Michael Vahlenkamp

Jenseits der Zeit - Historischer Mystery-Thriller


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Handwerker waren schon lange ins Wochenende gegangen und Editha musste langsam das Abendbrot fertig machen. Sie hatte sich von Timo dazu breitschlagen lassen, ihm Pfannkuchen zu backen. Also suchte sie die Zutaten dafür zusammen.

      Das Telefon klingelte in einem ungünstigen Moment. Sie hatte Teig an den Fingern und auch von der Rührmaschine tropfte er in großen Flatschen herunter. Hastig wischte sie sich die Hände am Küchenhandtuch ab und griff zum Telefon.

      »Gruning hier«, meldete sich die andere Seite.

      »Oh, hallo Herr Gruning.«

      Sie stellte fest, dass doch noch Teig an ihren Fingern war und sie damit das Telefon eingeschmiert hatte. Verdammter Klehkram!

      »So, mein Mädchen. Die ersten 30 Seiten sind fertig und können abgeholt werden«, meinte Gruning fröhlich.

      Editha riss mit der freien Hand ein Küchenkrepp ab und versuchte, den Teig vom Telefon zu wischen und gleichzeitig zu telefonieren, was sich als schwer machbar herausstellte.

      »Oh, das ist schön.« Fast fiel ihr der Apparat herunter. »Äh ... was? Wir hatten doch gesagt, dass Sie erst mal nur 10 Seiten übertragen.«

      Vor Schreck vergaß sie die Schmiererei und hielt sich das Telefon direkt ans Ohr.

      »Ja, ja, keine Sorge. Ich werde nur 10 Seiten in Rechnung stellen. Es war einfach so interessant, dass ich nicht aufhören konnte. Ich musste zumindest die Ereignisse des aktuellen Datums komplett übertragen.«

      Zum Glück, dachte Editha. Sie hatte ein klebriges Gefühl am Ohr. Mit dem Krepp von vorher wischte sie einmal zwischen Telefon und Ohr entlang.

      »Weißt du«, fuhr Gruning fort, »ich liebe diese Berichte aus früheren Zeiten. Daran kann ich mich gar nicht sattlesen. Wann möchtest du denn herkommen?«

      Editha ging im Geiste schnell den weiteren Tagesablauf durch. Das war zwar alles ein wenig knapp, aber er hatte sie neugierig gemacht und sie brannte darauf, den Text zu lesen.

      »Würde es heute noch gehen?«

      Sie vereinbarten einen Abholtermin für den Abend und beendeten das Gespräch.

      Das Telefon war immer noch voller Pfannkuchenteig. Sie nahm ein neues Küchenkrepp und wischte zuerst ihre Finger und dann das Telefon sauber. Ihr Ohr fühlte sich auch noch klebrig an. Sie ging mit frischem Krepp bewaffnet auf den Hausflur, doch als sie dort ihre Haare im Spiegel sah, merkte sie, dass hier nur eine Dusche half.

      Die 30 Blätter Papier, ausgedruckt mit einem Tintenstrahldrucker, der einen Patronenwechsel nötig hatte, und mit einem hellblauen Heftstreifen zusammengeheftet, lag am Samstagmorgen zuerst auf dem Küchentisch, falls Editha beim Frühstück nebenbei einen Blick hätte hineinwerfen wollen. Zwei oder drei Male hätte sie auch die Gelegenheit dazu gehabt. Doch bevor sie dazu kam, wollte Timo wieder irgendetwas.

      Dann lag der Papierstapel eine ganze Weile auf ihrem Schreibtisch. Immer wieder sah sie ihn sekundenlang an, war im Begriff, darin zu lesen, aber stets fielen ihr andere Dinge ein, die sie zuerst machen wollte.

      Zur Mittagszeit lag er wieder auf dem Küchentisch und nachmittags erneut auf dem Schreibtisch und das Spiel vom Vormittag wiederholte sich.

      Am Abend saß Editha auf ihrem Sofa. Timo war schon eine Weile im Bett. Die Blätter mit der in lateinische Buchstaben übertragenen Version der ersten 30 Buchseiten befand sich vor ihr auf dem Couchtisch. Jetzt hatte sie Zeit, in Ruhe darin zu lesen. Sie atmete tief durch und genoss die Ungestörtheit. Gleich würde sie anfangen, nur einen Moment die Augen schließen.

      Nach diesem Moment sah sie das Heftchen wieder an und sie begriff, warum sie den ganzen Tag noch kein Wort davon gelesen hatte. Nicht etwa, weil sie keine Zeit oder keine Ruhe dazu hatte. Nein, da hatte sie schon weitaus stressigere Tage hinter sich. Der eigentliche Grund war, dass sie Angst hatte.

      Was wäre, wenn es so wie letztes Mal sein würde? Wenn sich der Ablauf der Dinge wiederholte? Wenn sie von einem Geschehnis läse, und sie hinterher abermals eine Vision davon hätte? Beim ersten Mal fand sie es erschreckend. Und anschließend wäre ihr womöglich wieder so schlecht. Der Gedanke daran machte ihr eine Gänsehaut.

