Kerstin Hornung

Die Nähe der Nornen


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erledigte er die Arbeit, die ihm von den Kreaturen aufgetragen wurde, und nahm die Schläge in Kauf, wenn er sie nicht ordnungsgemäß oder schnell genug durchgeführt hatte. Bis eines Tages ein Engel zu ihm sprach und ihn daran erinnerte, dass er früher mal einen Namen hatte. Und ein Leben.

      Ihre Stimme war Trost und sie berührte einen Teil in ihm, von dem er nicht wusste, dass es ihn noch gab. Durch diese Stimme fühlte er, dass er immer noch ein lebendes Wesen war, doch als sie ging, war die Dunkelheit um ihn herum finsterer denn je. Alles, was ihn am Leben hielt, war ihr Versprechen wiederzukommen.

      Heute wusste er, dass es kein Engel gewesen war, der mit ihm gesprochen hatte. Als die Elben kamen und ihn aus der unterirdischen Halle befreiten, lauschte er, ob ihre Stimme dabei war. Und obwohl alle ihre Laute wie Musik in seinen Ohren klangen, fehlte ihm doch jene eine.

      An dem Tag, als Aribald zum ersten Mal wieder das Licht der Sonne sah, ließ er sein altes Leben hinter sich. Er war hundert Tode gestorben und den Baron von Langwasser, der er einst gewesen war, gab es nicht mehr.

      Die Elben hatten ihm ein neues Leben geschenkt und mit dem wollte er nicht so unachtsam umgehen wie mit dem ersten. Er behielt nur seinen Namen als Erinnerung und Mahnung und verließ die Quellenberge, die einst seine Heimat waren.

      Seit er wieder in der Gesellschaft von Menschen weilte, merkte er, wie seine Lebensenergie zurückkehrte. Sein Körper erinnerte sich daran, dass er früher einmal kraftvoll gewesen war. Er lernte, das Lachen befreien konnte und ein derber Scherz unter Gleichgestellten Balsam für die Seele war. Selbst die eine oder andere Schlägerei hatte die Wirkung eines Sommergewitters, nach dem die Luft wieder rein und klar war.

      Viel Zeit zum Grübeln blieb ihm in dem Rebellenlager, in dem er jetzt lebte, ohnehin nicht. Um die Versorgung einer so großen Truppe zu gewährleisten, war einiges an Aufwand nötig. Die erfahrenen Kämpfer und geschickten Jäger kümmerten sich um das leibliche Wohl, während die anderen – so wie er – im Lager Ordnung hielten, Beeren und Holz sammelten, Zelte flickten und Pfeile schnitzten.

      Knut war ein verwegener, hitzköpfiger Anführer. Er konnte die Männer begeistern und auch in schier ausweglosen Situationen noch einen positiven Gedanken finden, der aufmunternd wirkte. Aber bei der nicht abreißenden Schwemme an Notsituationen war es bereits zu einigen Abspaltungen gekommen. Aribald zweifelte nicht daran, dass ohne den bedachten Gunar weit weniger von der Truppe, die im Winter aus der Armee des Königs geflohen war, übriggeblieben wäre.

      Gunar war der Mann im Hintergrund und wahrscheinlich der Einzige, der mitten in einem Streit Knut unverblümt die Meinung sagen konnte, ohne dass dieser ihn niederschlug. Zwar hörte Knut durchaus auch auf das, was andere ihm rieten, aber bei keinem gab er dies so offen zu wie bei Gunar. Knut war das Schwert, aber Gunar das Schild, und schon nach kurzer Zeit merkte Aribald, dass die Männer mit ihren Sorgen zu Gunar gingen. Wenn Gunar bei den Feuern saß, so wie jetzt, trank er immer mäßig und mit Bedacht. Genau wie Aribald hörte er nur zu und beobachtete die anderen.

      »Du trinkst nie mit den Männern.«

      Aribald fuhr zusammen. »Ich habe genug getrunken für dieses eine Leben«, antwortete er. »Mehr als genug.« Dann starrte er ins Feuer und schwieg.

      »Dein Name war weithin bekannt dafür.«

      Wieder zuckte Aribald zusammen, löste seinen Blick aber nicht aus dem Feuer. »Ein zweifelhafter Ruhm.«

      »Wohl wahr«, lachte Gunar rau. »Doch könnten wir alle etwas Ruhm gebrauchen.«

      »Ich habe mein altes Leben hinter mir gelassen.« Aribald sah den Rebellen von der Seite an, aber dieser blickte ihm offen in die Augen. »Von dem, was früher mir gehörte, ist mir nur mein Name geblieben, der mich mahnt, nicht zu vergessen, aus welch tiefen Abgründen ich entkommen bin.«

