Michael Vahlenkamp

Jenseits der Zeit - Historischer Mystery-Thriller


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gerade aufgekeimte Freude verpuffte wieder.

      »Oh, nein! Unmöglich, das kann ich mir nicht leisten.«

      Sie dachte an die ganzen Rechnungen auf ihrem Schreibtisch. Auf keinen Fall konnte sie sich weitere Schulden aufladen. Dabei hätte sie so gerne gewusst, was in dem Buch stand. Was es mit diesen Visionen auf sich hatte.

      Gruning musste ihr die Enttäuschung angesehen haben. Fast mitleidig schaute er zu ihr hoch.

      »Pass auf, Mädchen, ich mach´ dir einen Vorschlag: Ich übertrage erst mal ein paar Seiten, sagen wir mal die ersten zehn. Danach kannst du es dir immer noch überlegen, ob ich weiter machen soll. Was hältst du davon?«

      Dieser Vorschlag war vielleicht gar nicht so schlecht. Ein paar Seiten würde sie sich leisten können.

      »In Ordnung. Wann haben Sie das fertig?«

      »Hm, das muss ich nebenbei machen. Zwei, drei Tage werde ich wohl brauchen. Ich melde mich, wenn ich fertig bin.«

      1788

      Das Aufräumen der kaputten Mühle dauerte länger, als Jacob gedacht hatte. Er hatte das gesamte Ausmaß des Schadens nicht ansatzweise erkannt, als er ihn das erste Mal gesehen hatte. Im Nachhinein fanden sie noch unzählige Beschädigungen und herumliegende Bauteile. Und nicht alles ließ sich so einfach beseitigen, wie der Haufen Scheiße. Sie brachten einige Tage damit zu, verkeilte Holzstücke aus den Getrieben zu entfernen, immer vorsichtig, um die noch brauchbaren Bauteile dabei nicht zu beschädigen. Die kaputten Teile sammelten sie hinter der Mühle. Die wollten sie zunächst behalten, falls sie teilweise bei der Reparatur zum Ausbessern verwendbar waren.

      Heute Morgen hatte ein Bote der Stadt ein Schreiben überbracht. Darin wurde ihnen noch einmal mitgeteilt, was der Ratsherr von Zölder im Rathaus bereits gesagt hatte: Sie sollten die Mühle wieder aufbauen, auf ihre eigenen Kosten und bei weiter laufendem Pachtzins. Es wurde erneut ausdrücklich betont, dass es für die Stadt Oldenburg unerheblich war, wie sie das anstellten. Der amtliche Stempel unter dem Schreiben grinste Jacob höhnisch an, nachdem er Herold vorgelesen hatte.

      In einer Pause – sie hatten gerade die Aufräumarbeiten abgeschlossen und wollten mit dem Wiederaufbau anfangen – begann Herold wieder von dem Brief zu sprechen.

      »Dieser verdammte Ratsherr«, sagte er, bestimmt bereits zum zehnten Mal. »Ich bin mir nicht sicher, ob der das überhaupt so einfach bestimmen darf.« Und nach einer kurzen Pause. »Aber was wollen wir dagegen tun?«

      Jacob kaute weiter auf seinem Brot und antwortete nicht. Die Frage hatte Herold schon mehrfach gestellt. Sie war nicht an Jacob gerichtet.

      »Wir werden uns nach Arbeit umsehen müssen.«

      Jacob horchte auf. Das war seit der Zerstörung der Mühle das erste Zukunftsweisende, das Herold von sich gab. Aber Jacob erkannte sogleich einige Probleme, die dieses Vorhaben mit sich brachte.

      »Nach was für Arbeit? Wir können doch nichts anderes außer der Arbeit des Müllers.«

      »Oh, das glaube nicht. Ein Müller kann so manches. Ich habe erfahren, dass die Gerber noch Leute suchen. Notfalls müssen wir uns halt als Tagelöhner verdingen.«

      Als Gerber! Jacob hatte schon viel von dieser Arbeit gehört. Schwere Tierhäute musste man dabei schleppen, ständig panschte man im Wasser herum und war ätzenden Dämpfen und Gasen ausgesetzt. Darauf konnte er gut verzichten.

      »Aber als Tagelöhner wird man schlecht bezahlt. Wenn wir davon leben wollten, müssten wir viele Stunden dort arbeiten. Wer repariert dann die Mühle?«

      Herold, dessen Gesichtsausdruck seit Tagen verdrießlich war, schaute tatsächlich noch verdrießlicher drein.

