Michael Vahlenkamp

Jenseits der Zeit - Historischer Mystery-Thriller


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Form des Lappans zeichnete sich vor dem Nachthimmel ab. Jacob machte einen großen Schritt über eine Pfütze und im nächsten Moment spürte er dieses eigenartige Kribbeln auf der Kopfhaut.

      »Nein, nicht jetzt«, seufzte er.

      Dann wurde es plötzlich hell um ihn herum und die Schmerzen in Rücken und Magen waren verschwunden.

      Er war wieder in dieser unglaublichen Welt, von der er nach unzähligen Besuchen seit seiner Kindheit glaubte, dass es die Zukunft war. Irgendwann hatte er herausgefunden, dass er sich dabei immer im Körper einer Frau befand. Aber er war dort nur Beobachter: Auch wenn er alle Sinneseindrücke der Frau wahrnahm, einschließlich ihrem Denken, konnte er selbst nicht aktiv werden. Dieser Zustand dauerte ein paar Minuten an, doch wenn er in seine eigene Welt zurückkehrte, war dort nicht einmal die Zeit eines Wimpernschlags vergangen.

      Dieses Mal wimmelte es von Menschen. Generell gab es sehr viele Menschen in dieser Welt, viel mehr als er es aus seiner kannte. Nun waren es aber besonders viele, die um ihn herum, auf ihn zu und von ihm weg liefen. Einige von ihnen trugen diese bunten, glatten Taschen mit sich herum. Die meisten hatten es eilig durch die Straßen zu gelangen, die die gleichen waren, wie zu seiner Zeit, wenngleich sie anders aussahen. Zum Glück war keine der lauten, pferdelosen Kutschen in der Nähe. Zwar hatte er inzwischen keine Angst mehr vor ihnen, ein mulmiges Gefühl befiel ihn aber immer noch, wenn er sie sah. Außerdem war die Luft besser, wenn sie nicht da waren, innerhalb der Stadt sogar besser als zu seiner Zeit.

      Er spürte ihr flaues Gefühl im Magen, aber nur ziemlich schwach. Da war er Schlimmeres nach der Rückkehr gewohnt. An ihrer Hand war ihr Sohn und er stellte fest, wie erleichtert sie deswegen war. Auch war sie äußerst verwirrt. Sie fragte sich, was mit ihr geschehen war, wie sie in einen anderen Körper geraten konnte, oder, ob sie nur einen Traum gehabt hatte. Jacob wurde klar, dass es ihr erstes Mal gewesen war. Er versuchte, sich an sein erstes Mal zu erinnern, es lag jedoch zu lange zurück.

      In dem Versuch, eine Erklärung für das Geschehene zu finden, dachte sie ständig an ein Buch, und dass es alles genauso passiert war, wie darin beschrieben war. Was für ein Buch konnte es geben, in dem geschrieben stand, was er erlebte? Doch nur sein Tagebuch.

      Während er darüber nachdachte, sagte sie etwas zu ihrem Sohn und ging zu einem Kaffeehaus, das draußen Tische aufgestellt hatte. Er hatte nun Gelegenheit, sich ein wenig in der Zukunft umzusehen.

      Wie er es schon kannte, hielten sich einige Menschen diese kleinen Dinger aus schwarzem Glas an ein Ohr und hatten Gesprächspartner, die er nicht sehen konnte. Andere hielten die Dinger vor sich und berührten sie mit ihrem Zeigefinger oder Daumen. Vor allem die Jüngeren sahen kaum von diesen Dingern hoch.

      An einem Nebentisch hielt eine Frau einen kleinen weißen Stängel zwischen den Fingern. Jacob hielt ihn für eine Art Zigarre, denn von ihm stieg ein dünner Rauchfaden empor und er roch nach Tabak. Mit der freien Hand zog die Frau ein Kleidungsstück aus einer dieser glatten Taschen, die dabei so ähnlich knisterte wie ein Lagerfeuer. Jacob glaubte zumindest, dass es ein Kleidungsstück sein konnte, weil es aus Stoff war. Für dessen Farbe kannte er nicht mal einen Namen.

      Jetzt bemerkte Jacob, dass die Frau, in deren Bewusstsein er sich befand - er wusste, dass sie Editha hieß - nicht nur an ihr neuestes Erlebnis dachte. Sie hatte überdies noch Sorgen. Sie hatte Angst, dass sie nicht genug Geld verdiente, um ihren Sohn zu versorgen. Sie machte sich Gedanken darüber, wie sie Rechnungen bezahlen sollte.

      In diesem Moment kam der Wirt des Kaffeehauses. Jacob hörte gerade noch, wie er fragte, was Editha wünschte, als das Licht flackerte und es wieder dunkel wurde.

      Er war auf dem Heimweg, von der Schenke kommend, und die plötzlich einsetzenden Schmerzen in Rücken und Magen erinnerten ihn daran, was dort passiert war.

      Zusätzlich setzte die Übelkeit ein, die ihn immer nach einer Reise in den anderen Körper überfiel. Er wusste, dass Editha in diesem Moment das erste Mal in ihm drin war und dass auch ihr übel war. Er wollte anhalten und sich irgendwo abstützen, doch dazu kam er nicht mehr.

