Selma Lagerlöf

Anna das Mädchen aus Dalarne


Скачать книгу

ich es von mir wegzuschieben. Aber ich verstehe, daß das nicht geht. Ich muß es auf mich nehmen.«

      »Karl Artur!« sagte Charlotte. »Wie war es denn? Wie kam es? Ich habe es nur von Hauptmann Hammarberg gehört.«

      Karl Artur hatte Charlotte noch niemals so sanft und mütterlich reden hören. Er konnte ihr nicht widerstehen und begann sofort mit seiner Erzählung. Und er dachte, er tue Buße, indem er nichts verschleierte, nichts entschuldigte.

      »Charlotte!« sagte er schließlich. »Warum war ich so verblendet? Was war es nur, das mich verleitete?«

      Darauf gab sie keine Antwort. Ihr Herz war voll Erbarmen. Sie hüllte ihn darein und milderte den Schmerz seiner Wunde. Keines von beiden dachte daran, wie seltsam es war, daß sie auf diese Weise vertraulicher miteinander redeten, als sie es jemals vorher getan hatten. Sie bewegten sich auch gar nicht. Er blieb die ganze Zeit am Tische sitzen, und sie stand über ihn gebeugt. Sie sprachen über alles, und er fragte sie, ob sie glaube, er könne auch fernerhin noch Pfarrer bleiben.

      »Vor Hauptmann Hammarberg und dem, was er über dich sagen wird, brauchst du keine Angst zu haben!«

      »Ich denke dabei nicht an Hauptmann Hammarberg, Charlotte, sondern ich fühle mich so ganz erbärmlich und verworfen. Niemand kann wissen, wie ich mir vorkomme.«

      Charlotte wollte darauf nicht antworten, aber sie sagte: »Sprich morgen mit dem Oheim Forsius! Niemand ist so weise und fromm wie er. Und er sagt vielleicht, du passest jetzt besser zum Pfarrer als vorher.«

      Das war ein guter Rat; er schenkte ihm Ruhe. Und so war es mit allem, was Charlotte sagte; es tat ihm wohl. Er fühlte keine Neigung zu Widersetzlichkeit, kein Mißtrauen.

      Zum Schluß drückte er einen leichten Kuß auf ihre Hand.

      »Charlotte, ich will nicht von dem reden, was einst war, aber laß mich dir das eine sagen: ich verstehe mich selbst nicht. Warum hab' ich mich von dir getrennt, Charlotte? Nein, ich will mich nicht entschuldigen, aber es ist, als würde ich getrieben, das zu tun, was ich nicht will. Warum hab' ich meine Mutter dem Tod in die Arme getrieben? Warum hab' ich dich verloren, Charlotte?«

      Ein heißer Kampf spiegelte sich in Charlottes Antlitz wider. Sie ging in die dunkelste Ecke des Zimmers. Ach, sie hätte ihn über die Ursache wohl aufklären können, allein sie wollte nicht. Dies war ein heiliger Augenblick. Nichts, was nach Rache aussehen konnte, sollte ans Tageslicht kommen.

      »Lieber Karl Artur, in wenigen Wochen ziehe ich von dannen«, sagte sie. »Schagerström und ich wollen meine Schwester Marie Luise nach Italien begleiten, damit sie Heilung für ihre kranke Brust findet und nicht von ihren Kinderlein wegsterben muß. Vielleicht hat deshalb alles so kommen müssen.«

      Als Charlotte das gesagt, trat sie näher zu dem Manne hin, den sie geliebt hatte, und strich ihm noch einmal mit der Hand übers Haar. »Gottes Geduld hat kein Ende«, sagte sie. »Ich weiß, daß sie nie aufhört.«

      1

      Wer war sie, daß sie zu Glück und Erhöhung vor allen andern Hausiererinnen auserwählt war?

      Allerdings, eines war sicher: sie war sehr gewandt im Geldverdienen und dabei überaus sparsam; nie gab sie einen Heller unnötig aus, und schlau und verschlagen war sie auch; sie konnte die Leute dazu bringen, nicht allein das zu kaufen, was sie brauchten, sondern auch das, was sie nicht brauchten. Aber trotzdem meinte sie nicht, sie habe es verdient, über alle ihre früheren Kameradinnen erhöht zu werden.

      Ja, wer war sie, daß ein hochgestellter Mann die Augen auf sie geworfen hatte?

