Bettina Reiter

Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes


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hinterlassen.“

      „Dann sind Sie also tatsächlich Annie … Murphy?“

      „Woher kennen Sie meinen Nachnamen?“

      „Keine Ahnung.“ Es war eindeutig, dass er ihrer Frage auswich. „Ich habe ihn vermutlich irgendwo aufgeschnappt.“ Er blickte sich um. „Eine wirklich schöne Lage.“

      Annie hatte das Gefühl, dass es doch schlimmer werden konnte. Obwohl sie keine Ahnung hatte, aus welcher Ecke der nächste Angriff erfolgen würde. „Sonst noch etwas, Mister Flatley?“

      „Ja: Haben Sie zufällig meine Tochter gesehen? Braune Zöpfe, grelle Latzhosen und ziemlich frech?“

      „Wenn Sie Leni meinen, die habe ich getroffen“, kombinierte Annie und wusste nun, warum ihr das Mädchen bekannt vorkam. „Allerdings fand ich sie äußerst reizend.“

      „Wo haben Sie meine Tochter gesehen?“, überging er ihre Aussage und wirkte auf einmal schlicht und ergreifend wie ein besorgter Vater. Also war er verheiratet. Die arme Frau!

      „Am Town Hill.“ Annie deutete in die entsprechende Richtung. „Ich bezweifle jedoch, dass Sie Leni dort finden werden. Vermutlich ist sie längst wieder zuhause. Aber sie hatte ihr Handy dabei. Sie könnten Ihre Tochter anrufen.“

      „Das habe ich schon versucht. Sie hebt nicht ab. Könnten Sie vielleicht …?“

      „Hören Sie mal, ich bin eine völlig Fremde und nicht ihre Mutter.“

      Ein schmerzvoller Schatten huschte über sein Gesicht. „Ich würde Sie nicht darum bitten, wenn es sich vermeiden ließe. Außerdem schulden Sie mir etwas.“

      „Also gut“, zischte Annie und zog das Handy aus ihrer Tasche. Dann tippte sie die Nummer ein, die Mister Flatley ihr nannte und schaltete auf laut, damit er mithören konnte. Nach zwei Freizeichen wurde abgehoben. „Hallo, Leni“, begann sie etwas hilflos, „ich bin es, Annie. Die Frau, die dich vorhin angerempelt hat.“

      „Woher haben Sie meine Nummer“, kreischte das Mädchen.

      Annie hielt den Hörer weiter weg. „Von …“

      „Stalken Sie mich etwa?“

      „Natürlich nicht. Ich wollte nur wissen, wo du gerade bist.“

      „Sie halten mich wohl für ganz doof. Glauben Sie im Ernst, dass ich Ihnen sage, dass ich zuhause bin?“ Im selben Augenblick legte sie auf.

      „Das haben Sie ja toll hingekriegt“, beschwerte sich der Wichtigtuer allen Ernstes, statt dass er ihr die Füße küsste. „Jetzt hat meine Tochter eine Heidenangst.“

      „Sie wollten doch, dass ich sie anrufe.“ Annie schob das Handy in die Gesäßtasche ihrer Jeans.

      „Natürlich. Allerdings hoffte ich, dass Sie etwas mehr Feingefühl hätten.“

      „Das sagen ausgerechnet Sie? Haben Sie sich Ihre Tochter mal genauer angesehen?“

      „Was wollen Sie damit andeuten?“, zürnte er und lockerte die Pünktchen-Krawatte.

      „Genug, um zu sehen, dass Ihre Kleine ziemlich traurig ist.“

      „Ach, sind Sie plötzlich Fachfrau in Erziehungsfragen? Ich dachte, Sie wären eine Expertin darin, hinausgeworfen zu werden.“

      Sein Pfeil hatte mitten in die Wunde getroffen. „Das war das erste Mal in meinem Leben!“

      „Und es wird nicht das letzte Mal gewesen sein, so viel steht fest.“ Erneut huschte sein Blick über das Geschäft ihres Großvaters, bevor er sich umdrehte, in den Wagen stieg und davonbrauste. So ein Arschloch!

      Darüber beklagte sich Annie am frühen Abend bei Josie. Via Facebook, denn das kostete nichts. Schon seit einer Stunde schickten sie sich Nachrichten hin und her, es gab ja sonst nichts zu tun. Der Vater schlief auf der Couch seinen Rausch aus, nachdem er ihre Kündigung nur am Rande wahrgenommen hatte. Dass sich bei ihrem Heimkommen dasselbe Bild wie immer bot, ließ Annie restlos resignieren.

