Ivy Bell

Als Lilly schlief


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erst neulich habe ich ihn gesehen, als er abends in die Kneipe ging, in der er kellnert. Krumme Dinger hat er nie gedreht. Nachdem wir ihn mit unserer Filmrolle erschreckt hatten, hielt er sich von den anderen Kindern fern und mit Bernd war er auch nie befreundet. Der ist nämlich ein paar Monate, nachdem wir Frank so erfolgreich die Hände gebunden haben, bei einem selbst verschuldeten Unfall mit einem geklauten Moped gestorben.

      Ob das alles wirklich so gekommen wäre, wenn Mia und ich Frank damals nicht mit unserem Trick in die Schranken gewiesen hätten? Was wäre dann noch alles passiert? Warum habe ich solche Träume? Ich soll doch gesund werden, da kann man wohl erwarten, dass man im Schlaf nicht so schrecklich gestresst wird. Ich sollte von schönen Dingen träumen, z.B. von sonnigen Sandstränden in der Karibik, einem fruchtigen Cocktail in meiner Hand und Jan, der mir den Rücken mit Sonnenmilch eincremt. Das wäre entspannend, aber nein, ich muss ja mein Leben neu träumen.

      Ich liege noch eine Weile im Dunkeln, bin verwirrt und denke über meinen Unfall nach. Ich ärgere mich, dass ich meine Augen, obwohl ich doch wahrscheinlich wach bin, einfach nicht öffnen kann, bis ich schließlich wieder einschlafe.

      Sophie seufzt und dreht sich zu Felix herum. Der kleine Junge schläft ruhig in seinem Krankenhausbett, er hat nur ein paar Kratzer am Arm und einen leichten Schock, ist ansonsten glücklicherweise völlig gesund und darf hoffentlich bald wieder nach Hause. Sophie setzt sich vorsichtig auf das kleine Bettchen und legt ihren Kopf neben den von Felix. Die Haltung ist zwar sehr unbequem, aber nach diesem Tag möchte sie ihren Sohn am liebsten nie mehr aus den Augen lassen.

      Wie konnte sie nur so nachlässig sein??? Da streitet sie sich so sehr mit dieser alten Hexe, dass sie beinahe ihr Kind verloren hätte? Wenn die junge Frau nicht so geistesgegenwärtig auf die Straße gerannt wäre, sie möchte gar nicht daran denken, wie ihr Abend jetzt aussehen würde. Sie fühlt einen unendlichen Schmerz bei der Vorstellung an ein Leben ohne Felix. Nein, das darf nie passieren.

      Oliver ist mit Nele nach Hause gegangen, nachdem er sie immer wieder beruhigt hat, dass doch nichts passiert ist und sie sich keine Vorwürfe machen soll. Zum Glück hat er so viel Verständnis, sie ist sehr froh, dass sie ihn hat.

      Ihre Tochter Nele war furchtbar aufgewühlt, weil ihr kleiner Bruder beinahe vom Auto überfahren worden wäre. Sie hat fast noch mehr geweint als Felix, der nach dem Schock erstmal nur schwer zu beruhigen gewesen war.

      Felix stöhnt im Schlaf und dreht sich herum. Sophie streichelt ihm über den Kopf und nachdem er sich beruhigt hat, geht sie ans Fenster und schaut hinaus in den Krankenhausgarten, der im Dunkeln vor ihr liegt, nur schwach beleuchtet von einigen Laternen. Sie blickt nach links zum Seitenflügel, irgendwo dort hat man die junge Frau untergebracht, die ihren Sohn von der Straße gestoßen hat und dann selber von dem Auto gestreift wurde. Vor Sophies innerem Auge läuft die ganze Szene immer wieder ab, wie in Zeitlupe. Sie sieht sich erst noch mit der alten Frau Hartung aus dem 3. Stock streiten, hört den Schrei der jungen Frau und als sie sich umdreht, stolpert ihr Sohn über den Bordstein. Die Frau hat ihn fort geschubst, in dem Moment wird sie selbst von dem Auto gestreift, fliegt ein Stück durch die Luft, prallt mit dem Kopf gegen einen Pfahl und bleibt reglos liegen. Der Autofahrer ist sofort aus seinem Fahrzeug gesprungen und hat den Notarzt gerufen. Er wollte Felix ausweichen und hat dadurch die junge Frau erwischt, die ebenfalls Felix helfen wollte und nicht auf das Auto geachtet hat. Der arme Mann war ganz schön fertig.

      Sophie schaut die Krankenhausfenster an, einige sind dunkel, manche erleuchtet, so viele Menschen liegen hier in diesem Gebäude, mit ihren ganz eigenen Sorgen und Ängsten.

