Kerstin Hornung

Die Nähe der Nornen


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Weg zu gehen. Er fürchtete, zu versagen und alle Hoffnungen zu zerstören.

      »Ich werde mich als Philmors Erbe zu erkennen geben und damit Dosdravan und König Levian herausfordern.«

      »Tu nicht Unüberlegtes«, warnte Frendan’no. »Du wirst viele Feinde in dem Land dort unten haben. Mehr als die Zwei.«

      »Ich kann sie ihm nicht kampflos überlassen. Sie ist meine Mutter …« Er schluckte, aber der Kloß in seinem Hals wollte nicht weichen.

      Leron’das lächelte zufrieden. »Meinen Bogen und mein Schwert stelle ich in deinen Dienst.« Er neigte den Kopf, aber Philip sah ihn ernst an und sagte:

      »Tu nichts Voreiliges, Leron’das, noch kennst du nicht die ganze Geschichte. Sag es ihm, Frendan’no.«

      Frendan’no atmete tief ein und aus. »Soeben hast du mich aus meiner Pflicht dir gegenüber entlassen, aber Leron’das an dich gebunden. Ich werde es ihm nicht sagen.«

      Aus der Pflicht entlassen?, dachte Philip aufgebracht. Frendan’no war also tatsächlich nur seinetwegen hier oben geblieben, statt nach seiner Schwester zu suchen. Ehe er Worte für seine Empörung fand, fiel sein Blick auf Leron’das, der angespannt und beunruhigt Frendan’no musterte. Er wusste, dass Leron’das nach dieser eindeutigen Aussage Frendan’no nicht bedrängen würde.

      »Dann tu ich es«, zischte Philip. »Früher oder später wird er es doch erfahren.«

      »Ich habe mir gewünscht, deine Entschlossenheit kennenzulernen, doch nun bin ich nicht sicher, ob ich wusste, was ich mir da wünschte«, sagte Frendan’no mit einem spöttischen Lächeln in den Augen.

      Leron’das war bleich, wie das Eis das ihn umgab. »Es geht um Almira’da«, hauchte er.

      Frendan’no nickte. »Sie ist in Eberus verschollen.«

      »Wie lange schon?«

      »Zu lange«, erwiderte Frendan’no ausweichend.

      »Wie lange?«

      »Sie hätte kurz nach dem Übergang in den zweiten Frühlingsmond nach Mar’lea zurückkehren müssen.«

      Philip erschrak. Er wusste zwar nicht genau, ob die Monde der Elben mit denen der Menschen übereinstimmten, aber der zweite Frühlingsmond war für ihn der Launig, und der hatte begonnen, ehe er und Olaf Corona erreicht hatten. Wie lange war das her? Philip versuchte, die Tage zu zählen, aber es gelang ihm auf die Schnelle nicht.

      »Seit wann weißt du das?«, fragte Leron’das. Seine Augen glühten fiebrig.

      »Lange genug, um jemanden zu finden, der sich in Eberus umhört. Lange genug, um krank vor Sorge zu sein.«

      »Frendan’no!«, stieß Philip atemlos aus. »Warum hast du es mir nicht eher gesagt?«

      Frendan’no sah ihn still und ernst an. Philip konnte nicht umhin, sich zu schämen. Er hatte sich wie ein Kind benommen und war in seinem Schmerz vollkommen aufgegangen, dabei hatte ihm Frendan’no immer und immer wieder gesagt, dass er nichts verloren hatte, sondern dass nur etwas hinzugekommen war.

      An den Gedanken, dass die Eltern, die er kannte, nicht von Anfang an seine Eltern gewesen waren, konnte er sich noch immer nicht vollständig gewöhnen, aber wenn er rational darüber nachdachte, wusste er, dass es ihm nie an etwas gefehlt hatte und nie fehlen würde. Trotzdem hätte er sie gerne gekannt, die Mutter, die ihm das Leben geschenkt hatte, und auch den Vater, der König werden sollte. Was wäre er für ein Mensch geworden, wenn es wirklich so gekommen wäre?

      Leron’das und Frendan’no unterhielten sich leise. Sie schienen vergessen zu haben, dass er auch noch dabeistand. Tatsächlich gab es andere Dinge, mit denen er sich jetzt befassen musste. Etwas, wogegen er sich vollständig gesperrt hatte – seine wahre Herkunft. Und dann musste er sich überlegen, wie er weiter vorgehen wollte. Es war leicht, zu sagen, er würde den König herausfordern, aber es dann tatsächlich zu tun, kam einem Selbstmord gleich.

      Sollte er zurück ins Wildmoortal reiten, wo Agnus bereits Männer um sich sammelte? Oder nach Eberus, um sich die Unterstützung der Kirche zu sichern? Arina zu sehen, war nur ein flüchtiger Gedanke, den er schnell von sich schob. Für sie wollte er nur Philip sein. Mit ihr wollte er barfuß im Sand den Sonnenaufgang beobachten. Aber dazu würde es wohl nie kommen.

