Marc Chapoutier

Das Geheimnis mentaler Stärke


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      Die eiskalte Luft schlägt mir entgegen, als ich mit meinem Rollstuhl das Krankenhaus verlasse. In der Dunkelheit steuere ich auf eine Baumgruppe auf der Anhöhe vor dem Klinikgebäude zu. Tagsüber hat man von hier oben einen eindrucksvollen Ausblick auf die Bergkette der Alpen. Der ideale Ort für ein letztes Ritual. Vorsichtig erhebe ich mich aus meinem rollenden Gefährt. Auf wackeligen Beinen fällt es mir schwer, das Gleichgewicht zu halten. Mein Blick wandert hinab zu meinen Füßen. Meine Füße, nur noch eine Ansammlung entzündeter Wunden, überdehnter Sehnen und zertrümmerter Knochen. Meine Füße, die so viel aushalten mussten und die trotz allem so lange durchgehalten haben. Jetzt möchte ich mit ihnen noch einmal ein paar Schritte gehen. Während ich unsicher vorwärts wanke, wird mir die enorme Bedeutung dieses Moments bewusst. Das sind sie, die letzten Schritte meines Lebens auf eigenen Beinen. Meine ganz persönliche Form des Abschieds. Ein Abschied ohne Wiederkehr. Getrieben von der Hoffnung auf ein besseres Leben habe ich eine immens schwere Entscheidung getroffen. Die schwerste Entscheidung meines Lebens: Am Valentinstag, morgen früh um sieben Uhr werde ich mir beide Füße amputieren lassen.

      2. Was waren die ersten Anzeichen der Krise? Was hast Du daraufhin getan?

      Mein Leben schien von Anfang an ganz normal zu verlaufen. Zumindest das, was die meisten unter normal verstehen. Normale Familie. Normales Umfeld. Normale Aussichten. Aber was ist schon normal? Wer ist schon normal? Ich musste schon früh lernen, dass es so etwas wie Normalität nicht geben wird.

      Am 3. September 1992 wurde ich als erstes von drei Brüdern im oberbayerischen Ingolstadt geboren. Putzmunter und kerngesund erblickte ich das Licht der Welt. Noch vor meinem ersten Geburtstag konnte ich laufen. Anfangs wackelig und unbeholfen, aber mit umso größerer Begeisterung. Unermüdlich rannte ich im Garten meiner Eltern auf und ab. Früh übt sich schließlich. Meine Leidenschaft für das Laufen zeichnete sich damals schon deutlich ab. Ein Gefühl von Freiheit und Lebensfreude. Bald sollte sich mein Leben urplötzlich komplett verändern. Noch bevor es richtig begonnen hat.

      3. Wann stand sie fest? War sie abzusehen oder kam die Krise aus heiterem Himmel?

      Am 19. Oktober 1994 hielt ich im Alter von zwei Jahren einen Mittagsschlaf. Als ich mich schlafen legte, war ich kerngesund. Als ich wieder aufwachte, war ich querschnittsgelähmt. Wie aus heiterem Himmel. Ich konnte meine Füße weder spüren noch bewegen. Ein Schockmoment für meine Eltern. Hier war etwas gewaltig schiefgelaufen. Aber was? Es gab keinerlei Anzeichen, die diese Erkrankung angekündigt hätten.

      Die Ärzte im Krankenhaus waren ratlos. So ratlos, dass sie sich sogar darum stritten, um welche Krankheit es sich handle. Die Lähmung stieg weiter in meinem Körper hinauf. Schließlich konnte ich nicht einmal mehr frei sitzen. Ohne Stütze bin ich einfach umgekippt. Dann die erste Diagnose: Ein Tumor im Rückenmark. Mir wurde eine Restlebenszeit von einem Jahr prognostiziert. Eine Prognose, die keine Mutter und kein Vater dieser Welt hören wollen. Da liegt Dein Kind urplötzlich schwer krank vor dir. Niemand kann Dir sagen, warum. Du aber musst tatenlos zusehen, wie sich die Lähmung weiter ausbreitet.

      Zu meinem großen Glück sind Ärzte auch nur Menschen. Und Menschen machen Fehler. Nach drei Tagen ging die Lähmung wieder zurück. Langsam konnte ich wieder eigenständig sitzen. Was blieb, war die fehlende Sensorik und Motorik unterhalb meiner Knie. Bis heute blieb dieser Zustand stabil. Der Tumor im Rückenmark stellte sich als Fehldiagnose heraus. Die neue Diagnose: Guillain-Barré-Syndrom. Eine entzündliche Erkrankung des peripheren Nervensystems. Den Grund für diese Erkrankung konnte mir bis heute niemand nennen. Am Ende ist der Grund für mich völlig bedeutungslos.

      4. Wie bist Du damit umgegangen? Was waren Deine ersten Gedanken und darauf folgenden Taten? Vor welchen Herausforderungen standest Du? Wie hast Du Dich gefühlt?

