Michael Vahlenkamp

Jenseits der Zeit - Historischer Mystery-Thriller


Скачать книгу

Jahr stark gealtert war. Sein weißes Haar war zwar immer noch voll, aber sein Gesicht schien Tausende von Falten dazubekommen zu haben und es machte insgesamt einen müderen Eindruck. Auch die Körperhaltung schien gebückter als früher zu sein. Dabei konnte der langjährige Advokat seiner Familie eigentlich erst Mitte sechzig sein. Er trug immer noch die bunten Fliegen zum grauen Anzug, wie Marko feststellte. Heute war sie grün-pink getupft.

      »So lange ich noch praktiziere, werde ich dich und deinen Bruder einmal im Jahr aufsuchen. Und ich habe noch nicht so bald vor, in den Ruhestand zu gehen.«

      Er taxierte Marko. In seinem Blick lag die gleiche Scharfsinnigkeit wie eh und je. Rechtsanwalt und Notar Gerhard Breimer, wie Marko ihn von klein auf kannte.

      »Du siehst ein wenig matt aus«, sagte Gerhard schließlich. »Hängst du noch an der Flasche?«

      Marko wusste nicht, was ihn das anging. Er drehte sich von ihm weg und ging zur Haustür, wohin Gerhard ihm folgte.

      »Nein, neuerdings benutze ich Gläser.« Er schloss auf, beide gingen hinein und, nachdem er die Alarmanlage deaktiviert hatte, begaben sie sich ins Wohnzimmer. »Darf ich dir etwas zu trinken anbieten?«

      Gerhard reagierte nicht auf sein Angebot.

      »Ich muss dir die gleiche Frage stellen, wie jedes Jahr wieder, auch wenn du dich im gegebenen Fall eigentlich von dir aus melden sollst«, begann er unvermittelt, wie es seine Art war. »Ist irgendetwas Außergewöhnliches vorgefallen?«

      Marko lachte kurz auf und schüttelte den Kopf. Er drehte eines der Whiskygläser mit der Öffnung nach oben und füllte es zu einem Drittel mit dem unvergleichlichen Connemara Bog Oak. Davon nahm er einen großen Zug und ließ ihn eine Weile auf der Zunge ruhen, bevor er ihn hinunterschluckte. Dann machte er ein ernstes Gesicht und furchte die Stirn.

      »Halt, warte mal, da fällt mir doch etwas ein.« Gerhard sah ihn betont gelangweilt an und legte den Kopf schief, sodass die Hängebäckchen und das Doppelkinn stärker zur Geltung kamen. »Wie konnte ich das nur vergessen: Der Golfclub bekommt eine neue Driving Range. Na, wenn das nichts Außergewöhnliches ist, dann weiß ich auch nicht ...«

      »Ja, ja, wirklich komisch.« Gerhard setzte sich in einen Sessel. »Ich weiß ja, dass du diese jährliche Befragung nicht ernst nimmst. Ich muss aber wie immer betonen, dass es sehr wichtig ist. Darf ich also deinem Vater berichten, dass du darüber nachgedacht hast und dir nichts eingefallen ist, das im Verlaufe des letzten Jahres irgendwie ungewöhnlich war?«

      »Du kannst meinem Vater erzählen, was du willst. Das interessiert mich nicht sonderlich.« Er nahm einen weiteren Schluck und genoss das Brennen in der Kehle.

      »Marko, bitte, ich muss es aus deinem Munde hören.«

      Marko musterte den Anwalt. Der war zwar seit jeher ein Korinthen-Kacker, aber heute nahm er es noch genauer als sonst. Er gab sich normalerweise mit Markos flapsigen Antworten zufrieden und deutete sie als ein Nein.

      »Was ist denn los? Warum so ernst?«

      Gerhard schaute erst auf das Bild an der gegenüberliegenden Wand, dann auf eine Stelle des Fußbodens kurz vor seinen Füßen. Schließlich sah er wieder Marko an.

      »In deinem Elternhaus sind momentan alle ein wenig nervös. Es ist jemand von dieser Sippschaft aufgetaucht, jemand Neues. Und dieser Jemand wühlt in alten Geschichten rum.«

      »Oh, mein Gott, jemand wühlt in alten Geschichten rum«, sagte Marko übertrieben betont. Noch nie hatte er verstanden, warum es um seine Familie eine solche Geheimniskrämerei gab. Er ging zum anderen Sessel und setzte sich hinein. »Jetzt geht das wieder los. Dieses Thema geht mir immer wieder auf die Nerven. Entweder erzählt Vater mir diese Geschichten, oder auch du, oder ihr lasst mich damit in Ruhe. Aber dieses Getue darum ist einfach unerträglich. Was sollen das schon für besondere Dinge sein, die man über uns in Erfahrung bringen könnte?«

      »Du weißt ganz genau, dass dein Vater es für besser hält, wenn möglichst wenige Menschen davon wissen. Zu gegebener Zeit wirst du alles erfahren.«

      »Zu gegebener Zeit ...« Marko schüttelte den Kopf. »Immer dieselbe Leier. Klemens weiß wahrscheinlich schon längst alles.« Er sah Gerhard prüfend an.

