Martine Batchelor

Loslassen lernen


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zurückkehrte, fielen mir die letzten beiden edlen Wahrheiten ein: Es kann ein Ende des Begehrens geben, und es gilt den Edlen Achtfachen Pfad zu kultivieren.

      Nachdem die Besucher gegangen waren, fragte mich eine Nonne, die in der Nähe gesessen und die ganze Situation beobachtet hatte, ob ich etwas Seltsames bemerkt hätte. »Seltsames?«, sagte ich.

      »Ja, in deinem Verhalten«, erwiderte sie.

      »In meinem Verhalten?«

      »Ja, du wurdest so wütend, als du bemerkt hast, dass der Mönch deinen Eimer mit den Kaki-Früchten davongetragen hat, während du gerade dabei warst, die Vier Edlen Wahrheiten zu erklären. Das war seltsam.«

      Erst als sie das so sagte, wurde mir bewusst, was ich getan hatte. Ich hatte gedankenlos und blind auf den »Dieb« »meiner« Kaki-Früchte reagiert.

      Ein Verhaltensmuster kann uns so zur Gewohnheit werden, dass wir kaum noch bemerken, zu was es uns treibt. Man fühlt automatisch, denkt automatisch und handelt automatisch. Gefühle, Gedanken und körperliche Empfindungen sind so miteinander verwoben, dass nur schwer zu erkennen ist, welches das automatische Verhalten ausgelöst hat. In solchen Momenten wissen wir vielleicht nur, dass wir uns im Klammergriff eines Verhaltensmusters befinden, das für uns und andere schmerzvolle Folgen hat. Wir verstärken diese Muster oftmals durch unser sich wiederholendes Denken und Fühlen und kommen dadurch zu der Überzeugung, dass wir keine Wahl haben, als so zu sein, wie wir sind. Wie oft denken oder sagen wir, um uns für irgendetwas, das wir getan haben, zu rechtfertigen: »So bin ich einfach. Da kann ich nichts dran machen.« Doch sind wir wirklich so in unseren Gewohnheiten gefangen, wie wir glauben?

      Wenn etwas Unerwartetes geschieht, was tun wir dann? Oft sind wir in dem uns vertrauten Drehbuch gefangen und identifizieren uns damit, aber das muss nicht so sein. Kleine Veränderungen können einen interessanten und entscheidenden Unterschied machen.

      Vor kurzem verbrachte ich einige Stunden damit, ein Manuskript zu korrigieren, und dann löschte ich versehentlich alle Korrekturen, weil ich einen Befehl meines Computerprogramms falsch verstanden hatte. Das Wort »dumm« kam mir sofort in den Sinn. Doch obwohl ich etwas Dummes getan hatte, hieß das nicht, dass ich mich mit der inneren Stimme in meinem Kopf identifizieren musste, die mir sagte, welch dumme Person ich sei. Solche Dinge passieren aufgrund verschiedener Bedingungen und Ursachen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt Zusammentreffen. Doch es wäre falsch, sich mit auch nur einem dieser Umstände zu identifizieren. Es ist leicht und vielleicht auch verführerisch, sich zu sagen: »Ich bin wirklich dumm.« Doch sobald wir uns mit so etwas wie Dummheit identifizieren, fixieren wir uns auf eine enge und unvollständige Wahrnehmung unserer selbst.

       Von Angst gepackt

      »Da ist Angst in meinem Kopf« beschreibt eine Erfahrung. »Ich bin ängstlich« ist der Beginn einer Identifikation mit dieser Erfahrung. »Ich bin ein ängstlicher Mensch« verfestigt die Erfahrung. Zu anderen Zeitpunkten benutzen wir diese Sätze dann vielleicht, um eine ähnliche Erfahrung zu beschreiben. Doch jede erfasst eine für sich allein stehende Wahrnehmung, die wir von uns haben und die uns unterschiedlich empfinden lässt. Je öfter wir solche Sätze wiederholen, desto mehr verdrängen wir diese Wahrnehmung und dieses Gefühl.

      »Wovor habe ich Angst?«, »Woher kommt die Angst?«, »Wer hat Angst?«. Solange wir uns diese Fragen stellen, erhalten wir uns die Möglichkeit, den Ursprung und die Bedingungen der Angst anzuschauen. Das wiederum lässt uns die Dinge anders wahrnehmen und die Identifikation und Erstarrung damit zu reduzieren. Es wird leichter möglich, mit uns selbst auszukommen, wenn wir weniger starre Ansichten darüber besitzen, wer wir sind. Denn sobald wir davon überzeugt sind, dass wir von Natur aus ein ängstlicher Mensch sind, stecken wir fest. Dann können uns die harmlosesten Dinge ängstigen. Es kommt uns dann so vor, als wäre Angst der natürliche Zustand.

      Alle paar Jahre gehe ich nach Südafrika, um Meditation zu lehren. Durch die Bilder und Berichte in den Medien könnte man leicht meinen, dass dies ein sehr gefährliches Land sei. Und tatsächlich ist Südafrika das auch für einige Menschen an einigen Orten. Doch auf all meinen Reisen, die mich durch das ganze Land führten, war ich kein einziges Mal in Gefahr. Dennoch hatte ich in Südafrika große Angst. Warum?