      Aber andererseits wollte sie genau das. Sie wollte nochmal durch die Augen dieses Mannes aus längst vergangener Zeit sehen, wollte seine Gefühle fühlen, wollte das erleben, was er erlebte. Diese Möglichkeit übte eine gewaltige Anziehungskraft auf sie aus, als wäre sie einer Sucht bereits nach dem ersten Anfixen verfallen.

      Sie starrte die Blätter an. Das war doch Unsinn. Wer sagte, dass es wieder so kommen würde? Wahrscheinlich war das sowieso ein einmaliges Erlebnis.

      Mit einem Ruck beugte sie sich nach vorn und griff sich die Blätter. Sie lehnte sich ins Sofa zurück und begann, auf der ersten Seite zu lesen.

      Wie sie bereits in der Originalfassung anhand der Jahreszahlen festgestellt hatte, hatte J. R. etwa drei Jahre vor diesem Überfall am Lappan damit begonnen, das Buch zu schreiben. Im Gegensatz zu der Szene, die sie schon kannte und die in einer Art Romanstil verfasst war, wurden die ersten Seiten im typischen Tagebuchstil geschrieben. Dabei waren die Einträge eher sporadisch, alle paar Wochen oder Monate wurden nur besondere Erlebnisse ergänzt. Die Beschreibungen waren sehr kurz und knapp gehalten, sodass die ersten 30 Seiten bereits mehr als zwei Jahre überspannten. Neben der Schilderung der Erlebnisse hatte J. R. das beschrieben, was sie Visionen nannte. Er nannte sie »Gesichte«. Diese hatte er seit frühester Kindheit. Er lebte im 18. Jahrhundert und schrieb von Dingen, die er eigentlich noch nicht kennen konnte, wie Autos und Smartphones. Die Begriffe kannte er natürlich nicht, sodass er die Dinge umschrieb. So bezeichnete er Autos als pferdelose Kutschen.

      Die Geschehnisse, die er schilderte, hatte er durch die Augen einer Frau gesehen, wie man an den Formulierungen merkte, aber ihr kamen sie gänzlich unbekannt vor. Vielleicht hatte er diesen Austausch mit verschiedenen Frauen in ihrer Zeit.

      Andererseits kamen ihr die Gefühle und Sinneswahrnehmungen seltsam vertraut vor, so als würde er von ihr sprechen. War es möglich, dass diese Ereignisse ihr noch bevorstanden, also in ihrer Zukunft lagen?

      Aber das würde ja bedeuten, dass dieser Mann regelmäßig in ihrem Körper steckte. Er bekam mit, was sie fühlte, was sie dachte und tat. Jederzeit könnte er erscheinen und sie beobachten.

      Editha lief ein Schauder über den Rücken. Wenn ein Fremder Kameras in ihrer Wohnung installiert hätte und sie ständig beobachten würde, hätte sie sich nicht anders gefühlt.

      Unheimlich berührt warf sie die Blätter zurück auf den Tisch, als wären sie mit ekligem Schleim bedeckt.

      Plötzlich war sie völlig erschöpft. Sie beschloss, heute sehr früh ins Bett zu gehen.

      Zu ärgerlich: Editha knurrte jetzt schon der Magen, weil sie heute früh in der Eile noch nicht zum Essen gekommen war und sich nur etwas eingepackt hatte mit dem Hintergedanken, es während der Recherche zu essen. Doch auf der Glastür, durch die sie in den großen Hauptraum des Staatsarchivs gehen wollte, prangte ein Schild, das sogar die Mitnahme ihres Rucksackes untersagte. Eigentlich hätte sie sich das aber auch denken können, dass man hier die Dokumente vor schmierigen Fingern und Kaffeeflecken bewahren wollte. Da sie jetzt keine wertvolle Zeit verlieren wollte, musste sie wohl eine Weile Kohldampf schieben.

      Zu ihrer Linken sah sie einen Bereich mit Schließfächern für die Dinge, die im Rechercheraum unerwünscht waren oder von den Besuchern aus eigenem Interesse nicht mitgenommen werden sollten. Sie ging zum ersten Schrank, fütterte ihn mit einem Euro, schloss ihre Sachen ein und war dann bereit den Hauptraum zu betreten.

      Die Dokumente, die sie für die Einsichtnahme angemeldet hatte, lagen schon für sie parat. Ein recht freundlicher Mann mittleren Alters gab ihr dazu noch ein paar Hinweise und bat sie dann an einem der Tische für ihre Recherche Platz zu nehmen.

      Editha breitete die Unterlagen, so gut es ging, auf der vorhandenen Fläche aus. Sie hatte nun alle 28 Übertragungskontrakte, die sie vorab online entdeckt hatte, vor sich liegen: den einen zwischen Diether von Riekhen und dem Herzogtum Oldenburg und die 27 zwischen dem Herzogtum