Bernd Boden

Dismatched: View und Brachvogel


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Verhalten einerseits und einer Bewertung, einem Ranking oder einer Klassifizierung andererseits?“

      „Mhm, was meinst du damit?“

      „Kaufen und Verhalten oder Classifying und Ranken ... all das sind wirtschafts-soziale Handlungen. Aber siehst du zwischen ihnen einen grundlegenden Unterschied?“

      Was sollte das nun wieder? View überlegte angestrengt. „Verhalten und Kaufen lassen sich irgendwie anders nachvollziehen als Classifying und Ranken. Wer was, wie, wo und zum großen Teil auch warum gekauft hat, ist in OmniNet ja in allen Details nachvollziehbar und alles Verhalten wird von den Recordern unserer MatchingEyes aufgezeichnet und ist jederzeit wieder abrufbar. Classifying und Ranken sind zwar auch dokumentiert, aber sie sind einfach nicht so greifbar ... da ist noch etwas anderes, irgendwie noch mehr.“

      „Nicht so greifbar … Das gefällt mir gut. Du bist auf der richtigen Spur. Denke da mal weiter.“

      „Verhalten und Kaufen sind vielleicht die äußeren Ergebnisse von eher inneren Prozessen, die mit Meinungen und Bewertungen, also letztlich mit Classifying und Ranken zu tun haben.“

      „That’s it: innen und außen. Eine Einsicht wie diese hatte ich von dir erwartet und damit hast du exakt die Grundlage und dringende Notwendigkeit unseres Jobs charakterisiert! Die LegionBytes an Daten, die in der MatchingAdministration zusammenlaufen, schaffen einen überaus mächtigen Datenkorpus und mittels der dort gespeicherten LifeScripts lässt sich praktisch jede wichtige Schlüsselszene im Leben eines jedes Citizen nachvollziehen und beurteilen. Auf Basis der Algorithmen, die uns das System anträgt, sind wir in der Lage, aus Daten, die scheinbar nicht das Geringste mit einander zu tun haben, Zusammenhänge zu erkennen und Bezüge zu stiften, denen wir mit unseren kurz greifenden Alltagsverstand und logischem Denken nicht einmal ansatzweise auf die Spur gekommen wären.

      Etwas überzogen ausgedrückt, korreliert das System die Frequenz des Wimpernschlags und die Anzahl der Sommersprossen von Korol2ax auf Ground 7 und seine Präferenz, in 83,54 Prozent seiner Besuche im HoloCine auf Ground 29 in Reihe 18 zu sitzen, mit der Tatsache, dass Agnat6n4 niemals auf Ground 12 zum RhythmClimbing gegangen ist, und kann darüber die Wahrscheinlichkeit, dass Azot5m1 in den nächsten 12,53 MegaTakten im FlagshipStore von Pear auf Ground 19 einen ChaosOrganizer 3.0 kaufen wird, mit einer bis auf die vierte Nachkommstelle exakten Wahrscheinlichkeit prognostizieren.

      Damit haben wir nicht alles, aber doch das meiste im Griff. Es ist tatsächlich so: Korrelationen bringen Vorhersagbarkeit und damit Sicherheit. Wenn du nun noch bedenkst, dass wir selbst das Verhalten von Dismatchten ‒ so bezeichnen wir Citizens, die lang anhaltend oder extrem abweichen ‒ durch individuell zugeschnittene Fragen und Anträge des Systems Stück für Stück wieder recentern, ausmitteln und sie zudem durch die Bindungs- und Kohärenzkräfte der Matching­Loops ihrer jeweiligen SocialUnit nach und nach wieder zentriert werden, wird klar, dass wir mit hoher Wahrschein­lichkeit einen Großteil des Verhaltens voraussagen können. Der Zuwachs an Sicherheit für die Urb steigt so kontinuierlich.

      Aber so mächtig der uns zur Verfügung stehende Datenkorpus und die allgegenwärtige Tendenz zur Mittelung auch sind, erfassen wir letztlich doch immer nur das Äußere eines wirtschafts-sozialen Verhaltens. Das System kann den Citizens immer nur vor die Stirn blicken, nicht aber in den Kopf sehen. Doch wir sind ehrgeizig, wir wollen mehr. Erst wenn sich uns auch das Innere jedes einzelnen Citizens erschließt, weil wir die seinem Verhalten zugrunde liegenden Beweggründe und Motive verstehen, können wir alles verstehen und damit auch alles prognostizieren.

      Und hier kommst nun du ins Spiel. Wir brauchen empirische Feldforschung, um zu ergründen, was einen Citizen dazu bringt, vom Mittel abzuweichen. Wir brauchen empirische Feldforschung, um Aufschluss über die Wirksamkeit von Anreizfaktoren und Motivatoren für die Wahl von Kategorien und die Abgabe von Votings und Ratings zu bekommen, die das System Abweichlern anträgt, um sie wieder zu mitteln Was motiviert einen Abweichler – im Extremfall einen Dismatchten – ganz konkret und im Detail, die individuellen Anträge des Systems anzunehmen oder dem Druck seiner Peers nachzugeben? Welche tieferen Beweggründe hat er, wieder in die Mitte seiner Unit zurückzukehren? Je mehr wir da­rüber wissen, desto wirkungsvoller können wir mithilfe der Anträge des Systems unsere Interventionen gestalten und steuern, desto schneller können wir Abweichler wieder einfangen und mitteln.