      Vielleicht sollte er erst herausfinden, wie seine Vorväter mit so einer Situation umgegangen wären. Schon einmal wurden die Zauberer aus dem Land vertrieben.

      Wieder wurde ihm bewusst, dass er keine Ahnung hatte. Was tat ein König? Du bist überhaupt kein König, wies er sich in Gedanken zurecht. Allenfalls ein später Nachfahre. Aber die Menschen würden ihn beobachten und nur darauf warten, dass er Fehler machte. Jeder Fehler konnte seinen Tod bedeuten oder schlimmer noch, den Tod derer, die ihm vertrauten. Für einen Moment war er versucht, seinen Plan wieder fallen zu lassen. Er war viel zu jung und viel zu unerfahren. Aber dann dachte er an seine Mutter und an seinen gramgebeugten Vater, er dachte an Amilana und Agnus, an Hilmar und Vinzenz. Sie brauchten niemanden, der ihnen sagte, was sie tun mussten, aber sie brauchten jemanden, unter dessen Banner sie kämpfen konnten. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass sie ihn brauchten. Philip ging hinunter in das Haus mit den langen, schmalen Fenstern, das er mit Frendan’no teilte. Er durchwühlte seine Sachen, bis er das Kästchen fand. Vorsichtig öffnete er den schartigen Deckel.

      Der blaue Samt war an manchen Stellen dünn geworden und auch der goldene Schlüssel zeigte Gebrauchsspuren. Vorsichtig strich Philip mit dem Finger darüber, ohne den Mut zu finden, ihn in die Hand zu nehmen.

      So, wie er vor ihm lag, bestand kein Zweifel. Es war der Schlüssel, den er bereits auf dem Wappen in Hilmars Bibliothek gesehen hatte. Der Schlüssel, der seit Peregrin das Wappen der Kronthaler Könige zierte.

      »Welche Türe öffnest du?«, fragte Philip. Er erinnerte sich vage, dass Leron’das ihm angeboten hatte, ihn zu der Tür zu bringen, aber Leron’das hatte jetzt andere Sorgen.

      4. Der Verdacht

      Als Valerian von Erdolstin vor etwas mehr als dem Umlauf eines halben Jahres auf seinem Herzogsitz in Mendeor angekommen war, schlossen sich die grauen, bedrückenden Mauern seines Elternhauses um ihn wie eine Gruft. Sein Stiefvater hatte ihn hochmütig und kalt empfangen, als wäre er ein Bittsteller. Erst nach Tagen war er bereit gewesen, Valerian Einblick in die Verwaltung zu gewähren und es hatte noch weitere zwei bis drei Wochen gedauert, bis der Herzog den nötigen Überblick hatte, um seinen Stiefvater zu sich rufen zu lassen und ihn all seiner Aufgaben zu entbinden.

      Wie er bereits vermutet hatte, war dieser damit nicht einverstanden, aber Valerian blieb standhaft und schließlich zog sich der Alte auf seinen Ruhesitz zurück. Nicht, ohne seinem Stiefsohn unmissverständlich klarzumachen, was er von seinen Fähigkeiten hielt.

      Tatsächlich war es ein hartes Stück Arbeit gewesen, die Dinge in die Richtung zu lenken, die Valerian sich vorstellte. Als sich nach Wochen endlich kleine Erfolge einstellten, kam der Brief von seinem Bruder Levian an, in dem er Valerian anflehte, umgehend zurück zur Falkenburg zu reisen.

      So manche Nacht hatte sich Valerian darüber geärgert, dass Levian immer dann auf seine Hilfe angewiesen war, wenn es ihm am ungelegensten kam. Trotzdem wollte er ihm beistehen. Das Bedürfnis seinem Bruder zu helfen, war für den Herzog so stark wie der Drang eines einsamen Wolfes, ein Rudel zu finden. Doch wie immer hatte Levian in keinster Weise praktisch gedacht. Was nützte ein Hilferuf, der bei Einbruch des Winters über die Berge geschickt wurde? Der Bote, der das Schreiben überbracht hatte, litt bereits an schwersten Erfrierungen, als er den Herrensitz von Erdolstin erreichte. An eine Überquerung der Berge war zu dem Zeitpunkt nicht zu denken gewesen. Die Winterstürme machten den Pass unpassierbar und selbst die Eilbotschaft, die Valerian auf dem weiten Weg über den Hettiggraben geschickt hatte, konnte frühestens vier bis fünf Wochen vor ihm die Falkenburg erreichen.

      Der Winter hatte Valerian immerhin die Zeit verschafft, einen fähigen Verwalter für seine Burg zu finden. Jemanden, der etwas Wohnlichkeit und Wärme in