Ivy Bell

Als Lilly schlief


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Somit tat ich also genau das, was alle Abiturienten machen, die noch nicht wissen, was sie werden wollen. Da mich das Studium nicht besonders interessierte, fiel ich sowohl im ersten als auch im zweiten Semester durch fast alle Prüfungen. Daraufhin jobbte ich eine ganze Weile vor mich hin, sehr zum Unmut meiner Eltern. Irgendwann bin ich dann bei McDonalds gelandet. Der permanente Essensgeruch hat allerdings dazu geführt, dass ich dauernd irgendetwas in mich hineingestopft habe und 5 Kilo zunahm, alle an den Oberschenkeln bzw. am Po. Immerhin habe ich dort auch Jan kennengelernt, er hat ab und zu einen Burger bei mir gekauft, später manchmal einen Salat. Ich bin ja der Meinung, dass er immer mehr zum Grünzeug überging, je mehr Kilos ich auf die Waage brachte, aber das streitet er ab. Er behauptet, er hätte meinen Hintern sowieso nie gesehen, da ich so klein bin, dass mein Unterkörper völlig hinter dem Tresen verschwindet. Außerdem, so sagt er, wäre ihm das eh nicht aufgefallen, er war vom ersten Augenblick an hingerissen von meinen hellgrünen Augen und meinen dunklen Wuschelhaaren, den Rest hat er angeblich gar nicht wahrgenommen. Irgendwann fragte er mich, ob ich mit ihm ausgehen möchte und da er mir bereits seit einiger Zeit gefiel, sagte ich zu. Da wir uns auch jenseits des Fast Food-Tresens gut verstanden dauerte es nicht so lange und wir waren ein Paar. Die zusätzlichen Kilos war ich dann schnell los, wenn ich frisch verliebt bin, esse ich nur das nötigste. Der Job bei McDonalds machte mir keinen Spaß mehr, außerdem stank ich danach immer nach dem Fett aus der Fritteuse. Jan hat mir damals einen Job bei seinem Vater vermittelt. Er ist Architekt, ein recht erfolgreicher mit eigenem Architekturbüro, und brauchte dringend eine Unterstützung, nachdem seine Sekretärin sich in den Mutterschutz verabschiedet hatte. Da ich durchaus in der Lage bin, Telefonate zu führen, Briefe zu tippen und Termine zu koordinieren, stellte er mich vorübergehend als Aushilfe ein. Durch diesen Job kam ich auf die Idee, Architektur zu studieren. Da ich aber noch lieber Innenräume gestalte, statt Häuser zu konstruieren, wurde ich Innenarchitektin. Ein toller, kreativer Beruf, vor allem einer, bei dem man wirklich schwer einen Job findet. Komischerweise rannten mir die Schönen und Reichen in unserer Stadt so gar nicht die Bude ein, um sich von mir ihre Räumlichkeiten verschönern zu lassen. Da hatte ich nun ein Studium abgeschlossen, sogar erfolgreich, und fand keine Arbeit. Ich jobbte kurzzeitig in einem Copyshop, aber irgendwann hatte ich auch Glück. Ein Jahr vor meinem Unfall wurde ich von einem Möbelhaus eingestellt, um dort die Verkaufsflächen zu gestalten. Man gab mir ein Thema vor, z.B. Wohnzimmer einer Familie mit zwei Kindern, ein paar Möbel wurden gestellt und dann konnte ich mit meinem Team die Fläche so herrichten, dass die Kunden hoffentlich Lust bekamen, sowohl die Couch als auch die Deko, die Tapeten und die Vorhänge zu erwerben. Zwar arbeitete ich nicht für Privatpersonen, wie ich es zunächst gedacht hatte, aber ich konnte einen Raum gestalten und war glücklich. Ärgerlich ist nur, dass immer, wenn ich erzähle, was ich in dem Möbelhaus mache, die Leute ausrufen »Ach, du bist Dekorateurin!« Das ist natürlich ebenfalls ein schöner Beruf, aber ich bin eben Innenarchitektin und für die gesamte Gestaltung eines Innenraums zuständig, auch wenn es sich nur um einen fiktiven handelt.

      Mein Freund Jan hat Medizintechnik studiert und entwickelt medizinische Geräte. Eigentlich wollte er gerne Arzt werden und hat nach dem Abitur sofort ein Praktikum in einem Krankenhaus gemacht. Dabei stellte er aber zwei Dinge fest: Erstens: Er bildete sich dauernd ein, diverse Krankheiten, mit denen er gerade zu tun hatte, auch zu bekommen. Ständig hat er nach seinem Dienst in Büchern nachgelesen, worum es bei den verschiedenen Erkrankungen geht und dann sämtliche Anzeichen bei sich selbst beobachtet. Das ist für einen angehenden Arzt sehr unvorteilhaft, andauernd unter den Krankheiten zu leiden, die seine Patienten gerade haben.