      Sophie fühlt sich schon lange nicht mehr richtig wohl. Ihre Familie liebt sie über alles, ihren Mann, ihre 7-jährige Tochter Nele und den kleinen Felix, mit dem sie schon fast nicht mehr gerechnet hatten. Seit kurzem gibt es da noch Fleck, einen Jack-Russel Welpen, sehr süß, aber leider auch noch nicht 100%-ig erzogen. Und genau dieser kleine Hund war der Grund für ihren Ärger mit Frau Hartung, hatte er es doch gewagt, seinen kleinen Kopf blitzschnell aus dem Halsband zu befreien und Frau Hartung anzuspringen. Diese hatte daraufhin behauptete, ihre Hose sei nun ruiniert und Sophie müsse die Reinigung bezahlen, und überhaupt, nun auch noch diese Töle, wo sie doch schon ihre Kinder nicht im Griff hätte. Da ist Sophie der Kragen geplatzt und sie hat Frau Hartung angeschrien, dass ihr Hund viel sauberer ist als die blöde Hose, die Frau Hartung schon seit Jahren immer trägt, dass sie sehr wohl mit ihren Kindern klar kommt und das Frau Hartung doch eine verbitterte alte….. ja… Hexe ist. Dann hörte sie schon den Schrei...

      Oh Gott. Hatte sie Frau Hartung wirklich ins Gesicht gesagt, was sie sonst immer nur dachte bzw. worüber sie nur mit ihrem Mann sprach? Dass diese Frau eine richtige Hexe sei? Wie sollte sie ihr je wieder unter die Augen treten? Sie hat keine Ahnung, wo Frau Hartung nach dem Unfall abgeblieben war. Sie hat sich um den weinenden Felix gekümmert und die junge Frau angestarrt, die reglos dalag und der ein kleines, blutiges Rinnsal über die Stirn lief.

      Sophie geht zu ihrem Bett, dabei fällt ihr Blick auf ihre Handtasche, in der eine kleine Tüte steckt. Eine kleine Tüte, deren Inhalt ihr sofort Gewissheit bringen könnte, ob sie sich zusätzlich zu einem Hundewelpen in ein paar Monaten noch um ein weiteres Baby würde kümmern müssen. Sie weiß nicht, ob sie darüber erfreut wäre, momentan bringt sie das nur sehr durcheinander. Sie wollten nach Nele so gerne noch ein Kind, am besten schnell, damit der Abstand nicht so groß ist. Aber dann vergingen zwei Jahre, dann drei und nichts passierte. Nele war schon 5, als Sophie endlich doch wieder schwanger war, damals hatten sie sich alle so gefreut. Als Sophie dann mit dem kleinen Felix zu Hause war, fand sie das zuerst sehr ungewohnt. Nun also das Ganze wieder von vorne, ein Baby wickeln, alle paar Stunden füttern, riesige Windelpakete und haufenweise Breigläschen nach Hause schleppen. Nele war schon so groß, sie konnte sprechen, brauchte keine Windeln, konnte unterwegs alles möglich essen, man brauchte keine Fläschchen, keinen Brei und keine riesige Spielzeugansammlung mitnehmen. Sophie hatte sich dann überraschend schnell wieder an den Alltag mit einem Baby gewöhnt, im Nachhinein sind die letzten 2 ½ Jahre wie im Flug vergangen. Wollte sie das noch mal?

      Oliver würde sich sicher freuen, er liebte Kinder, je mehr, desto besser, aber würde sie das packen? Sie fand es schön mit zwei Kindern, sie war froh, dass Felix auch schon 2 ½ war, dass er mit seiner Schwester spielen konnte. Sophie fühlte sich gerade etwas rastlos, überlegte, wie sie wieder eigenes Geld verdienen könnte, was sie noch mit ihrem Leben anfangen wollte, schließlich war sie erst 38. Und nun das. Ein drittes Kind war in ihren Überlegungen nicht vorgekommen.

      Sophie sieht ihre Tasche schräg an, dann schiebt sie Felix kleines Bettchen vorsichtig neben ihr eigenes, krabbelt unter ihre Decke und schläft sofort ein.

      In einer stillen, dunklen Wohnung in einem ruhigen Stadtteil sitzt eine ältere Dame am Fenster und schaut in die Dunkelheit. Sie hat sich in eine dicke Decke gewickelt, zittert aber immer noch. Sie hockt schon ein paar Stunden so da, hat gesehen, wie Herr Schulz mit seiner kleinen Tochter und dem Hund nach Hause kam, seine Frau und der Sohn waren nicht dabei. Sie würde gerne klingeln und fragen, wie es Frau Schulz und ihrem kleinen Sohn geht, aber sie traute sich nicht. Schließlich hatte Frau Schulz ihr vorhin nur zu deutlich gesagt, was sie von ihr hielt. Sie sei eine alte Hexe. Danach gab es diesen schrecklichen Knall, der Sohn von Frau Schulz stolperte gegen den Bordstein, fing an zu weinen und die junge Frau, die ihn vor dem Auto retten wollte, flog durch die Luft. Der süße kleine Junge. Eigentlich war diese nette Familie genau das, wovon sie selbst, Eva Hartung, immer geträumt hat. Ein freundlicher Mann, zwei süße Kinder und ein Hund, so richtig wie im Bilderbuch. Eva hatte sich nach dem Unfall geschockt in ihre Wohnung zurückgezogen, jetzt schämt sie sich. Vielleicht hätte man ja eine Zeugenaussage von ihr gebraucht. Aber durften Hexen überhaupt aussagen??? Eva seufzt. Ganz ehrlich, die Frau hat Recht. Seit ihr Mann sie vor 12 Jahren