Bettina Reiter

Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes


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mit den Getränken kam, langte sie tüchtig zu. Normalerweise trank sie nicht viel, heute war sie allerdings in einer Ausnahmesituation. Gott sei Dank saßen die Männer weit genug entfernt. Roger sogar mit dem Rücken zu ihr, wie Annie nach einer Weile feststellte, als sie sich endlich traute, in seine Richtung zu blicken. Eine Tatsache, die ihr zusetzte. Wieder einmal kehrte er ihr buchstäblich den Rücken zu.

      Umso energischer hielt sie sich an ihrem Glas fest und trank mit Josie Runde um Runde. Dabei hörte sie ihrer Freundin nur mit halbem Ohr zu und nickte, sobald sie das Gefühl hatte, es wäre angebracht. Im Inneren war sie jedoch bei Roger, dem sportlichen und selbstbewussten Blondschopf mit zahlreichen Tätowierungen, den sie nach der Schule aus den Augen verloren hatte. Sie hatte ihre Ausbildung in London gemacht, er bei der hiesigen Bank eine Lehre absolviert. Als sie nach St. Agnes zurückkehrte, kam er irgendwann in Begleitung eines Freundes ins Taphouse und sie hatte sofort Feuer gefangen. Natürlich rechnete sie sich keinerlei Chancen aus. Schließlich wurde Roger wie in der Schulzeit vom weiblichen Geschlecht umschwärmt wie das Licht von den Motten.

      Aber es sollte anders kommen.

      Am Anfang konnte sie ihr Glück kaum fassen, dass er sie zur festen Freundin auserkoren hatte. Ausgerechnet sie! Die Welt fühlte sich plötzlich so leicht an. Trotzdem blieben Zweifel. Weil sie sich ständig fragte, was ein attraktiver Mann wie er an einem durchschnittlichen Mädchen wie ihr fand.

      „Denkst du schon wieder an den Kerl?“, lallte Josie, die inzwischen hackendicht war.

      „Ich kann nichts dagegen tun“, antwortete Annie und riskierte einen neuerlichen Blick. Jetzt saß Roger seitlich zu ihr und strich sich mit einer vertrauten Geste über das Kinn. Das blonde Haar trug er länger als früher, ansonsten war alles beim Alten geblieben. Er war muskulös wie eh, strahlte diese ganz eigene Lebensart aus, war blank rasiert und trug nach wie vor die Hemden halb zugeknöpft, damit man seine breite behaarte Brust sehen konnte.

      „Hast du vergessen, wie er dich behandelt hat?“, regte sich Josie auf. „Du hast ständig an dir gezweifelt und Roger in den Himmel gehoben, womit du dich selbst immer klein gemacht hast. Das ging so weit, dass du alles mitgemacht hast, was er wollte. Nur, um ihm zu gefallen.“ Auf einmal lachte sie, als hätte sie einen Witz gemacht. „Beim Radfahren hat er dich derart gefordert, dass du dich übergeben hast, erinnerst du dich?“

      Annie nickte panisch. „Leise! Es muss ja nicht jeder mitkriegen.“ Ihr Blick fing Duncans auf, der ihr aufmunternd zuzwinkerte. Wie alle aus der Clique wusste auch er über das unselige Ende ihrer großen Liebe Bescheid. Seitdem war Roger Luft für ihn, den ohnehin keiner aus der Clique so richtig mochte.

      „Beim Squash ging es dir ähnlich“, fischte Josie in Annies Erinnerungen, obwohl das unnötig war. „Bis zur völligen Erschöpfung hast du gespielt und den Betriebsausflug scheinst du ebenfalls vergessen zu haben.“ Roger hatte Annie auf ein Schiwochenende mitgenommen, das die Bank organisiert hatte. Mit romantischen Bildern im Kopf war sie gestartet und völlig abgekämpft nach Hause gekommen, denn Roger ließ sie von Anfang bis Ende allein auf der Piste. Im Gegensatz zu ihr konnte er perfekt fahren und wedelte in einem Höllentempo ins Tal hinunter. Sie hingegen fuhr die Piste von einem Ende zum anderen aus und bekam Panik, sobald sie schneller wurde als ein Fußgänger. Beim Aprés-Ski hatte er sie ebenfalls links liegenlassen.

