Bettina Reiter

Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes


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an. Er hat mir ja gestern eine Freundschaftsanfrage geschickt.“

      „Oh, das ist nett“, freute sich Harold. „Chattest du auch so gerne wie ich?“

      „Sie haben ein Facebook-Profil?“, wandte Jack ein.

      „Sicher.“ Harold grinste. „Sonst könnte ich nirgends mitreden. Man muss mit der Zeit gehen, so sehr ich die Vergangenheit auch schätze.“

      „Natürlich.“ Jack kam sich zum ersten Mal in seinem Leben etwas unterlegen vor. Harold war bestimmt über siebzig und wirkte lebendiger als er. Andererseits hatte er sicher nicht so viel um die Ohren, beruhigte sich Jack beim Verlassen des Geschäfts. Sein Tag hätte dreißig Stunden haben können und das wäre zu wenig gewesen. Insofern war es kein Wunder, dass vieles auf der Strecke blieb. „Ich muss zur Bank“, wandte sich Jack an Leni, als sie draußen standen. Lieber hätte er seine Tochter jedoch wegen diesem David ausgequetscht. War er womöglich der Grund für ihren Wunsch, in dieser Einöde Wurzeln zu schlagen?

      Fragen, die bis später warten mussten, denn zu Jacks Leidwesen hatte er im Nebengeschäft zwei Frauen entdeckt, die sich die Nasen am Schaufenster platt drückten. Minnies Allerlei las er kurz und konzentrierte sich wieder auf Leni. Schon jetzt war er froh, wenn er St. Agnes wieder verlassen konnte. „Möchtest du mich begleiten oder willst du lieber nach Hause gehen?“

      „Nach Hause“, entschied sich Leni, „das klingt übrigens schön.“ Sie nahm ihm die Einkaufstüte ab. „Ich mache inzwischen Frühstück.“

      Jack warf einen schnellen Blick auf die Uhr. „Die Putzfrau müsste um zehn eintrudeln. Zumindest hat Mister Winter gesagt, dass das ihr Dienstbeginn ist. Falls ich noch nicht da bin, soll sie sich um das Mittagessen kümmern.“

      „Sag ich ihr.“ Schon sauste seine Tochter übermütig davon. Dabei summte sie sogar ein Lied und erst jetzt fiel ihm auf, dass sie ihr Handy nicht dabeigehabt hatte. Das wiederum schenkte dem kleinen Ort ein paar Sympathiepunkte, obwohl sie von den zwei Frauen im Nu ausradiert wurden. Nach wie vor klebten sie an derselben Stelle. Das Fenster beschlug sich ständig vor den plappernden Mündern. Scheinbar sprachen beide gleichzeitig.

      Jack drehte sich demonstrativ um, eilte mit ausladenden Schritten davon und nur zehn Minuten später saß er im Büro von Mister Sullivan. Er war der hiesige Bankchef und sicher zehn Jahre jünger als er. Das könnte schwierig werden, da man in diesem Alter noch Ideale hatte. Doch Sullivan wollte höher hinaus, das konnte Jack mit einem Blick feststellen. Sein rostbrauner Anzug war heillos zerknittert, das Hemd ebenso und die goldene Halskette hätte eher in die 80er Jahre gepasst. Vermutlich ein Erbstück, das er als Prestigeobjekt benutzte, um mehr darzustellen, als er war. Insofern lag der Verdacht nahe, dass er aus einfachen Verhältnissen stammte. Jack hätte sogar seinen Arsch darauf verwettet, dass der Bursche einen Sportwagen fuhr. Vermutlich geleast. Gesetzt den Fall wäre es jedoch besser, wenn Sullivan das Geld in ein Bügeleisen investieren würde.

      „Sie sagen also, dass Sie Interesse am Zinnwerk 409 haben?“ Der Bankchef bot ihm einen Platz vor dem einfachen Schreibtisch an und setzte sich Jack gegenüber hin.

      „So ist es.“ Jack nahm Platz und überkreuzte die Beine. „Ich interessiere mich schon länger für das leerstehende Gebäude.“

      „Darf man fragen, was Sie damit vorhaben?“

      „Nicht zum jetzigen Zeitpunkt.“ Informationen müssen gut dosiert werden, rief sich Jack einen von vielen Tipps seines Vaters ins Gedächtnis.