      »Ich weiß, dass das ein Problem ist und dafür habe ich bisher keine Lösung. Doch fest steht, dass wir Geld brauchen. Wir haben zwar ein paar Reserven, doch die reichen nur, um uns ein paar Tage über Wasser zu halten. Wir müssen eine Arbeit annehmen. Vielleicht nimmst auch nur du eine an und wir leben dann beide davon, während ich mich mit Friedhelms Hilfe um die Mühle kümmere.«

      »Das reicht doch niemals. Als Tagelöhner könnte ich doch nicht so viel verdienen, dass wir beide davon leben und auch noch Friedhelm bezahlen könnten.«

      »Dann müssen wir uns eben einschränken.« Herold wurde lauter, bis er fast schrie. »Verdammt, ich weiß es doch auch nicht.«

      Er sprang auf und schleuderte seinen Blechteller zu Boden. Die paar Krumen, die sich noch darauf befunden hatten, kullerten in alle Richtungen. Mit geballten Fäusten ging er ein Stück auf den See zu.

      Jacob hatte vor Schreck aufgehört zu kauen. Wenn Herold, der sonst immer die Ruhe und Besonnenheit selbst war, so aus der Haut fuhr, musste es in seinem Inneren schlimm zugehen. Er stellte seinen Teller ebenfalls auf den Boden und ging Herold nach.

      »Wir kriegen das schon irgendwie hin«, sagte er, obwohl er nicht daran glaubte. »Du wirst sehen, alles kommt wieder in Ordnung.«

      Herolds Fäuste entspannten sich. Nach einer Weile drehte er sich langsam zu Jacob um. Sein Gesichtsausdruck war jetzt weder wütend noch verdrießlich. Er schaute Jacob prüfend an.

      »Entschuldige«, sagte er. »Du musst auch einiges durchmachen und dann benehme ich mich derart.« Er fasste Jacob bei den Schultern. »Ich verspreche dir, dass das jetzt anders wird. Und noch eins: Mache dir keine Sorgen, ich gebe dir nicht die Schuld an dem, was passiert ist.«

      Er sah zur Mühle, ließ Jacob los und schritt mit entschlossener Miene die Anhöhe hoch.

      »Los, komm her«, rief er Jacob zu. »Wir wollen die Mühle wieder aufbauen.«

      Jacob war verwirrt. Was sollte das heißen: Er gab ihm nicht die Schuld? Warum sollte er ihm auch die Schuld geben? Was konnte er dafür, dass diese Kerle, Rosas Bruder und ihr Verehrer, die Mühle kaputt gemacht hatten?

      Jacob zog einen Stapel Papiere aus seiner Hasenfelltasche und eilte mit einem Stück Brot in der Hand aus der Mühle hinaus. Schon im Gehen biss er eine große Ecke ab. Auf der Rückseite des Gebäudes ließ er sich mit dem Rücken an die Wand gelehnt auf den Boden nieder und fummelte sein hölzernes Tintenfass und den Federkiel aus seiner Tasche hervor. Nebenbei verschlang er das Brot so hastig, als würde es ihm sonst jemand wegnehmen. Nachdem er den letzten Krümel auf diese Weise hinuntergeschluckt hatte, stürzte er sich auf den Text, der sich bereits auf einigen Seiten befand, indem er die Blätter auf seinen Oberschenkel legte und mit dem Kiel in der linken Hand Geschriebenes durchstrich oder Notizen an den Rand hinzufügte. Seine Haare, die ihm aufgrund seines vorgeneigten Kopfes ständig ins Gesicht fielen, strich er mit einer unbewussten Geste immer wieder hinter die Ohren. Als er die Überarbeitung des vorhandenen Textes beendet hatte, sah er eine Weile auf den See. Er spürte dabei einen absoluten inneren Frieden.

      Und plötzlich wusste er, wie es weiterging in der Geschichte. Aufgeregt wendete er sich den leeren Blättern zu und schrieb eilig auf, was ihm eingefallen war.

      Dieser Vorgang – auf den See blicken, anschließend schreiben – wiederholte sich einige Male, mindestens eine Viertelstunde lang. Dann zuckte er vor Schreck zusammen, als Herold, den er nicht hatte kommen hören, ihn unvermittelt ansprach.

      »Tut mir leid, Jacob, aber du musst mir jetzt weiter helfen.«

      Jacob sah zu seinem Bruder auf. Er stand keine zwei Meter von ihm entfernt und machte ein Gesicht, als wollte er sich für die Unterbrechung entschuldigen. Dann wandte er sich ab und verschwand hinter der Rundung der Mühlenwand.

      Seit diesem Wutausbruch vor zwei Tagen war er wieder ganz der Alte. Er war voller Tatendrang, wobei sich alles nur um die Mühle drehte. Von der Tagelöhnerarbeit war keine Rede mehr gewesen, aber es war natürlich nur eine Frage der Zeit, bis das Thema erneut aufkam. Schließlich hatten sie bald kein Geld mehr. Jacob hatte jetzt kaum noch Gelegenheiten zu schreiben. Wenn er erst mal von morgens bis abends als Tagelöhner schuften würde, hätte er gar keine Zeit mehr dafür.

      Mit