      Aus der Gasse vor dem Lappan kam ein großer Mann herausgestürmt und hielt auf ihn zu. Jacob erkannte an den Bewegungen sofort, dass es sich um Rosas Bruder handelte. Offenbar hatte Herold ihm nicht genug Respekt eingeflößt. Jacob wäre am liebsten weggelaufen, aber er war immer noch zu sehr geschwächt von allem. Er wich zurück, stolperte und plumpste auf seine ohnehin schon geschundene Rückseite. Rosas Bruder fiel über ihn und landete auf der Straße. Diesen Moment musste er ausnutzen. Seine Schmerzen missachtend und unter Aufbringung seiner ganzen Willenskraft rappelte er sich hoch und begann zu laufen. Wenn er es bis zu den Torwachen schaffte, war er in Sicherheit, dort würde Rosas Bruder ihn bestimmt nicht anfassen. So schnell er konnte, rannte er, alles tat ihm dabei weh, aber der Angreifer war ihm auf den Fersen. Dann kam das Tor in Sicht und einen Augenblick später die Wachen. Und wie er es erwartete, ließ Rosas Bruder sich zurückfallen.

      »Wer kommt da?«, riefen die Wachen ihn an. »Gib dich zu erkennen.«

      Jacob verlangsamte auf normale Gehgeschwindigkeit und nannte den Wachen seinen Namen.

      Heute Abend war er gleich zwei Mal einer Tracht Prügel entkommen. Das Glück war halt auf seiner Seite.

      Heute

      Genauso plötzlich, wie es dunkel geworden war, wurde es wieder hell. Die Helligkeit blendete sie nicht, obwohl sie mehrere Minuten in der Dunkelheit verbracht hatte. Sie blinzelte nur, wie gerade erwacht, und sie taumelte ein wenig hin und her. Ein flaues Gefühl hatte sie im Magen, als hätte sie etwas gegessen, das ihr nicht bekommen war. Immerhin konnte sie sich ein wenig festhalten, denn Timo war wieder an ihrer Hand.

      Was war mit ihr geschehen? Das, was sie gerade erlebt hatte, entsprach genau dem, was sie in dem Buch gelesen hatte. Wie konnte das sein?

      Lange konnte sie nicht abwesend gewesen sein, vielleicht eine Sekunde. Die Mutter mit dem Kinderwagen hatte nur wenige Schritte zurückgelegt und auch die anderen Passanten hatten sich kaum von der Stelle bewegt.

      Das flaue Gefühl nahm zu, sie musste sich dringend setzen. Sie taumelte auf das Café an der Ecke gegenüber des Lappans zu und zog Timo mit sich.

      »Wo wollen wir denn hin? Ich will jetzt ein Eis.« Ruckartig zog er an ihrem Arm. Er hatte wahrscheinlich nicht mal bemerkt, dass sie für einen Moment geistig nicht anwesend war.

      »Dort in dem Café gibt es bestimmt Eis.«

      Jetzt kam er bereitwillig mit.

      Sie überlegte, ob sie sich reinsetzen sollte. Aber dieser Septembertag war verhältnismäßig warm, sodass sie am ersten freien Tisch, an den sie kam, Platz nahm, damit sie nicht mehr Schritte als notwendig tun musste.

      Sitzend ging es ihrem Magen schon etwas besser. Sie sollte einen Tee trinken, während Timo sein Eis aß. Ein Kellner kam und sie bestellte eine Kugel Schokoladeneis und grünen Tee. Timo blätterte in der Eiskarte und sah sich die Bilder der Eiskreationen an.

      Noch immer versuchte sie zu verstehen, was gerade mit ihr geschehen war. Ein Traum war das nicht. Sie würde kaum stehend und im wachen Zustand einen Tagtraum erleben und eine Sekunde später an derselben Stelle wieder zu sich kommen. Wahrscheinlich war es eine Art Vision. Nur, dass sie in dieser Vision das gesehen hatte, was sie zuvor in einem Buch gelesen hatte. Und zwar so, als wäre sie im Körper des Erzählers gewesen. Das ging sogar so weit, dass sie die Gefühle und Gedanken des Erzählers erlebt hatte. Sie wusste nun, dass er über eine Situation nachgedacht hatte, in der er kurz vorher gewesen war. Und sie konnte sich nicht daran erinnern, von diesen Gedanken in dem Buch gelesen zu haben.

      Das Eis und der Tee wurden gebracht. Timo klatschte erfreut in die Hände. Der Tee war so heiß, dass sie nur schlürfend davon trinken konnte. Die Frau vom Nachbartisch sah missbilligend zu ihr herüber. Editha kümmerte sich nicht darum. Sie dachte weiter über die Vision nach. Wie aus einem dichten Nebel kam eine Erinnerung hervor. Ihr wurde vage bewusst, dass das nicht ihre erste Vision gewesen war. Als kleines Mädchen hatte sie so etwas schon mal erlebt. Das war lange her, und sie hatte nicht mehr daran gedacht. Doch