      Natürlich stellt das System entsprechende Test- und Kontrollfragen, natürlich zeichnen die MatchingEyes während ihrer Beantwortung und auch im Verlauf eines MatchingLoops selbst minimale Veränderungen der Mimik auf und natürlich messen und melden die Nanobots in den Körpern der Citizens Veränderungen in der Körperchemie, die auf die Vorgänge in ihren Köpfen schließen lassen. Trotzdem bleibt da immer noch ein mehr oder weniger großer Bereich an innerer Disposition, der für uns eine BlackBox darstellt, deren Inhalt wir nicht erfassen können – noch nicht erfassen können.

      Wir haben feststellen müssen, dass die Interaktion mit dem System, also Face to Screen oder Face to MatchingEye, zwar viel, aber eben nicht alles im Verhalten offenlegt. Hier im direkten Kontakt, also Face to Face, unterschwellige Stimmungen, Gefühlsströmungen, Hemmnisse, Antriebe, Wünsche und Vorstellungen aufzuspüren, ist Aufgabe unserer Scouts. Interessiert?“

      Sonol wartete Views Antwort erst gar nicht ab. „Natürlich bist du interessiert! Schließlich deuten sämtliche Scores und Indices, die uns das System über dich angetragen hat, auf deine herausragende Eignung für einen Job als Dismat­chedScout in der Agency hin.“

      „Ich hatte gedacht, bevor sich die Agency endgültig für mich entscheidet, noch etliche Tests absolvieren zu müssen“, wunderte sich View.

      „Das ist nicht erforderlich. Glaube mir, wären wir uns nicht völlig sicher, dass jeder, den wir ansprechen, Member der Agency zu werden, auch hundertprozentig dafür geeignet ist, müssten wir uns ernsthaft fragen, ob wir wirklich in der Lage sind, unseren Job hundertprozentig zu machen. Aber keine Sorge. Du kannst sicher sein: Wir machen unseren Job – und zwar mehr als hundertprozentig. Deshalb habe ich auch nicht gezögert, dir hier einige Dinge zu verraten, die der einfache Citizen nicht unbedingt wissen muss.“

      „Doppelgauß, dann kann ich also hier anfangen?“

      „Du kannst hier anfangen. Im Rahmen deiner Tätigkeit wirst du eng mit dem Board of PredictiveProfiling zusammenarbeiten. Denn wenn es uns gelingt, die Überzeugung, dass Abweichung Unsicherheit schafft und somit Lebensqualität schmälert, dauerhaft in den Köpfen der Citizens zu verankern, können wir auch zukünftige Abweichungen verhindern. Und da sind wir, besonders auch mithilfe solcher herausragenden Talente wie dir, auf einem sehr guten Weg. Willkommen, also als DismatchedScout im Rahmen des PredictiveProfiling-Programms der Agency of SocialTechnology!“

      Sommersaat; dritter Umlauf im fünfhundertachtundsechzigsten Umlaufzwölft der Zeitläufte der Mondin

      Ein tiefes Dröhnen überzog das große Rund der Kündung. Es entsprang dem dunklen Gebrumm der Bordun­saiten von Drehleiern, die von Klangfrauen gekurbelt wurden, die aus allen vier Himmelsrich­tungen aus dem Gewirr der Hütten heraus auf das Rund traten. Das sonore Brummen brachte die Eingeweide der Mannlinge zum Beben, erfüllte ihre Gehörgänge, sickerte durch die Poren ihrer Haut, breitete sich über ihre Blutbahnen in ihrem Gewebe aus, drang in das Mark ihres Gebeins ein und setzte sich schließlich unter ihren Schädelplatten fest. Nach und nach wur­den alle von der Macht des monotonen Klanges erfasst und begannen, die Oberkörper hin und her zu wiegen und es entstand eine Bewegung in der Menge, als führe der Wind durch die Ähren eines Feldes. Brachvogel, der dies beileibe nicht zum ersten Mal erlebte und aus dem Augenwinkel heraus sah, wie auch der neben ihm stehende Agror wieder einmal dem Klang erlag, stellten sich die Härchen an den Unterarmen auf. Er begann, seinen Geist mittels der Methode, die er im Laufe der Zeit entwickelt hatte, aus dem auch in ihm aufbrandenden Zustand der Lähmung zu befreien, indem er sich mit aller Macht von der dunklen Schwingung der Bordunsaiten losriss und sich stattdessen auf die nun einsetzende Melodie konzentrierte, die den Bass des durchdringenden Haltetons überlagerte. Dazu ließ er seinen Blick weit umherschweifen und fixierte mit den Augen in schneller Abfolge möglichst viele unterschiedliche Punkte, um seinen Sinnen genug Abwechslung und