glaubte sie den Duft von gebrannten Mandeln wahrzunehmen. Hörte lautes Lachen und fröhliche Stimmen durch die Carnaby Street hallen, in der sich die Konditorei befand. Viele Menschen schlenderten an den hellerleuchteten Schaufenstern vorbei. Zur Weihnachtszeit war das Einkaufsviertel ein Besuchermagnet. Vor allem Touristen wurden mit vorweihnachtlichen Rabatten hergelockt. Von der Dekoration ganz zu schweigen. Wie in einem geschmacklosen Film schwebten riesige Leuchttafeln über der schneebedeckten Straße. Joy, Hope, Love …
„Hast du nichts zu tun?“, vernahm sie plötzlich die Stimme ihrer Schwester Tiffany.
Unwillig drehte sich Emma zu ihr um und fror auf einmal. Wie mondän ihre dreiunddreißigjährige Schwester im schwarzen Etuikleid aussah. Als wäre sie einem Filmklassiker entstiegen. Neben ihr konnte man sich nur wie das Aschenputtel fühlen. „Schau dich um und frag mich noch einmal“, piepste Emma. In Tiffs Gegenwart versagte ihr ständig die Stimme. Dabei würde es unheimlich guttun, endlich auf den Tisch zu hauen und ihrer Schwester die Meinung ins perfekt geschminkte Gesicht zu brüllen. Etwas, das sie sich tausendmal vorgestellt und genauso oft verworfen hatte. Im Wissen, dass sie gegen Tiff nur verlieren konnte. „Hast du dir schon Gedanken wegen meiner Arbeitszeit gemacht?“, schob Emma mit dünner Stimme nach. Vor einigen Tagen hatte sie sich nach wochenlangem Anlauf dazu durchgerungen, ihre Schwester um kürzere Arbeitszeiten zu bitten. Sie sah ihren Mann Brandon kaum noch. So konnte es nicht weitergehen, denn ein Privatleben kannte Emma mittlerweile nur vom Hörensagen. „Du weißt schon, wegen Brandon und so.“
„Da er ständig auf Geschäftsreise ist, wird er dich nicht sonderlich vermissen. Deswegen sollten wir dieses Gespräch vertagen. Wenigstens bis nach den Feiertagen. Du siehst ja selbst, was Tag für Tag los ist. Die Leute rennen uns die Bude ein.“ Tiff blickte in den kleinen Spiegel neben der Schwingtür und fuhr sich ordnend über das hochgesteckte blonde Haar. An ihren Ohren glänzten auffallende Strass-Ohrringe - sofern es Strass war. Von solchen Dingen hatte Emma keine Ahnung. „Ich habe ein Date mit einem Wirtschaftsmogul und mache jetzt Feierabend.“ Mit einem zufriedenen Lächeln auf den rotschimmernden Lippen wandte sie sich Emma zu. „Der Typ ist zwar steinalt, doch sein Geld macht ihn um einiges jünger.“
„Aber hier steht jede Menge dreckiges Geschirr.“ Emma blickte sich vielsagend in der Backstube um. „Soll ich das wieder alleine spülen?“
„Die Küche ist dein Ressort“, verkündete Tiff ungerührt und schaute sich auf die rotlackierten spitzen Nägel. Sobald einer abbrach, kreischte sie wie eine Tobsüchtige. Das tat sie ebenso mit den Angestellten und Emma, als wären sie alle reihenweise abgebrochene Nägel. Tiff konnte sich nur schwer beherrschen. Besonders an hektischen Tagen wie diesen. „Allerdings habe ich im Gastraum nicht die ganze Arbeit geschafft. Erledige du den Rest, wenn du schon dabei bist.“ Hoch erhobenen Hauptes eilte Tiff auf ihren schwarzen Stilettos aus der Backstube.
Emma starrte auf die heftig schwingende Tür. Hörte das pfeifende Geräusch, das sie verursachte und sank auf den Hocker vor dem Arbeitstisch, auf dem ein paar misslungene Marzipan-Rosen lagen. Misslungen. Genauso fühlte sich ihr Leben an.
Stillschweigend ließ sie alles über sich ergehen. Ob es tatsächlich das Los des typischen Sandwich-Kindes war, dass man ganz unten auf der Liste stand? Sollte sie sich endlich damit abfinden, dass sich daran nie etwas ändern würde? Sie war einfach zu feige, um sich aufzulehnen und würde bis zum bitteren Ende Emma, das Arbeitstier, bleiben. Emma, die Komplizierte. Emma, die es nie so weit bringen würde wie ihre Schwestern.
Tiff war als Erstgeborene scheinbar etwas Besonderes. Sie führte die Geschäfte, seitdem sich ihr Dad vor einem Jahr zur Ruhe gesetzt hatte. Ausgerechnet ihr vertraute er seine Laden-Kette an. Für Emma unfassbar. All die Jahre hatte sie sich förmlich abgestrampelt und ihr Können unter Beweis gestellt. Aber um den Vater stolz zu machen würden hundert Jahre nicht reichen. Dabei hatte sie im Gegensatz zu Tiff das Geschäft von der Pike auf gelernt. Ihre Schwester war Quereinsteigerin, nachdem sie mit ihrem Haute-Couture Laden in Konkurs ging. Tolle Voraussetzungen, doch der Vater hielt an seiner Entscheidung fest.
