Ivy Bell

Emmas Sommermärchen


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aus als früher, und Emma war insgeheim erleichtert. Sie konnte durch die Räume streifen, ohne in Tränen auszubrechen. Alles war leer und sauber. Es war zwar ihr Elternhaus, aber es sah frischer aus als früher. Im ehemaligen Wohnzimmer standen ein paar Kisten, die Nele und Thomas später abholen wollten.

      Schließlich betraten die Zwei den Dachboden, um sich den Wasserschaden anzusehen. Dort lagerten auch noch ein paar Möbel ihrer Eltern, von denen sie sich nicht hatten trennen wollen, die aber für ihre Hamburger Wohnung zu groß waren. Ein Sekretär, eine schöne Kommode und ein Buffet. Thomas und Nele hatten das Buffet mehr in die Mitte des Raumes geschoben und einen großen Eimer unter das Dach gestellt. Emma blieb an der Treppe stehen und sah den Staubflocken zu, die im Lichtschein des kleinen Dachfensters tanzten. Als Kind hatte sie oft hier oben gestanden und die Ruhe genossen, durch das kleine Fenster in den Himmel geschaut und den Wolken nachgesehen. Das hatte sie immer beruhigt. Egal, was passiert war, hier oben war ihre eigene, ruhige Welt, in der ihr nichts passieren konnte. Eigentlich könnte man diesen Raum auch gleich ausbauen, wenn das Dach sowieso schon repariert werden musste.

      Carla trat neben Emma und stieß einen kleinen Schrei aus.

      »Was ist das denn!« Carla stürmte zum Sekretär. Darunter hatte sich eine kleine Pfütze gebildet. Sie schob den Sekretär ein wenig von der Dachschräge weg, dahinter befand sich ein weiteres kleines Loch.

      »Hilf mir mal. Wir müssen den Sekretär wegschieben. Hoffentlich ist er nicht zu nass geworden.« Carla schob das massive, schwere Möbelstück mit Emmas Hilfe in die Mitte des Dachbodens. Dann stieg sie die Treppe hinab zum Auto, um Handtücher und einen weiteren Eimer zu holen. Emma umrundete den Sekretär, aber er sah zum Glück nicht so schlimm aus. Plötzlich stutzte sie. War diese Ecke da schon immer gewesen? Unter der Platte des Sekretärs, ein Stück über den Türen, sah es aus, als hätte sich das Holz gelöst. Emma drückte vorsichtig dagegen und es sprang eine kleine Klappe auf. »Ein Geheimfach!« Emma staunte und warf einen Blick in das schmale Fach. Zuerst wollte sie die kleine Klappe einfach wieder schließen, aber dann bemerkte sie eine Mappe in dem Fach, so groß wie ein Din-A-4 Umschlag. Sie holte die Mappe aus dem Fach und schloss es wieder. In dem Hefter befanden sich einige Briefe, geschrieben in einer schnörkeligen Schrift, die Emma nicht kannte. Sie wollte gerade nachsehen, ob sie irgendwo einen Namen entziffern konnte, da hörte sie Carla fluchen. Emma stopfte die Briefe in ihre Handtasche und lief Carla entgegen.

      »Was ist los?«

      »Ich habe eine Nachricht von Frau Hagen bekommen. Irgendwas mit meinem letzten Artikel. Ich glaube, ich muss gleich nochmal an meinen Laptop.« Carla sah Emma zerknirscht an.

      »Das ist nicht schlimm. Der Sekretär hat nicht viel abbekommen. Ich wische ihn noch schnell ab, du kannst inzwischen den Eimer unter die undichte Stelle stellen.« Emma wischte über den Sekretär und sah ihre Schwester an.

      »Du musst doch auch mal ein Wochenende Ruhe haben. So geht das nicht!«

      »Ich bin Volontärin! Ich muss mich doch erst beweisen!« Carla sah verzweifelt aus.

      »Okay, beruhige dich. Ich mache mir ja nur Sorgen.«

      »Das brauchst du nicht, wirklich! Ich habe letzte Nacht herrlich geschlafen. Ich gucke nur kurz, was Frau Hagen geändert haben möchte, und dann gehen wir noch an den Strand. Um einen Dachdecker können wir uns heute sowieso nicht kümmern.«

      Die beiden Schwestern liefen noch einmal durch das Haus, dann schlossen sie die Tür und fuhren zur Wohnung ihrer Tante.