      Zweitens: Er kann überhaupt kein Blut sehen. Dies zeigte sich bereits, als er eine Stunde in der Ersten Hilfe Dienst hatte und ein Mann mit einer stark blutenden Wunde an der Hand auf ihn zu kam und ihn fragte, wo er sich anmelden müsse. Jan fiel einfach in Ohnmacht, direkt vor dem armen, verletzten Mann, der dann übrigens Jan sehr routiniert in die stabile Seitenlage gebracht und Hilfe geholt hat. Diese zwei Episoden tragen in unserem Freundeskreis immer wieder zur Erheiterung bei, so nach dem Motto »Wenn Jan eine eigene Arztpraxis hätte, wäre die ständig wegen Erkrankung des Herrn Doktors geschlossen … hahaha«. Zum Glück hat ein sehr netter Arzt Jan dann auf die Idee gebracht, Medizintechnik zu studieren, so kann er an der Entwicklung neuer medizinischer Geräte oder Prothesen mitwirken, arbeitet auch wie gewünscht im Gesundheitswesen, muss aber niemanden untersuchen, verbinden oder gar aufschneiden. Der perfekte Job für einen kleinen Hypochonder.

      Jedenfalls ist doch ersichtlich, dass ich in den letzten 31 Jahren nichts Großes geleistet habe. Ich habe keine weltverbessernden Erfindungen gemacht, keine Waisenhäuser gebaut, keine Kinder bekommen, nichts Bleibendes erschaffen. Momentan bin ich sehr deprimiert.

      Tante Luise streichelt mir über die Wange und nimmt meine Hand. »Kind, was machst du bloß für Sachen. Rennst auf die Straße und lässt dich von einem Auto umfahren. Aber ehrlich, ich bin stolz auf dich, der kleine Junge wäre ohne dein mutiges Eingreifen sicher tot. Seine Mutter erkundigt sich dauernd nach dir, sie macht sich solche Vorwürfe, dass sie ihren Kleinen aus den Augen ließ und du nun dafür büßen musst.« Ach Luise, ich würde so gerne mit dir reden, aber es geht nicht. Ich bekomme meinen Mund nicht auf, kann nicht mal blinzeln oder ihre Hand drücken.

      Luise ist die Zwillingsschwester meiner Mutter, allerdings sind sie zweieiige Zwillinge, was man nicht nur sieht, sondern auch merkt, denn die zwei sind sehr verschieden. Gemeinsam haben sie ihr großes Herz, sie können beide zuhören und haben oft gute Ratschläge, wenn man mit Problemen zu ihnen kommt. Meine Tante ist aber viel verrückter als meine Mutter, eine sehr auffällige Frau, die ihr Geld mit dem Schreiben von Groschenromanen verdient. Sie schreibt die Heftchen allerdings unter einem Pseudonym, sehr erfolgreich, doch die meisten ihrer Freundinnen wissen gar nicht, woher sie ihr Einkommen hat. Luise ist groß, kurvenreich, mit langen blonden Haaren, die ihr in Wellen über die Schultern fallen und immer schick im Kostüm gekleidet, was sie aber nie davon abhielt, im Sommer mit mir auf Spielplätzen herumzutollen. Die Frau kann ewig und überall in Pumps herumlaufen. Meine Mutter ist dagegen eher klein, schmal, mit dunklen, ganz glatten Haaren, um die ich sie glühend beneide. Ich habe die komischen Wuschelhaare von meinem Papa geerbt. Ich hasse Regen oder hohe Luftfeuchtigkeit, weil meine Haare sich dann immer total wirr kringeln und ich nie weiß, was sie als Nächstes vorhaben. Bei schönem Wetter kann ich sie sogar zähmen und habe dann wenigstens eine gewisse Ähnlichkeit mit meiner Mama.

      Luise hält meine Hand und seufzt. »Was könnte ich dir denn erzählen? Der nette Arzt meinte, wir sollen viel mit dir reden, du würdest alles hören, aber das ist so schwer, wenn man keine Antwort bekommt. Vielleicht sollte ich dir was vorsingen…« Oh nein, bitte nicht. Luise kann eine Menge, singen gehört allerdings nicht dazu. Sie schafft es, mit einer Karaoke-Einlage eine Bar zu leeren, aber sie will das nicht wahrhaben und ist der Meinung, sie hätte eine schöne Singstimme. Zum Glück entscheidet sie sich anders und redet noch ein wenig mit mir, irgendwann höre ich sie gar nicht mehr, ich bin schon wieder ganz woanders.

      Anscheinend ist es Nacht, denn um mich herum scheint es dunkel zu sein. Das Schlimme an meinem Zustand ist, dass ich meine Augen nicht öffnen, mich nicht bewegen kann. Meistens ist alles irgendwie in einem Nebel.

      Noch beunruhigender allerdings sind diese erschreckend realistischen Träume. Jedes mal, wenn ich einschlafe, durchlebe ich Ereignisse aus meiner Vergangenheit, aber immer erfahre ich, wie mein Leben sich geändert hätte, wenn ich bzw. jemand in meiner näheren Umgebung damals anders gehandelt hätte. So habe ich in meinem vorletzten »Traum« z.B. festgestellt, dass Mia so oder so meine beste Freundin geworden wäre, auch wenn ich vor 23 Jahren im April NICHT am Dienstag, sondern erst am Donnerstag mit meiner Mama auf den Abenteuerspielplatz gegangen wäre, weil Mia dort eigentlich jeden Tag herumlungerte. Ich konnte mich nur noch sehr dunkel an diesen Tag erinnern, durch meinen Traum wurde er wieder präsent. Damals hatte ich meine Mutter fast zur Weißglut gebracht mit meiner Unentschlossenheit. Der Abenteuerspielplatz war ein wenig weiter von unserem zu Hause entfernt, meine Mutter oder Tante Luise hatten mich damals immer dorthin begleitet. Dieser Spielplatz war für mich etwas besonderes, dort gab es viel mehr Spielmöglichkeiten