      »Dein Bruder wird zum gleichen Zeitpunkt davon erfahren wie du. Seine Nähe zu eurem Vater macht diesbezüglich keinen Unterschied.«

      Marko war recht gut darin, einzuschätzen, ob jemand die Wahrheit sagte, und bei Gerhard Breimer war er sich gerade sicher, dass er es tat.

      »Ist bei Klemens denn etwas Ungewöhnliches passiert?«

      »Nein. Ihn habe ich schon besucht, auch wenn ich bei ihm die Befragung nicht unbedingt durchführen müsste, da seine Bürotür direkt neben der eures Vaters liegt und die beiden sich allein im Geschäftsleben täglich begegnen. Bei dir muss ich es aber schon. Also noch mal: Ist im Verlaufe des letzten Jahres irgendetwas Ungewöhnliches passiert? Und rede jetzt keinen Unsinn, du weißt genau, wie ich das meine.«

      »Nein, zum Teufel. Und wenn, wüsste Klemens ja davon. Schließlich sehen wir uns regelmäßig.«

      »Nun gut, wenn das so ist.« Gerhard erhob sich aus dem Sessel. »Damit habe ich meine Schuldigkeit getan und kann für heute Feierabend machen. So viel muss man in meinem Alter nicht mehr Arbeiten.«

      »Moment mal. Was für eine Person ist das denn, die da in den alten Geschichten herumwühlt?«

      »Ich denke, es ist besser, wenn ich dir auch davon nichts erzähle. Könnte sein, dass deinem alten Herrn das nicht recht wäre. Wenn du etwas darüber wissen willst, fragst du am besten ihn.«

      »Pff, eher gefriert die Hölle.«

      Marko überlegte, wie viele Jahre er mit seinem Vater schon kein Wort mehr gewechselt hatte. Es mussten mindestens fünf sein.

      Gerhard war bereits bei der Wohnzimmertür angekommen.

      »Bemühe dich nicht«, sagte er und hob die rechte Hand zum Abschied.

      Ganz sicher nicht, dachte Marko und nippte an seinem Whisky. Einen Moment später hörte er, wie die Haustür ins Schloss fiel.

      Sein Vater machte sich also Sorgen, wegen eines Schnüfflers. Von dieser Sippschaft.

      Seit jeher wurde diese andere Familie, von der Marko nicht wusste, welche es war, von seiner Familie nur »Sippschaft« genannt. Der Alte von der Sippschaft machte dieses oder jenes, hieß es dann. Als Kind fand Marko es faszinierend, dass diese Sippschaft existierte: Es gab eine gegnerische Familie, wie zwei verfeindete Indianerstämme. Er stellte sich damals vor, wie sie gegeneinander in den Krieg zogen. Als er erwachsen wurde, fand er das alles ziemlich albern. Er hielt es für ein Hirngespinst seines überdrehten Vaters.

      Zuletzt hieß es, der Alte von der Sippschaft sei gestorben, wie Marko von seinem Bruder erfahren hatte. Aber das interessierte ihn, wie so vieles aus seiner Familie, so gut wie gar nicht. Die einzigen Dinge, die ihn noch mit ihr verbanden, waren sein Bruder und der Nachname von Zölder.

      Marko nahm den letzten Schluck aus dem Whiskyglas und erhob sich, um duschen zu gehen.

      1788

      Sie durchschritten durch das Heiligengeisttor die Stadtmauer, so wie sie es meistens taten, da sie von Norden in die Stadt kamen. Auf diese Weise gelangten sie von der Hausvogtei Oldenburg, also dem zu Oldenburg gehörenden Teil außerhalb der Stadtmauern, in die Stadt Oldenburg. Sie folgten dem Verlauf der Langen Straße und dann dem der Achternstraße. Kurz bevor diese endete, bogen sie in die Ritterstraße ein. In die feine Gegend, wie Herold immer sagte. Ritter gab es hier allerdings schon lange nicht mehr, eher gut betuchte als gut beschmiedete Bürger. Hier sollte der Herr von Elmendorff wohnen, der Mann, den sie um das Geld zum Aufbau und Umbau der Mühle bitten wollten.

      Da standen sie nun zwischen den vornehmen Häusern und schauten sich um. Die Fassaden sahen sich alle sehr ähnlich und es waren nicht wenige. Bei welchem Haus sollten sie anfangen?

      Ein