machen sollte, aber neben den gaußen Produkten, dem besonderen Flair und der Stimmigkeit der Markenwelt hatten letztlich ihre Einkaufsstatistik und ihre Rankings und Suchen im OmniNet den Ausschlag für Pear gegeben. View hatte sich bei ihren Peers sehr engagiert für ihre Company eingesetzt und war mit der Zeit für ihre Alterskohorte zu einer der maßgebenden OpinionLeader geworden. Und jetzt hatte sich das Unternehmen dafür erkenntlich gezeigt. Dass MateCompanies ihren Paten zum Abschluss der UniqueSchool Geschenke machten, war durchaus üblich, wenn auch nicht in dieser Großzügigkeit. Das nagelneue KatharsisEgg in ihrem Hexagon führte View auf sehr angenehme Weise vor Augen, damals zur richtigen Entscheidung geleitet worden zu sein. Pear war einfach eine doppelgauße Company. View hatte immer gedacht, einmal hier zu arbeiten, aber gerade aufgrund ihres Erfolgs als Multiplikatorin und des Gespürs für wirtschafts-soziale Zusammenhänge und die entsprechenden individuellen Befindlichkeiten, die sie damit unter Beweis gestellt hatte, hatte ihr das System in letzter Zeit vermehrt Auswertungen angetragen, die ihr ausgezeichnete Analysefähigkeiten sowie einen äußerst hohen Score in Networking und emotionaler Intelligenz bestätigten. Konsequenterweise konnte das nur auf einen Job in der Agency hinauslaufen. Und hier war sie nun auf ihrem Weg zum Einstellungsgespräch!

      Um zur Agency zu gelangen, musste View die halbe Urb durchqueren. Der Sitz der Sozialtechniker lag auf Ground 32, 2 Höhenlevel über ihrem Habitat auf Ebene 22. Sie gab die Zielkoordinaten auf dem Reif ihres AeroFlats ein und nach kurzem Takt scherte eine Einheit der AntiGrav aus dem endlosen Strom der an ihr vorbeiziehenden Cabs aus und hielt direkt vor ihr. Sie stieg in die rundum transparente Kabine und sank in den Sitz, dessen Gurte sich sofort locker um ihr Becken und ihre Unterschenkel wanden, die Arme aber frei ließen. Mit dem Schließen der Einlassöffnung hob sich das Cab an, setzte sich langsam in Bewegung und driftete allmählich nach außen, wobei es zunehmend Geschwindigkeit aufnahm, bis schließlich auf dem äußersten String die wuchtigen Blöcke der Schwerkraftneutralisatoren aus massivem Cavorit in immer schnellerer Folge unter ihr vorbeiwischten und zu einem einzigen grauen Streifen verschwammen, als die Höchstgeschwindigkeit erreicht war. Da innerhalb der Kabine nun Schwerelosigkeit herrschte, teilte sich Views Körper die rapide Beschleunigung nicht mit. Während die Gurte sie sanft in ihrem Sitz hielten, genoss sie das Gefühl, ihre Arme ohne jede Muskelanstrengung in der Luft schweben lassen zu können. Eine ganze Weile glitt sie zwischen den Grounds auf dem Höhenlevel ihrer eigenen Ebene dahin, bis sich ihr Cab verlangsamte, um dann in einem senkrechten Uplift zum nächsten und übernächsten Höhen­level hinauf zu schwimmen. Hier querte View noch 2 weitere Plattformen und umrundete fast den halben Ground 32, bis endlich die Station in Sicht kam, die ihr der TrafficPilot als DockingStation für diese Ebene zugewiesen hatte. Das Cab manövrierte nach innen, verringerte die Geschwindigkeit, kam kurz zum Stillstand, um sich dann auf einem der 8 Strings einzuordnen, über die der Verkehr transGround auf den Plattformen onGround verteilt wurde.

      Auf Ground 32 gab es keine Habitate und Wohnkuben, es war die kleinste und höchstgelegene aller Plattformen und wurde nicht umsonst CapitalGround genannt. Hier waren neben den Headquartern der maßgeblichen MarketPlayer und der Agency of SocialTechnology auch alle anderen administrativen Organisationen angesiedelt: die MatchingAdministration und ihre gigantischen Datenspeicher; die BigDataAlliance mit ihren mächtigen Kumulatoren und Aggregatoren; das Board of PredictiveProfiling, dessen Wahrscheinlichkeitsberechnungen sämtliche Aktionen der SecurePatrol steuerten und die sozial-urbanen Planungen fundierten; die Authority of PoliticalIndoctrination, die unter anderem für die BadPastLessons verantwortlich war; die BuyingGuidance, deren BuyingGuards darauf achteten, dass jeder Citizen sein Persönlichkeitsprofil über eine stringente Einkaufsbiographie stärkte; die für die Einführung von Produktinnovationen zuständige BetterLifeCorporation; die PeerNetworkingParty, die während ihres gesamten Konsumentenlebens die Vergleichswerte der Einkäufe der Peers einer Alterskohorte verwaltete und deren CustomerLifetimeValue erstellte, der SocialRankingCircle, der die Wahlen der Citizens anleitete, die ihre sozialen Aktivi­täten betrafen, und viele weitere Organisationen, die dafür sorgten, dass das Leben der 3 Millionen Citizens der Urb komfortabel und sicher war, weil es in gemittelten und erwartbaren Bahnen verlief, deren Eintretenswahrscheinlichkeit exakt quantifizierbar war. Es wurde gemunkelt, dass sogar die Zentraleinheit des Systems auf dem CapitalGround untergebracht war.

      Heute Morgen schien die halbe Citizenship der Urb hier zu tun zu haben, doch der TrafficPilot verteilte den Andrang wie immer souverän und der Verkehr lief zwar langsam, aber flüssig. View ließ ihre Arme über ihrem Kopf schweben und die Werbung auf sich wirken, die auf die megaformatigen InfluenceBoards gestreamed wurde, die sich zwischen den Gebäuden spannten und an deren Wänden hochzogen. Im jeweiligen Einflussbereich eines Boards emittierte ihr Cab den jeweils passenden Sound. Wie 98,5 Prozent der Peers ihrer Bezugsgruppe genoss View intelligent gemachte Werbung und fand es erstaunlich, welchen Output an faszinierenden Produkten und sinnvollen Services die Corporations der Urb leisteten. Sie freute sich darauf, durch eine Tätigkeit in der Agency zukünftig dazu beitragen zu können, dass dieser nie versiegende Strom an Leistungen in den Bahnen verlief, die Komfort, Wellness und Sicherheit aller Citizens steigerten. View fand es wesentlich beeindruckender, die Commercials auf den Influen­ceBoards zu verfolgen als auf dem Screen ihres Hexagons. Die riesigen Bilder und bewegten Szenen vor der im Licht der DomeAnimation flirrenden Kulisse der Urb unter den weit gespannten Kuppeln zu erleben, überwältigte sie jedes Mal von neuem.

      Aha, da waren ja die CoatingColours, die ihr Siema gestern Abend vorgeführt hatte. Und hier: Offenbar gab es eine noch neuere Version des KatharsisEgg, die mit einem Set von Düften arbeitete, das man entsprechend der Musikrichtung wählen konnte, mit der man den MusicCave des Eggs beschallte. Sie wies ihr Matching­Eye per VocalCommand an, einen entsprechenden CommercialMarker in ihren DayStream zu setzen: Dieses gaußaktuelle KatharsisEggOdour wollte sie sich gemütlich zuhause im OmniNet näher ansehen. Sie war gespannt, welche Duftalternativen ihr das System für die Musik der Averagers antragen würde.

      Regelmäßig