      „Es gab durchaus schöne Zeiten, sonst wäre ich nie so lange mit ihm zusammengeblieben“, ergriff Annie Partei für diese Beziehung, weil sie das Gefühl hatte, sich rechtfertigen zu müssen. „Romantische Nachtspaziergänge, die Ausflüge, seine Liebesbriefe … wenn wir alleine waren, ist er völlig anders gewesen.“ Sie seufzte. „Roger war meine große Liebe, daran lässt sich nicht rütteln.“

      „Das weiß ich, Schätzchen.“ Josie trank ein paar Schlucke und stellte das Glas ab, das sie in ihren Händen drehte. „Aber dieser Typ war schon als Junge ein Arsch. Immerhin hat er die Sache mit dem Karussell überall herumerzählt und sich oft genug darüber lustig gemacht. Im Grunde hätte dich das warnen sollen. Leider hast du ihn zu sehr idealisiert. In Wahrheit ist er ein Egoist, der deine Liebe nicht verdient hat, von seiner Affäre ganz zu schweigen.“

      Annie glaubte wieder bei Roger zuhause zu sein. Fast auf den Tag genau, vor einem halben Jahr. In seinem Zimmer hatte sie auf ihn gewartet. Rogers Mutter brachte ihr etwas Knabberzeug und legte seine Post auf das Bett. Eine Karte lag obenauf. Irgendwann hatte sich Annie nicht mehr beherrschen können und las sie. Die Schmachtzeilen waren von Trish gewesen, die sich für den schönen Abend in der Vorwoche bedankte, den sie unbedingt wiederholen müssten. All das hatte sie auf eine Karte geschrieben! Für alle Welt zu lesen. Etwas Dreisteres war Annie nie zuvor untergekommen und natürlich hatte sie Roger zur Rede gestellt. Doch er verharmloste das Ganze und sie hatte ihm nur zu gerne geglaubt. Bis sie ihn schließlich mit Trish gemeinsam gesehen hatte. Der Schmerz dieses Verrats war kaum zu beschreiben. Wochenlang hatte sie sich die Augen ausgeheult und als ob es nicht genug gewesen wäre, hatte sich Trish bei jeder sich bietenden Gelegenheit über sie lustig gemacht. Dabei lag sie ohnehin schon auf dem Boden.

      „Karma, Mäuschen. Alles kommt irgendwann im Leben wie ein Bumerang zurück“, ließ Josie verlauten, als hätte sie ihr in den Kopf geschaut.

      „Ja, Karma.“ Annie trank ihr Glas in einem Zug leer. Allmählich spürte sie die Wirkung des ungewohnten Alkohols, obwohl ihr Josie drei Gläser voraushatte.

      „Noch eine Runde?“ Lance nahm Josies leeres Glas.

      „Etwas zum Essen wäre schön“, erwiderte Annies Freundin. „Frühlingsrollen oder so.“

      „Eigentlich hat die Küche bereits geschlossen, aber für euch mache ich eine Ausnahme.“ Lance legte kurz seine Hand auf Annies Schulter. „Sei froh, dass du Roger los bist. Ein gemeinsamer Freund erzählte mir neulich, dass er dich nicht nur mit Trish betrogen hat, sondern auch mit einigen Touristinnen. Er brüstet sich gerne damit, dass du nichts mitbekommen hast.“

      „Das ist nicht wahr“, flüsterte Annie mit krächzender Stimme.

      „Leider schon.“ Lance betrachtete sie mitleidig, bevor er davoneilte.

      „Siehst du“, triumphierte Josie. „Der ist keine einzige Träne wert.“

      „Stimmt. Verlogene Menschen wie Roger haben keinen Platz in meinem Leben.“ Warum fühlte Annie nicht, was sie sagte? Wieso konnte ihr niemand das Herz herausreißen und wieso schaute Roger ständig zu ihr? Außerdem hatte Duncan zu spielen aufgehört und nun lief romantische Musik vom Band. Is this love, that I’m feeling …

      Annie schoss in die Höhe und eilte zur Treppe, die zu den Toiletten hinunterführte. Sie schien steiler zu sein als sonst, außerdem drehte sich alles in ihrem Kopf. Als sie endlich unten war, lehnte sie sich an die Wand und kämpfte gegen die Tränen an. Warum hatte Roger ihr das angetan?

      „Annie?“

      Erschrocken wandte sie den Kopf. „Was willst du, Roger?“, fuhr sie ihren Ex an und hörte gleichzeitig das Lied im Hintergrund. Ihr gemeinsames Lied von Whitesnake.

      „Es tut gut, dich zu sehen.“

      Annie war nicht darauf gefasst, dass er ihre Hand nahm und sie an sich zog. Nicht darauf vorbereitet, wie vertraut es sich anfühlte. Andererseits wollte sie weglaufen, ihn von sich stoßen, aber sie hatte keine Kraft. Das Lied weckte so viele Emotionen wie sein Körper, der sich an ihren drängte, während er Annies Hand so fest umspannte, als ob er sie für immer festhalten wollte.

      „Ich habe dich vermisst“, raunte er ihr leise zu.

      „Ach, deswegen heiratest du also.“

      „Trish ist schwanger.“

      Annie fühlte sich, als hätte ihr jemand einen Fausthieb verpasst. „Glückwunsch.“

      „Wie man es nimmt.“ Seine Lippen waren nur wenige Zentimeter von ihren entfernt. Kurz stellte sie sich vor, wie er sie geküsst hatte, voller Verlangen. Aber alles, was blieb, war ein schaler Geschmack im Mund. „Darf ich dich anrufen, Baby?“

      „Du hast dich für eine andere entschieden.“