Und Kim? Sie war drei Jahre jünger als Emma, somit das Nesthäkchen der Familie. Ebenfalls ein Status, der ihr vieles in die Wiege gelegt hatte. Sicher, im Gegensatz zu Tiff und ihr hatte sie studiert und arbeitete tatsächlich als Ärztin. Dank ihres beeindruckenden IQ’s durfte sie sogar eine Klasse überspringen. Als wäre das nicht genug, hatte sie sich einen der begehrtesten Londoner Junggesellen geangelt und Dylan vor fünf Jahr geheiratet. Von ihrer Traumhochzeit hatten die Leute lange gesprochen. Ganz zu schweigen von der feudalen Villa, die ihnen Emmas Dad finanzierte.
Brandon und sie mussten sich das kleine Häuschen in der Nähe ihres Elternhauses dagegen vom Mund absparen. Zwar hatte ihnen der Vater ein klein wenig unter die Arme gegriffen, aber im Vergleich zu ihren Schwestern war die Summe lachhaft gewesen. Nicht, dass es Emma um Geld ging. Letztendlich ließ sich jedoch selbst damit ermessen, wie viel ein Mensch wert war. Im wahrsten Sinne des Wortes. In ihrem Fall hieß das wenig bis gar nichts. Das galt auch für ihre Hochzeit, die sie zwecks Geldmangels nur im engsten Kreis abhalten konnten. Dass ihr Dad sie nicht wie Kim zum Altar führte, hatte sie am meisten getroffen. Ganz zu schweigen davon, dass er beim legendären Ball der Töchter einige Wochen danach den Tochter-Vater-Tanz nur Kim und Tiff zugestand. Als Emma an der Reihe war, klagte er plötzlich über Schmerzen in den Beinen. Eine lapidare Ausrede, wie es in den letzten Jahren oft der Fall gewesen war.
Mit Tränen in den Augen fuhr sich Emma über die heiße Stirn. Es war verletzend und tat weh. Immer wieder. Wie eine Wunde, die nicht heilen wollte. Leider würden ihre Eltern nie verstehen, wie unfair das war. Wie ungeliebt man sich fühlte, wenn man den Geschwistern dabei zusehen musste, wie sie unterstützt wurden. Egal wobei. Und sei es nur, indem man sie zum Altar führe oder mit ihnen tanzte.
„Happy Birthday, Süße.“
Erschrocken wandte sich Emma zum Fenster. Als sie ihre besten Freunde Linda und Grant erblickte, war es um ihre Fassung geschehen. Sie schluchzte auf, während die beiden wie Diebe in die Backstube kletterten. Ehe sie sich’s versah, wurde sie von ihnen in die Arme genommen und hüllte sich nur zu gern in diese Wärme ein. In ihre Freundschaft, die nichts übertreffen konnte. In das Vertrauen und das Wissen, dass es Menschen gab, die sie so mochten wie sie war.
„Was ist los mit dir?“, fragte Linda sanft, die sich gleichzeitig mit Grant von Emma gelöst hatte und ihr forschend in die Augen blickte. „Deine Eltern?“
„Wer sonst?“, erboste sich Grant, der sich an den Arbeitstisch lehnte und die beschlagene Nickelbrille abnahm. Linda blieb in der Hocke und legte ihre kalten Hände auf Emmas, die untätig im Schoß lagen. „Bei Emma kommt pünktlich an ihrem Geburtstag alles hoch. Haben sich Claire und Ben wenigstens bei dir gemeldet?“
„Meine Eltern scheinen Besseres zu tun zu haben“, erwiderte Emma schniefend. Flugs erhob sich Linda, kramte in ihrer Lederhandtasche und reichte ihr ein Taschentuch. Ihre Freundin war stets für alle Eventualitäten gerüstet. Kein Wunder, in ihrer Tasche sah es aus wie in einem Tante Emma Laden. Sogar Schokolade fand sich manchmal in den Untiefen, seit Jahren abgelaufen. Im Beruf war sie hingegen extrem organisiert und fiel durch ihre schillernde Erscheinung auf. Großgewachsen, grellrotes raspelkurzes Haar, meist androgyn gekleidet mit einer Vorliebe für bunten Nagellack und sie hasste Jeans, womit sie ohnehin durch das allgemeine Raster fiel. „Ich habe sowieso nicht damit gerechnet.“ Schon lange gratulierten ihr die Eltern nicht einmal mehr.
„Und ob du das tust“, widersprach Grant, der Emma kannte wie seine Westentasche. „Alle Jahre wieder wartest du darauf.“ Er kratzte sich an der Glatze am Hinterkopf. Unter dem Haarausfall litt er fast genauso wie unter der Verkrümmung seiner Wirbelsäule, die ihm sowohl schlimme Schmerzen als auch viel Häme einbrachte. Grant scheute dennoch jeden Arzt. Dabei redeten Linda und Emma seit geraumer Zeit mit Engelszungen auf ihn ein. Erfolglos. Leider quälte er sich lieber weiterhin, statt sich behandeln zu lassen. „Tut mir leid für dich, Emma.“ Grant legte die Brille und seinen roten Schal auf den Arbeitstisch. Am Schulterbereich seines kobaltblauen Parkas zeichneten sich dunkle Flecken ab.
„Mir tut es leid, dass ich unfähig bin über den Dingen zu stehen. Ihr Armen müsst euch ständig mein Jammern anhören.“ Herzhaft