      Kiel

      Die Luft war noch feucht vom Regen. Es war kühl und ungemütlich und Michael schlug seinen Mantelkragen hoch, um sich vor dem beißenden Wind zu schützen. Er fror erbärmlich. Seit der letzten Nacht plagte ihn Fieber. Schon die ganze letzte Woche hatte er sich erkältet in die Uni und zu seinem Job geschleppt, aber nun fühlte er sich so schlecht, dass er einen Arzt aufsuchen musste. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal krank gewesen war. Es musste schon ewig her sein, er hatte schon lange keine Arztpraxis mehr aufgesucht. Er verglich die Adresse auf dem Zettel, den ihm sein Mitbewohner am Morgen gegeben hatte, mit dem Straßenschild und lief auf ein hübsches Backsteinhaus zu. Die Eingangstür war groß und schwer, Michael musste sich dagegen lehnen, damit sie sich öffnete. »Wie soll denn eine ältere, schwache Dame diese Tür aufbekommen?«, brummelte er vor sich hin und betrat das Treppenhaus. Er drückte auf den Lichtschalter und blickte sich um. Der Flur hatte hohe Decken mit Stuckornamenten, an der linken Wand befand sich eine Tafel, die darauf hinwies, dass sich Herr Dr. Rabe im zweiten Stock befand. Michael stieg die Treppen hinauf und schellte an der Tür des Arztes. Der Summer ertönte, er trat ein und meldete sich bei der Sprechstundenhilfe an.

      »Nehmen Sie bitte links im Wartezimmer Platz. Es ist ziemlich voll, das liegt bestimmt an diesem ungemütlichen Wetter. Da werden Sie leider ein wenig warten müssen.«

      »Das macht nichts«, Michael lächelte. »Ich habe heute sowieso nichts mehr vor.«

      Er betrat das Wartezimmer, grüßte freundlich und sah sich nach einem freien Platz um. Und da entdeckte er sie!

      Sie saß auf einem Stuhl vor dem Fenster, das fahle Licht schien ihr auf die rotblonden Haare, die ihr in Wellen über den Rücken fielen. Sie hatte eine Zeitschrift auf dem Schoß und blätterte gerade um, dabei hob sie kurz den Kopf und sah ihm geradewegs in die Augen. Michael lächelte und sie erwiderte sein Lächeln. Die Zeit schien stillzustehen. Sie hatte große, braune Augen, was ein schöner Kontrast zu ihren rotblonden Haaren war. Michael stand immer noch in der Tür des Wartezimmers, als die Sprechstundenhilfe den nächsten Patienten aufrief, der sich murrend an Michael vorbeidrängelte und schimpfte. »Sie stehen im Weg, können Sie sich nicht setzen?« Michael entschuldigte sich und ging auf die Frau zu. Wie der Zufall es wollte, war der Eckplatz an ihrer Seite frei. Michael setze sich und schniefte. Jetzt bemerkte er erst ihre ebenfalls ziemlich gerötete Nase.

      »Sind Sie auch so furchtbar erkältet?«, fragte er. Sie lächelte. »Ja, und das geht schon fast eine Woche so. Gestern fing ich an zu frieren und da dachte ich mir, ich gehe lieber mal zum Arzt.«

      »Genau wie bei mir«, bemerkte Micheal. Verstohlen musterte er sie. Sie war klein und schmal, trug schwarze Stiefel, die bis zu den Knien gingen, ein zipfeliges, blaues Kleid und einen Mantel mit Fellbesatz. Er knetete seine Hände und wünschte, ihm würde noch etwas Geistreiches einfallen, was er sagen könnte. Hoffentlich wurde sie nicht gleich aufgerufen. Sie beugte sich vor und legte die Zeitung auf den Tisch zurück. Dabei streifte ihr Mantel über sein Knie. Sie setzte sich wieder und schaute Michael schräg an. Ihr Pony fiel ihr ein wenig über die Augen und sie blinzelte und pustete ihn weg.

      »Ich muss auch noch eine Weile warten, ich bin kurz vor Ihnen hier angekommen. Aber es ist schöner, wenn man nette Gesellschaft hat.«

      »Das stimmt.«, erwiderte Michael, erleichtert, dass sie ihn offensichtlich auch sympathisch fand.

      »Ich heiße Constanze«, sagte sie und hielt ihm die Hand hin.

      »Michael«, antwortete er und nahm ihre schmale, weiche Hand in seine. Er hoffte, dass sie die Kratzer nicht bemerkte, die ihm vorgestern eine wütende Katze verpasst hatte. Vergeblich.

      »Was ist das denn?«, fragte Constanze und deutete auf die Kratzer.

      »Die sind von Kasimir, einem Kater, der partout nicht untersucht werden wollte.«

      »Untersucht? Sind Sie Tierarzt?« Constanze sah ihn mit großen Augen an.

      »Noch nicht. Ich studiere Tiermedizin, nebenbei arbeite ich stundenweise bei einem Tierarzt. Eine schöne Arbeit, wenn die Tiere einem nicht gerade ihre Krallen in die Hand bohren oder beißen.«

      Constanze grinste. »Das ist wirklich eine schöne Arbeit. So etwas würde mich auch interessieren....«, sie seufzte und er hatte das Gefühl, dass sie etwas bedrückte. Aber da redete sie schon weiter. Sie unterhielten sich und die Wartezeit verging wie im Flug. Als Constanze fertig war, wartete sie im Flur der Praxis