Michael Vahlenkamp

Jenseits der Zeit - Historischer Mystery-Thriller


Скачать книгу

      »Ich erinnere mich an unsere Eltern so, wie man sich als dreißigjähriger Mann an Geschehnisse erinnern kann, bei denen man zehn Jahr alt war oder sogar jünger. An Geschehnisse, die 20 Jahre zurückliegen.« Er räusperte sich. »Unsere Mutter habe ich als unnahbar in Erinnerung. Sie war wenig herzlich, eher kühl und abweisend. Ich weiß nicht, ob sie mich überhaupt jemals in den Arm genommen hat. Als weibliche Bezugsperson hatte ich vielmehr unsere Zugehfrau.«

      Jacob traute seinen Ohren nicht.

      »Wir hatten eine Zugehfrau? Eine Haushälterin?«

      »Ja, aber unterbrich mich nicht. Es fällt mir schwer genug, aus dieser Zeit zu erzählen. Unterbrechungen kann ich nicht gebrauchen. Hinterher kannst du mich fragen, was du willst.«

      Herold hatte auf seinem Teller noch einen Bissen Brot. Den steckte er sich jetzt in den Mund. Nachdem er ihn hinuntergeschluckt hatte, fuhr er fort.

      »Unser Vater war da ganz anders. Es stimmt, dass er ähnlich war, wie du heute bist, nicht nur äußerlich. Er war immer fröhlich, lustig, herzlich. Er war es, der mich in den Arm nahm und mir zeigte, dass er mich liebte. Wir haben viel zusammen gemacht. Als ich zehn wurde, sagte er mir, dass ich langsam ein Mann werde und bald mitkommen könnte zur Jagd. Aber dazu kam es nicht mehr.«

      Herold machte eine kurze Pause, in der er wieder auf den See schaute.

      »Dann kam der Tag, an dem er schwermütig wurde. Er hatte irgendwelche Sorgen, aber ich wusste nicht, was für welche. Als ich unsere Zugehfrau danach fragte, sie hieß übrigens Duretta, meinte sie, dass das schon vorbeigehen würde und ich mir keine Sorgen machen sollte. Aber so kam es nicht, es wurde sogar schlimmer. Unser Vater lachte kaum noch und hatte tiefe Ringe unter den Augen, als würde er kaum noch schlafen. Dann kam alles ganz schnell hintereinander. Zuerst starb unsere Mutter bei einem Unfall. Unseren Vater habe ich danach nur noch einmal gesehen, wie er das Haus verlassen hatte. Er war so aufgelöst, dass er mich nicht einmal bemerkt hatte, obwohl er mich umgerannt hätte, wenn ich nicht schnell zur Seite gesprungen wäre. Das war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Meine Fragen nach seinem Verbleib wurden mir nicht beantwortet und kurze Zeit später sagte man mir, dass auch er tot sei.«

      Herolds Stimme brach bei den letzten Worten. Jacob sah ihn an und bemerkte, dass er Tränen in den Augen hatte. Auch Jacob wurde ganz beklommen und er musste schlucken, um den Kloß im Hals loszuwerden.

      Nach einer Weile fuhr Herold fort, die Stimme immer noch brüchig.

      »Wie es zum Tod unserer Eltern kam, hat man mir nie erzählt. Es dauerte auch nicht lange und wir mussten unser Haus verlassen. Wir sind zu unseren Stiefeltern gekommen, dem alten Müllerehepaar Bernhard und Martha. Sie zog dich auf und ich musste Bernhard in der Mühle mithelfen. Den Rest kennst du.«

      Beide schwiegen eine Weile. Der eine musste sich erholen, so wie es Jacob schien, und er selber musste das Gehörte verarbeiten. Eigentlich hätte er Herold jetzt gerne in Ruhe gelassen, aber ein paar Dinge musste er unbedingt wissen.

      »Du sagst, wir hatten ein Haus?«

      »Oh, ja, und was für eines. Ein großes, schönes Haus. Ich hatte ein eigenes Zimmer. Alles war prunkvoll eingerichtet. Und wir hatten Stallungen und Pferde. Soweit ich weiß, hatten wir auch viele Ländereien. Aber das wurde uns alles weggenommen. Ich weiß nicht, warum. Mir als Zehnjährigen hatte man das nicht erzählt und Bernhard wusste es auch nicht. Heute weiß ich nicht mal mehr, wo sich unser Haus befand und ob ich es heute wiedererkennen würde, wenn ich es sähe.« Er kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. »Woran ich mich erinnern kann, ist eine weiße Pferdeskulptur, ein aufbäumendes Pferd aus Stein. Darauf hat Vater mich manchmal gesetzt.«

      »Und wir hatten eine Zugehfrau?«

      »Nicht nur das. Wir hatten noch mehr Personal. Jemanden, der sich um die Stallungen kümmerte, einen Gärtner, ich hatte einen privaten Lehrer. Die habe ich alle später nie wieder gesehen.«