      »Keiner hier ist ohne Vergangenheit. Selbst diejenigen, die gerade mal sechzehn Sommer alt waren, als sie dem Heer des Königs beitreten mussten, haben sich damals, bei dem Kampf im Wald, von allem losgesagt und einen Teil ihres Lebens hinter sich gelassen. Was uns hier zusammenhält, ist Angst und ein gemeinsamer Feind. Einen, den alle fürchten.« Gunar lachte. »Auf Dauer wird das für unseren Zusammenhalt jedoch nicht reichen. Erst gestern haben sich wieder einige zusammengetan und sind nach Süden aufgebrochen. Knut ist ein hervorragender Kämpfer, aber er hat mit zu vielen hier zusammen getrunken. Die Männer sehen nicht zu ihm auf. Schon jetzt sind wir nicht mehr als ein Haufen Diebe und werden alle an einem Galgen enden.«

      Aribald hörte zu. Er ahnte, worauf Gunar hinauswollte, aber er konnte ihn weder unterbrechen noch konnte er sich dazu durchringen, etwas dazu zu sagen.

      »Wir haben Kundschafter, die uns berichten, dass sich die Kirche auf einen Krieg vorbereitet. Manche sind der Meinung, wir sollten uns ihnen anschließen. Knut ist dagegen und auch ich halte nichts davon. Der Heilige Vater in Eberus hat schon oft gezeigt, was er mit Verrätern macht.«

      »Und dieses neue Gerücht von dem unbekannten Nachfahren aus dem Geschlecht der Kronthaler Könige, was hältst du davon?«, fragte Aribald.

      Gunar zuckte mit den Schultern. »Es ist ein Gerücht, keiner weiß was Genaues.«

      »Und die Elben?«, fragte Aribald weiter.

      »Machst du Witze! Die meisten hier fürchten die Elben mindestens so sehr wie den Zauberer. Sie und dieser geheimnisvolle Wald sind es doch, die immer mehr Männer nach anderen Auswegen suchen lassen.«

      »Der Wald?«, fragte Aribald verständnislos. »Aber er bietet uns doch Schutz.«

      Gunar lachte freudlos. »Wir alle haben mindestens einen Kameraden an den Wald verloren. Zugegeben, das war, bevor wir uns ihm ausgeliefert haben, aber dennoch erinnern sich die Männer noch an jede Handbreit Weg, den wir ihm blutend abgetrotzt haben.«

      Aribald nickte. Jetzt verstand er, warum jeder hier lieber einen weiten Fußmarsch in Kauf nahm, um Feuerholz zu suchen, statt sich an einem der Bäume zu vergreifen. In seiner Heimat in den Quellenbergen erzählte man sich auch Geschichten über den Wald, aber die letzten hatte er als Kind gehört.

      »Ich habe Elben gesehen«, sagte Aribald unvermittelt.

      Gunar bekam kugelrunde Augen. »Gesehen?«, fragte er ungläubig.

      »Gesehen«, bestätigte Aribald. »Ich saß mitten unter ihnen. Sie haben meine Wunden versorgt und mich gepflegt. Sie bekämpfen den Zauberer. Sie haben alle seine Gnome getötet und …« Aribald stockte und verzichtete auf die Geschichte von dem weggesprengten Berg. Selbst heute bekam er eine Gänsehaut, wenn er daran dachte. Die Elben waren mächtige Wesen. Sie verfügten über Kräfte, die ihm nicht geheuer waren, und er vermutete, dass es viele Gründe gab, sie zu fürchten. Doch mindestens genauso viele Gründe gab es, es nicht zu tun. Wenn er an die bescheidene Freundlichkeit dachte, mit der sie sich ihm genähert hatten, wurde sein Herz weit.

      Gunar sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an, als schätzte er ab, ob Aribald wirklich die Wahrheit sagte. Nach einer Weile beschloss er offensichtlich, ihm zu glauben.

      »Diese Geschichte wirst du mir bald genauer erzählen müssen. Einstweilen bitte ich dich, dir zu überlegen, ob du diesem Haufen Männer zu etwas Würde verhelfen willst, indem du deinen Stand für unsere Sache in die Waagschale wirfst. Viele wären froh, wenn sie sich unter dem Banner eines großen Herrenhauses einen könnten. Selbst wenn es sich dabei um die Baronie Langwasser handelt.«

      Nachdem Gunar ging, starrte Aribald so lange in die Flammen, bis nur noch schwach glimmende Kohlen davon übrig waren.

      Früher war er der Baron der Säufer und Verschwender gewesen und jetzt sollte er der Baron der Rebellen und Diebe werden? Wusste Knut von Gunars Vorschlag? War er bereit, seine Führerrolle abzugeben, oder hatten er und Gunar sich gedacht, dass es gut wäre, ein neues Aushängeschild zu haben? Ein letzter Funken Würde verbot Aribald, der Handlanger dieser beiden Männer zu werden. Dann wollte er doch lieber wieder alleine weiterziehen. Mit etwas Glück würde er im Wald alles finden, was er zum Leben brauchte. Er sorgte schließlich für alle Menschen hier wie eine mürrische Mutter.

      Zwei Tage vergingen, an denen Aribald weder Gunar