      Nach einer Weile erkannte ich, dass das, was mich in Angst versetzte, nicht die Gegenwart irgendeiner realen Gefahr war, sondern die Angst anderer Leute. Wann immer ich mit Südafrikanern zusammen war, die nervös und ängstlich waren, wurde auch ich nervös und ängstlich. Es war ein ansteckendes Gefühl. Doch war ich mit starken, optimistischen Leuten zusammen, die auch gegen die Apartheid gekämpft hatten, dann hatte ich überhaupt keine Angst. Seitdem strebe ich nach einer Furchtlosigkeit, die ich auch an andere weitergeben kann. Welch größeres Geschenk ist möglich, als sich und anderen geistigen Frieden zu geben?

      Südafrika ist ein ausgezeichneter Ort, um zu lernen, mit Angst umzugehen. Solange ich keine auffälligen oder teuren Dinge trage oder mit mir herumschleppe und solange ich mich angemessen kleide, kann ich sicher sein, alles Nötige gemäß meinen Überlebensinstinkten getan zu haben. Dann kann ich das Leben genießen, wie es gerade kommt. Bei meinen Besuchen sozialer Projekte in den Townships oder meinen Treffen mit Menschen in ihren kleinen, rauchigen Hütten habe ich viel gelernt und erfahren. Ich treffe sie als Menschen, die ihr eigenes Leben führen, die leiden und sich freuen, so wie ich. Ich habe kein bedrohliches, eindimensionales Bild mehr von ihnen im Kopf. Sie sind einfach Menschen wie ich selbst, die versuchen, ein erfülltes Leben inmitten schwieriger Umstände zu führen.

      Manchmal unterrichte ich auch Meditation in einem Männergefängnis in der Nähe von Kapstadt. Die meisten der Insassen, mit denen ich meditiere, sind Mörder oder haben andere Gewaltverbrechen verübt. Aber sie haben meditieren gelernt und praktizieren das sehr fleißig. Die Meditation hilft ihnen, ihre destruktiven Verhaltensmuster klarer zu erkennen und zu verstehen, warum sie da sind, wo sie jetzt sind. Viele von ihnen sehen die Zeit im Gefängnis als Gelegenheit zur persönlichen Veränderung. Sie sind vielleicht im Gefängnis eingesperrt, aber sie müssen nicht das Gefühl zu haben, auch geistig eingesperrt zu sein.

      

       ÜBUNG

       Sich der Gewohnheiten bewusst werden

      Setzen Sie sich mit Papier und Stift an einen Tisch und versuchen Sie, sich einiger Ihrer Gewohnheiten in einer nichtwertenden Weise bewusst zu werden. Bevor wir unsere Gewohnheiten verändern können, müssen wir sie deutlich, in einer neutralen Weise sehen. Wir sind keine schlechten Menschen, weil wir bestimmte Gewohnheiten haben - wir sind nur Menschen. Manche Gewohnheiten sind schön und nützlich, andere sind schmerzlich und destruktiv. Und die meisten Menschen haben von beiden etwas. Menschen, die uns kennen oder die uns nahestehen, haben uns vielleicht bereits auf einige hingewiesen.

      Diese Übung ist eine Einladung, für einige Muster einfach offen und präsent zu sein. Das müssen nicht alle sein. Sie sollen sich nur einiger Muster bewusst werden, sanft, freundlich und, wenn möglich, mit etwas Humor.

      Schreiben Sie zwei positive Gewohnheitsmuster von sich auf, zum Beispiel Freundlichkeit und Aufmerksamkeit. Es ist wichtig, dass Sie Ihre positiven Gewohnheiten ebenso sehen wie Ihre negativen Gewohnheiten.

      Beschreiben Sie eine negative Gewohnheit, vielleicht eine Tendenz zu Ärger oder Ängstlichkeit. Versuchen Sie, unvoreingenommen und freundlich zu sich selbst zu sein. Versuchen Sie, zu sehen, dass Sie nicht immer aus der Gewohnheit heraus handeln, und dass diese Gewohnheit, wie alle anderen auch, aus bestimmten Bedingungen heraus entsteht.

      Wenn Sie in Stille dasitzen, können Sie sich eines gewohnheitsmäßigen Gedankens bewusst werden - eines alltäglichen, häufig wiederkehrenden Gedankens oder einer Geschichte? Werden Sie sich der Gedanken, die sich relativ häufig wiederholen, bewusst. Seien Sie wie ein wissbegieriger Forscher, mit frischem, offenem Geist.

      Spüren Sie ein bestimmtes gewohnheitsmäßiges Gefühl im Brustbereich? Fühlen Sie sich normalerweise freudig, friedvoll, traurig, ärgerlich oder ziemlich okay? Selbst gewohnheitsmäßige Gefühle verändern sich, sie kommen und gehen.