Bernd Boden

Dismatched: View und Brachvogel


Скачать книгу

von denen mit höherer Frequenz überlagert werden, spiegelt das Lichtspektrum, mit dem wir das Erwachen stimulieren, diese Tendenz wieder: Wir beginnen mit dem langwelligem Rot, gehen dann sukzessive zu Orange, Gelb, Grün und Blau über und enden mit dem kurzwelligem Violett. Das Gleiche gilt für die Klangabfolge: von dunklen zu hohen Tönen. Sobald Esther irgendwie reagiert, fahren wir Licht und Ton sofort wieder auf Null zurück.“

      Nach Ablauf der 10 MinorTakte zeigte die Probandin im Tank keine Regung.

      „Wenn jemand bei dieser Licht- und Tonstärke noch keine Anzeichen von Erwachen zeigt, erhöhen wir die Intensität nicht weiter. Ein Erwachen bei zu viel Licht und Ton wäre zu abrupt und wir liefen Gefahr, die Traumerinnerung zu vertreiben. Aber hier, siehst du, die Alpha- und Betawellen ihres Enzephalogramms nehmen zu. Es besteht also eine signifikante Tendenz zum Aufwachen. Wir fahren Licht und Ton runter und sprechen sie direkt an.“

      „Esther, Esther – hörst du mich?“

      „Mhm.“

      „Da war etwas. Was war?

      „Geträumt. Habe geträumt.“

      „Wo warst du?“

      „Nicht hier. Nicht in der Urb. Mitten. Innerst. Innerstes.“

      „Das Innerste von was?“

      „Irgendwie eingesponnen in ein warmes Gefühl. Gleichzeitig weit, uferlos, sich endlos erstreckend und doch warm, vertrauensvoll in sich zurückgebogen, geborgen. Bin süffig, gierig, süchtig danach, will, dass es nicht aufhört.“

      „Was hast du gesehen?“

      „Da war ein Innen, unregelmäßige Struktur, fremde Materialien, nicht hier: draußen. Flackerndes, unregelmäßiges Licht. Tiefe Schattentäler. Im Zentrum: Wärme, Hitze. Ein offenes Feuer. Qualm in den Augen. Stechender Geruch nach – nach Kräutern? Trotzdem Glück. Geborgen. Dann Gestalten. Bewegung. Rhythmus. Weite, wirbelnde Kleidung. Konturen verwischen. Keine Gesichter. Haare, lange Haare. Dann Stim­men. Bewegung. Rhythmus. Die Gestalten singen. Kann nicht verstehen. Möchte teilhaben. Dann Begreifen: ,Schonet die Schöpfung‛ singen sie. ,Schonet die Schöpfung‛.“

      System / ClockedCounter / Update_562 / Takt_29.054.327

       Die Maschine im Geist

      Der Mann, der später Diver genannt werden sollte, war gänzlich aus dem Mittel gefallen, denn er führte an einsamer Spitze und mit großem Abstand zu den anderen verunfallten Citizens, die Unfallstatistik der Urb an. Die Sicherheitschecks der sich ständig selbst verbessernden rekursiven Kreisläufe sämtlicher Systeme der Urb schlossen ein Technikversagen beinahe völlig aus, so dass Citizens allenfalls durch gezieltes Fremd- oder Selbstverschulden zu Schaden kommen konnten. Seitdem das System den Takt übernommen hatte und seine Agents das private wie öffentliche Leben flächendeckend überwachten, war, bis auf wenige Fälle von pathologischer Abweichung, Fremdverschulden ebenfalls auf ein statistisch nicht mehr relevantes Level gesunken. Zumal unabhängig einer Verfolgung und Verurteilung durch die SecurityCorps der SocialScore eines Citizen, der einem anderen vorsätzlich schadete, fast unaufholbar ins Bodenlose sackte und den Betreffenden so auf langen Takt zum Paria stigmatisierte. Blieben Selbstverschulden und vereinzelte Fälle von Suicid. Im aktuellen MajorTakt des fünfhundertzweiundsechzigsten SystemUpdates nach dem Finalen Kataklysmus verzeichnete die Urb 246 Unfälle, von denen keiner lebensbedrohlich war.

      Der Mann, im MedicalCenter nannte man ihn CaseOne, war ohne sein MatchingEye mit unzähligen Schürfwunden und Prellungen übersät, einer Trümmerfraktur der linken Schulter, einem Abriss der linken Achillessehne und akut lebensbedrohlichen intracerebralen Blutungen infolge einer schweren Fraktur der Schädelkalotte aufgegriffen worden, als er Unverständliches vor sich hin brabbelnd auf dem MainWalk des CapitalGround vor sich hin torkelte.

      CaseOne wurde zum Prestigeobjekt der HealthCare-Mitarbeiter, deren Know­How endlich einmal gefordert wurde. Es gelang ihnen, die Blutungen zu stoppen, die irreparablen Knochenfragmente der Schädelkalotte zu entfernen, von denen ein Splitter tief in den für das Langzeitgedächtnis zuständigen Cortex dorsolateralis eingedrungen war, und die Schädelkalotte durch eine Platte aus Titan zu verstärken.