      »Das heißt, wir hatten einmal viel Geld?«

      »Ja, Geld und Ansehen. Die anderen Menschen begegneten unserem Vater immer mit viel Respekt. ‚Herr von Riekhen dieses‘ und ‚Herr von Riekhen jenes‘ ...«

      »Was? Wieso ‚Herr von Riekhen‘?«

      »Weil wir früher einen Adelstitel führten. Unser Vater war Freiherr von Riekhen.«

      1768

      Das Pferd preschte über die Wiesen. Das Wasser aus den Pfützen, die sie durchritten, spritzte auf, selbst Diethers Gesicht war bereits nass. Doch es machte ihm nichts, er genoss es. Sie galoppierten am Rande eines Waldes entlang, setzten über einen liegenden Baumstamm. Er rang schon ebenso nach Luft wie sein Hengst. Am Ende des Waldes zog er die Zügel straff und brachte ihn zum Stehen. Lobend tätschelte er den Hals des stolzen Tieres, während beide wieder zu Atem kamen.

      Es würde gleich beginnen, dunkel zu werden. Er sollte sich auf den Heimweg machen. Dafür wollte er eine andere Route einschlagen. Er zog am linken Zügel und wendete sein Pferd, um gemäßigter zurück zu reiten.

      Etwa eine Stunde später ritt er in seine Stallungen und übergab den Hengst zum Abzäumen und zur Pflege an Klatti, seinem Stallknecht. Er selbst begab sich ins Haus, um sich frisch zu machen. Bald würde das Abendessen gereicht werden. Sicherlich würde es wieder Braten geben, von dem Fleisch des Hirsches, den er vor einigen Tagen erlegt hatte.

      Als er kurze Zeit später den Speiseraum betrat, kam ihm der köstliche Duft der Speisen entgegen. Im Kamin loderte ein schönes Feuer, was bei dem recht fortgeschrittenen Herbst wohl angebracht war. Alheyt und Herold saßen bereits an der langen Tafel und erwarteten schweigend seine Ankunft.

      »Ah, ihr wartet schon auf mich«, sagte Diether gut gelaunt zur Begrüßung.

      Sein Sohn lächelte ihm zu, aber seine Frau zeigte keine Regung.

      Diether ging an der Tafel entlang und strich dabei mit den Fingern über die weiße Tischdecke. In der Mitte standen dampfend große Porzellanplatten mit verschiedenen Gemüsen und Kartoffeln. Als er an Herold vorbeikam, strubbelte er ihm über das Haar. Zu Alheyt bückte er sich zum Kusse und sie hielt ihm ihre blasse Wange entgegen. Sie saß nicht sehr dicht am Tisch, weil ihr dicker Bauch es unmöglich machte. Nicht mehr lange bis Diether das zweite Mal Vater werden würde.

      Er schritt an der anderen Seite der Tafel entlang, zurück zu seinem Platz, und kaum hatte er sich niedergelassen, betrat Duretta mit der Bratenplatte den Raum. Sie begrüßte ihn, stellte die Platte ab und begann damit, die Speisen und den Wein zu servieren.

      Der Hirschbraten schmeckte vorzüglich. Diether ließ sich zwei Mal nachgeben. Die Nachspeise war eine Kombination aus geschlagener Sahne und Äpfeln. Eine sehr süße Angelegenheit, die er kaum anrührte, dem Rest seiner Familie aber zu schmecken schien. Sollte Herold doch seine Schale bekommen.

      »Wie war der Unterricht heute?«, fragte er seinen Sohn, den stummen Teil des Abends beendend.

      »Hervorragend!« Herold strahlte über das ganze Gesicht. »Jedenfalls nachdem wir mit dem leidigen Lesen fertig waren und uns der Mathematik zugewandt hatten.«

      Ja, dachte Diether, ein Dichter würde sein Sohn wohl nicht werden, dann schon eher ein Wissenschaftler. Aber er musste nichts von beidem. Irgendwann würde er das Vermögen erben, von dem seine Familie seit Generationen lebte. Nichtsdestotrotz war Bildung wichtig, weshalb Diether den besten Privatlehrer beschäftigte, den er finden konnte.

      Herold berichtete weiter vom Unterricht und davon, was er am Nachmittag draußen unternommen hatte, was er geschnitzt hatte, dass er in den Stallungen geholfen hatte und was ein Zehnjähriger sonst alles erlebte. Diether hörte ihm wohl zu, aber seine halbe Aufmerksamkeit galt Alheyt. In ihrer Schwangerschaft war sie sogar schöner als ohnehin schon. Er musste sie fortwährend anschauen, doch sie erwiderte seinen Blick nicht ein einziges Mal. Die ganze Zeit waren ihre Lider gesenkt und die Augen auf den Teppich gerichtet, als hätte sie dessen Muster zuvor nie gesehen. So verhielt sie sich nicht erst seit heute, sondern bereits eine geraume Weile. Das tat Diether weh. Sicher,