      Jeden Morgen, wenn sie erwachte, sagte sie zu sich selbst: »'s ist 'n Wunder, jawoll. Ja, 'n Wunder, 'n genauso groß' Wunder wie die in der Bibel, und 's müßt' in der Kirch' verkündigt werden.«

      Zugleich faltete sie die Hände und bildete sich ein, sie sitze in der Kirche. Sie sah die Leute rings um sich her, und ein Pfarrer stand auf der Kanzel. Es war ganz wie in einem gewöhnlichen Gottesdienst, nur daß der Pfarrer einen ungewöhnlichen Text gewählt hatte. Er redete von nichts als von den armen Dalmädchen, die im Lande umherwanderten und Handel trieben und die so vielen Gefahren und Beschwerlichkeiten ausgesetzt seien. Wie jemand, der genau Bescheid weiß, berichtete er, wie schlimm sie in schlechten Räumen untergebracht seien, wie gering der Verdienst sei und wie oft sie sich nicht einen Bissen Essen gönnten, nur um den armseligen Erwerb, den sie nach Hause bringen wollten, nicht noch zu schmälern. Aber jetzt sei der Pfarrer froh, seinen geliebten Zuhörern mitteilen zu können, daß Gott in seiner Gnade sich einer dieser müden Wanderinnen angenommen habe. Sie brauche nun nicht mehr in Wind und Wetter auf den Landstraßen herumzuziehen; sie werde einen Pfarrer heiraten und auf einem Pfarrhof wohnen, wo es Pferd und Kuh, Magd und Knecht gebe.

      Als die Predigt so weit gediehen war, wurde es hell und licht in der Kirche. Alle freuten sich darüber, daß so ein armes Mädchen zu Ehren und Wohlstand kommen sollte. Die, die in der Nähe von Anna Svärd saßen, nickten ihr lächelnd zu.

      Anna Svärd bekam rote Wangen vor Verlegenheit; aber es wurde noch schlimmer, denn jetzt wendete sich der Pfarrer auch noch direkt zu ihr hin und redete sie mit ein paar Worten an: »Wer bist denn du, Anna Svärd, daß du vor allen anderen Hausiererinnen von Dalarne ausgewählt worden bist und so hoch hinaufgestellt wirst? Es ist nicht dein eigenes Verdienst, lauter Gnade und Barmherzigkeit ist es. Bedenk es wohl und vergiß die andern nicht, die sich weiter abschinden müssen, um das nötige Geld zu Kleidern und Kost 'rauszuschlagen.«

      Ja, dieser Pfarrer predigte überaus schön. Anna Svärd wäre am liebsten den ganzen Tag im Bett liegengeblieben, um ihm zuzuhören. Aber als er das von den anderen Mädchen in Dalarne sagte, traten ihr die Tränen in die Augen – sie warf die Decke zurück, falls sie wirklich unter einer Decke lag und nicht nur unter einem alten Sack oder einem verbrauchten Stück von einem alten Bodenläufer, und sprang aus dem Bett. »Dummkopf!« rief sie. »Willst woll greinen und hast dir doch alles selbst z'sammeng'reimt!«

      Das einzige, was sie tun konnte, um den früheren Kolleginnen zu helfen, war, daß sie sich jetzt gleich, mitten im September, auf den Heimweg machte und von den Herbstmärkten, die jetzt da und dort stattfanden, wegblieb. Das war eine Entsagung, aber sie wollte die Jahrmärkte jetzt den alten Nebenbuhlerinnen überlassen. Sie wollte denen nicht im Wege stehen, die sich niemals mit einem wirklichen Herrn verheiraten würden. Dabei dachte sie an die Ris-Karin, die wie sie selbst aus Medstuby war, und an die Annstu-Lisa sowie an viele andere, die mit diesen beiden froh sein würden, wenn sie nicht mit ihnen auf dem Jahrmarkt stand und ihnen die Kunden wegschnappte.

      Wenn sie nun heimkam, ja, dann würde vielleicht kein Mensch begreifen, warum sie so verrückt gewesen war und die Jahrmärkte nicht besucht hatte. Und sie selbst würde auch nicht sagen können, woher das kam. Aber sie fühlte sich gezwungen, etwas für den lieben Gott zu tun, nachdem sie selbst so viel von ihm bekommen hatte. Dagegen lag kein Hindernis vor, daß sie sich, ehe sie Karlstadt verließ, einen neuen Vorrat von Waren anschaffte. Und ebensowenig verbot ihr irgend etwas, in jedes Haus, an dem sie vorbeikam, hineinzugehen, um von ihren Waren loszuschlagen. Wenn aber dann der Handel abgeschlossen war, sie sich auch schon den Ranzen auf den Rücken geschnallt hatte und nun mit der Hand auf der Türklinke zum Gehen bereitstand, konnte sie es nicht lassen, den Kopf nach der Stube zu drehen und von dem Wunder, das ihr widerfahren war, Zeugnis abzulegen.

      »Seid jetzt halt alle mit'nander recht schön bedankt«, sagte sie. »Ich komm' jetzt nimmer, ich heirat' bald.« Wenn ihr dann die Bewohner des Hauses eiligst ein paar Worte der Anteilnahme sagten und fragten, wer denn der Mann sei, den sie bekomme, fuhr sie mit großer Feierlichkeit fort:

      »'s ist 'n Wunder, jawoll, und 's müßt' in der Kirch' verkündigt werd'n. Wer ist denn d' Anna Svärd, daß ihr so 'n Glück passiert? Denkt euch, ich heirat' 'nen Pfarrer und krieg 'nen Pfarrhof mit Pferd und Kuh, Magd und Knecht.«

      Sie war überzeugt, daß die Leute über sie spotteten, wenn sie gegangen war; aber daraus machte sie sich nichts. Sie mußte sich dankbar erzeigen, sonst