      Leider wohnte ihre Freundin in Penzance. Die Stadt lag über eine Stunde von hier entfernt. Früher war Annie manchmal mit dem Bus zu Josie gefahren und sie hatten die Nacht zum Tag gemacht. Ihre Freundin kannte Gott und die Welt, war mit einem Piloten verheiratet und inzwischen Mutter von fünfjährigen Zwillingen.

      Ein Ton erklang. Annie schaute auf das kleine Nachrichtenfenster.

      Also was ist nun?, schrieb Josie zurück, hast du heute Zeit für mich? Ich muss dringend raus. Bud und Terence bringen mich an den Rand des Wahnsinns.

      „Super“, murmelte Annie, „da erzähle ich dir lang und breit von meiner Kündigung und der Sache mit Roger, aber du weißt nichts Besseres, als mich zu fragen, ob wir ausgehen.“ Ich habe kein Geld, tippte Annie ein und drückte auf die Enter-Taste.

      Ich schon, kam umgehend die Antwort. George hat eine fette Provision bekommen, die ich auf den Kopf hauen darf. Du bist eingeladen.

      Annie starrte auf die Zeilen. Wie peinlich war das denn? Das ist mir unangenehm, stellte sie klar und musste wieder an Flatley denken.

      Josies Rückäußerung ließ neuerlich nicht lange auf sich warten: Im Grunde zahlt George, was mir im Gegensatz zu dir nicht unangenehm ist. Schließlich bin ich bald reif für die Klapse und ich brauche ein Gespräch mit meiner besten Freundin. Bitte, bitte, lass mich jetzt nicht im Stich :-(

      Na gut, um sechs bei mir, erklärte sich Annie einverstanden, obwohl das schlechte Gefühl blieb. Andererseits war Josie immer für sie da und es schien ihr tatsächlich nicht gut zu gehen.

       Super, ich bin pünktlich da. Mach dich hübsch … Küsschen, Josie.

      Annie stieg aus dem Programm aus, schloss den Laptop und saß zehn Minuten später in der Badewanne, nachdem sie kurz nach ihrem Vater geschaut hatte. Er schnarchte vor sich hin. Mit der Fernbedienung in der einen und einer brennenden Zigarette in der anderen Hand, die sie im Aschenbecher ausgedämpft hatte. Irgendwann würde er alles niederbrennen. Doch daran wollte sie jetzt nicht denken, sondern alles Schlechte ausblenden. Außerdem freute sie sich darauf, Josie endlich wiederzusehen und verdrängte auch die Sache mit dem Geld. Heute war ihr Abend und den würde sie sich nicht wieder von irgendwelchen Gedanken vermiesen lassen. Schließlich war ihr Leben längst nicht vorbei, auch wenn es sich derzeit so anfühlte. Und nach diesem Tag hatte sie sich ohnehin eine kleine Auszeit verdient.

      ♥

      „Du ahnst gar nicht, wie froh ich bin, wieder hier zu sein“, erklärte Josie kurz nach sechs, als sie im Aloha saßen. Die Cocktailbar mit hawaiianischem Flair war mit viel Holz eingerichtet, verstaubten Plastikpalmen und künstliche Orchideen an der Decke. Das einzig echte waren die Bedienung und der Blütenkranz, der jedem Gast umgehängt wurde.

      „Ist George bei den Kindern?“, erkundigte sich Annie und blickte zu Duncan, der mit flinken Fingern die Saiten zupfte. Laut eigenen Aussagen spielte er im typisch hawaiianischen Stil und nannte sich selbst Slack-key-guitar-Maestro. Sein grauer Haarkranz war wie immer soldatenmäßig geschnitten, er hatte eine fleischige Nase und ein Grübchen am Doppelkinn. Wie seine Frau Minnie hatte auch der waschechte Engländer ein Faible für Schottenröcke und trug sie, wann immer er konnte. Er fand die Kleidung schlichtweg schön, die jedoch in ziemlichem Kontrast zur Musik stand, die er spielte. Duncan wirkte wie ein auf Hawaii gestrandeter Schotte.

      „Ja, George hütet die Kids.“ Josie hatte nie betrübter gewirkt. Scheinbar nahm sie die Mutterrolle mehr mit als Annie bisher geglaubt hatte. „Er wird alle Hände voll zu tun haben.“ Sie spielte mit dem gelben Strohhalm, der neben ihrer halbvollen Piña Colada lag.

      „Das klingt beinahe schadenfroh.“ Annie warf einen kurzen Blick nach draußen. Das Lokal hatte eine große Glasfront, hinter der sich St. Agnes wie ein Gemälde ausbreitete.

      „Und wenn?“, wurde Josie schnippisch. „George ist der Ansicht, dass Kindererziehung wie Sonderurlaub