      „Nun ja, dies ist ein freies Land und wir können gern darüber verhandeln. Wie Sie bestimmt wissen, gehört das Anwesen der Bank.“

      „Und somit Ihnen“, schmeichelte Jack ihm. Sullivan bekam rote Ohren. „Einem verantwortungsbewussten jungen Mann, der es noch weit bringen wird, sofern er sich mit den richtigen Leuten einlässt. Haben Sie ein Haus, Mister Sullivan?“

      „Noch lebe ich bei meinen Eltern. Ziemlich beengt“, ließ sich der Bankchef unwissentlich auf Jacks Spiel ein. „Allerdings spare ich auf ein Eigenheim und suche gerade ein passendes Grundstück.“

      Jack beugte sich vertraulich vor. „Dann sollten Sie sich beeilen, so lange die Preise erschwinglich sind. Das wird sich nämlich bald ändern.“

      Sullivan stützte sich mit den Ellenbogen auf dem Schreibpult auf und faltete die Hände, als würde er beten. Andächtig genug sah er zumindest aus. „Dann haben Sie also vor, was ich vermute? Wollen Sie sich in St. Agnes einkaufen?“

      „Sie sind ein schlauer Mann, Mister Sullivan, und das Zinnwerk ist erst der Anfang. Ich möchte auch das Geschäftshaus an der Küstenstraße erwerben.“ Jack verdrängte Annies Bild, das jedoch hartnäckig blieb, wo es war. Diese Frau war wirklich eine Zumutung und nahm vermutlich nur das Schlechteste von ihm an. Deswegen würde er ihr genau das liefern, was sie von ihm erwartete. Wäre sie etwas netter gewesen, hätte es zwar auch nichts genützt, allerdings wäre er ein wenig sanfter vorgegangen.

      „Annies Geschäft?“, forschte Sullivan nach, der hektische Flecken im Gesicht bekam.

      „Oder Ihres, wie man es nimmt. Ich hörte, dass Miss Murphy nur mit Ach und Krach die Raten bezahlen kann. Etwas mehr Druck von Ihrer Seite und bald kann sie gar nicht mehr zahlen. Sie hingegen könnten nach Ablauf der Frist über hunderttausend Dollar verfügen.“ Die Schwelle war überschritten. Zum ersten Mal bediente sich Jack dieser Mittel und hatte Michaels Ermahnung im Ohr. Ob er sich deswegen unwohl fühlte in seiner Haut?

      „So viel?“ Sullivan wirkte überfordert, kratzte sich hinter dem Ohr und drehte sich im Bürostuhl halb zum großen abstrakten Bild um, das hinter ihm hing, als könnte er darauf eine Antwort finden. „Das Ölbild hat Annies Mutter gemalt“, sagte Sullivan mit nachdenklicher Stimme, „ich mag Mary. Annie ebenso. Das kann ich der Familie unmöglich antun.“ Er wandte sich wieder Jack zu, der dessen inneren Kampf förmlich fühlen konnte.

      „Sie wissen, worauf Sie verzichten?“

      „Meine Eltern haben mich zu einem anständigen Mann erzogen“, holte Sullivan aus, was Jack ärgerte. Er wollte keinen Small-Talk führen oder Familiengeschichten hören. Weil es sein schlechtes Gefühl verstärkte. Außerdem hatte er eine Viertelstunde für das Gespräch eingeplant, die bald um war. „Nicht nur ich, auch Mom und Dad sollen in meinem Haus wohnen“, weihte Sullivan ihn weiter ein. „Damit sie keine Miete mehr zahlen müssen und die Jahre, die ihnen noch bleiben, in vollen Zügen genießen können.“

      „Umso schneller sollten Sie handeln. Ihre Eltern werden es Ihnen danken.“ Diese Worte waren Jack schwer über die Lippen gekommen, weil der Junge scheinbar an seinen Eltern hing. Aber jeder ist sich selbst der nächste, pflegte Jacks Vater stets zu sagen und dieser wäre ziemlich enttäuscht, wenn er die Sache vermasseln würde. „Sie werden es nicht bereuen, Mister Sullivan und ich gebe Ihnen mein Wort darauf, dass niemand von unserem kleinen … nennen wir es Tauschgeschäft … erfahren wird. Davon abgesehen werde ich Sie über jeden Neubau unterrichten und Sie können in Ruhe entscheiden, ob Sie eventuell mit einsteigen möchten. Der Kuchen ist groß genug, um auch aus Ihnen einen Millionär zu machen.“ Sullivan würde lange in dem Stuhl sitzen, sofern er die Füße stillhielt. Jack musste ihn sich also warmhalten, denn es war gut möglich, dass er ihn für weitere Geschäfte brauchte. „Fünfzigtausend können Sie schon binnen der nächsten Tage auf Ihrem Konto haben. Den Rest bekommen Sie, sobald ich der neue Besitzer von Murphys Geschäftshaus bin.“ Ein viel zu hoher Betrag, doch sein Vater bestand darauf. Er würde seine Gründe haben.

      „Na gut“, gab sich Sullivan geschlagen, obwohl er aussah, als würde er am liebsten weinen. „Ich mache es für meine Eltern.“ Sie standen auf und besiegelten ihr Geschäft mit einem Handschlag. Dann gab Sullivan ihm seine Kontonummer.

      Als Jack aus der Bank ging, war er in Gedanken bereits bei einem gemütlichen Frühstück auf der Veranda, wodurch er beinahe den Mann übersehen hätte, der Annie so beleidigt hatte. Roger, sofern sich Jack richtig erinnerte, bediente gerade eine brünette Frau und sein Blick hätte töten können, wäre er eine Waffe gewesen. Der Typ war extrem eifersüchtig wie es aussah …