      Als CaseOne zu sich kam, empfand und spürte er nichts bis auf eine weite Leere und ein überwältigendes Bedürfnis, sich am Scheitel zu kratzen. Als seine Finger auf die Schädelkuppel trafen, war da etwas ungewohnt Festes, irgendwie Massiges, das, wenn er daran kratzte und rieb, eine eigentümliche Vibration in seinem Kopf auslöste. CaseOne konnte sich weder daran erinnern, wer er war, noch, wie er in dieses Zimmer mit all den Monitoren und blinkenden und summenden Geräten gekommen war. Allein der Juckreiz blieb.

      Gemäß seiner Order, ihm alle Fälle extremer Abweichung direkt zur Kenntnis zu bringen, gelangte der Fall von CaseOne unmittelbar nach seiner Einlieferung ins MedicalCenter auf den Tisch von Phileas Fogg. Nachdem der reibungslose Ablauf seiner anatomischen und physiologischen Funktionen wiederhergestellt war, litt CaseOne an einer umfassenden retrogaden Amnesie, die sich nach Auskunft der HealthCare-Leute aufgrund der Schwere seiner Schädelverletzungen wohl auch nicht mehr auflösen würde.

      Fogg ließ CaseOne in sein Privatlabor verlegen. Ein Mimik-Scan seines Gesichts führte zu Citizen Alobo2#23, resident auf Ground 12, wo er als Entwickler für SwellFurniture.Inc. arbeitete, die sich dem individuellen Bedarf organisch anpassende Möbel anboten. Der letzte Stream, den sein verschwundenes Matching­Eye an den Zentralspeicher des Systems übermittelt hatte, zeigte ihn in seinem Hexagon, als der Stream unvermittelt abbrach. Eine Untersuchung des Hexagons erbrachte keinerlei Hinweise auf das, was dort vorgefallen war, noch wurde das Eye gefunden. Fogg trieb dieser Befund um, doch musste er sich schließlich damit abfinden, dass er trotz aller Überwachungstools, die ihm zu Gebote standen, wohl nicht herausfinden würde, was Alobo2#23 zu CaseOne gemacht hatte. Er tröstete sich damit, dass, sollte sich derartiges wiederholen, mit Sicherheit wie auch immer geartete Muster erkennbar werden würden, die weiteren Aufschluss bieten konnten.

      Fogg ließ eine Zero-Meldung verbreiten, die den Membern sämtlicher SocialUnits mitteilte, mit denen Alobo2#23 Relations unterhalten hatte, dass der Citizen die Ebene gewechselt hatte. Gleichzeitig wurden diesen Membern alternative Citizens vorgeschlagen, die Alobo2#23_Zero in sämtlichen Kategorien zu einem hohen Prozentsatz substituieren konnten. Nachdem alle Daten des MedicalCenters, die den Fall von CaseOne dokumentierten, ebenfalls gelöscht waren, hatte Fogg sämtliche Spuren getilgt und Alobo2#23 gehörte jetzt ganz ihm.

      Fogg träumte von der totalen Gleichschaltung aller Menschen, denn ihm war klar geworden, dass jegliche Form von Individualismus und der sogenannten Selbstverwirklichung das Grundübel war, das bislang ein dauerhaft friedliches und fruchtbares Zusammenleben der Menschen verhindert hatte. Er träumte von einer vom Sündenfall bereinigten, paradiesisch puren Folie des Menschen, einer menschlichen TabulaRasa, die er zum Wohle der gesamten Urb mit neuen Zeichen beschreiben konnte. Fogg betrachtete dies als sein Langzeitexperiment und welche Zeichen das genau waren, würde sich erst zeigen, wenn der OmegaPunkt erreicht war, in dem sich die gesamte Citizenship der Urb gemittelt hatte und gleichgeschaltet werden konnte.

      Die erste Gelegenheit, eine solche TabulaRasa zu beschreiben, bot sich ihm jetzt vielleicht hier. Einen Citizen zu finden, der an irreversibler retrograder Amnesie litt, war ein großer Glücksfall und CaseOne sollte gewissermaßen der Prototyp werden, an dem Fogg die Technik der Einspeisung, die cerebrale Invasion mit semantischen Naniten, erproben konnte. Der Proband würde das überleben oder auch nicht. Einen Versuch war es immerhin wert. Alle, die an diesem Experiment beteiligt waren, würden die Ebene wechseln. Wie die ägyptischen Pharaonen mit ihrer Mumie auch die Konstrukteure ihrer Pyramiden in der innersten Grabkammer hatten einschließen lassen, würde auch er sich sämtlicher Mitwisser an diesem Experiment zu entledigen wissen.

      Beschreiben wollte Fogg dieses reine menschliche Blatt zu seinem ureigensten, individuellen Vergnügen mit den Inhalten des SchismNet und den aus den Wirren des Kataklysmus geretteten Datenbanken, die nur ihm zur Verfügung standen. Er würde sich so einen Widerpart schaffen, einen HistoricalRevenant, der ihm Sparringspartner sein würde, die Vergangenheit besser