      Eigentlich könnte ich einen Krankenhaus-Ratgeber herausgeben. So viele Kliniken in ganz Bayern habe ich schon besucht. Meine Eltern und ich ließen nichts unversucht, um meine Erkrankung zu heilen. Um besser gehen zu können, wurden mir Orthesen angefertigt. Schienen, wie sie auch der junge Forest Gump im gleichnamigen Film bekommt. Mit dieser Gehhilfe konnte ich mich nie wirklich anfreunden. Ich träumte davon, schöne Schuhe tragen zu können. Wieder ganz normal laufen zu können. Ein Leben ohne Schmerzen. Ein Leben ohne Hindernisse und Blockaden. Ein Leben ohne Handicap. Ich träumte von einem Leben in Freiheit.

      In der Grundschule wurde ich häufig gemobbt. Sportlich konnte ich mit meinen Mitschülern nicht mithalten. Völlig klar. Die waren alle gesund und ich schleppte mein Handicap mit mir herum. Wie eine schwere Last. Eine enorme Belastung. Je älter ich wurde, desto heftiger wurde mein emotionaler Kampf gegen mich selbst. Immer tiefer zog es mich in den Sumpf des Selbstmitleids hinab. Alles drehte sich nur noch um mich selbst. Um mich und mein grausames Handicap. Warum ich? Hätte es nicht jemand anderes treffen können? Was habe ich falsch gemacht? Diese selbstzerstörerischen Fragen brachten mich an den Rand des Selbstmords. Schlimmer ging es nicht mehr. Davon war ich überzeugt. Was ich damals noch nicht wusste: Ich lag falsch. Es ging schlimmer. Viel schlimmer.

      5. Welche Entscheidungen hast Du auf Grund dessen getroffen?

      Ich war 15 Jahre alt, als sich mein Leben erneut radikal ändern sollte. Plötzlich trank ich enorm viel Wasser. Nicht weil ich mich dazu entschieden habe. Nein. Ich hatte einfach enormen Durst. Als ich meine tägliche Trinkmenge notierte, war ich geschockt. Fast zehn Liter Wasser trank ich jeden Tag. Das konnte nicht normal sein. Und das war es auch nicht. Ich musste sofort ins Krankenhaus. Wieder einmal. Den Ärzten war sofort der Ernst der Lage bewusst. Der Anfangsverdacht auf Diabetes bestätigte sich nicht. Es war schlimmer. Ich hatte eine starke Nierenfunktionsstörung. Eine unerwartete Spätfolge meiner Erkrankung. Mein Blutdruck war astronomisch hoch. Meine Nieren kurz vor dem Kollaps. Kaum mehr in der Lage, meinen Körper ausreichend zu entgiften. Die Chancen auf Rettung meiner Nieren standen schlecht. Wieder einmal stand mein Leben auf Messers Schneide. Wieder einmal hatte ich großes Glück. Nach drei Tagen im Krankenhaus war klar: Meine Nieren hatten gerade noch die Kurve gekratzt. Langsam erholte sich mein Körper von der Belastung. Ein Leben an der Dialyse blieb mir erspart.

      Nach vier Wochen durfte ich die Klinik wieder verlassen. Zu Hause angekommen, hatte ich eine Entscheidung getroffen: Ich werde etwas ändern. Mein Start in die Persönlichkeits-entwicklung. Ich begann, viel zu lesen und auszuprobieren. Langsam ging es mir besser. Ich schöpfte mehr und mehr Zuversicht. Zuversicht, mein Leben in den Griff zu bekommen. Zuversicht, mich und mein Handicap akzeptieren zu lernen. Zuversicht, meinen Traum von der Freiheit zu verwirklichen.

      Viele Jahre und hunderte Bücher später hatte ich gewaltige Fortschritte gemacht. Meine Erkrankung war immer noch vorhanden. Doch meine Behinderung hatte kaum noch emotionalen Einfluss auf mich. Während ich meine Realität immer mehr akzeptieren lernte, ging es mir körperlich aber immer schlechter. Das fehlende Schmerzempfinden in meinen Füßen bereitete mir weitreichende Probleme. Zertrümmerte Sprunggelenke, chronisch entzündete Wunden und gerissene Sehnen waren die Folge. Jahrelang musste mein Körper mit diesen schweren Verletzungen kämpfen. Mein Lymphsystem war völlig überlastet. Starke Schmerzen strahlten in Knie und Oberschenkel aus. Am Ende waren meine Füße kaum noch als solche zu erkennen. Mit 24 traf ich dann eine unfassbar schwere Entscheidung. Die schwerste Entscheidung meines Lebens.

      Am 14. Februar 2017 war es so weit. Valentinstag. Lange hatte ich mich mental und emotional auf diesen großen Tag vorbereitet. In der Unfallklinik Murnau ließ ich mir an diesem Morgen beide Füße amputieren. Gegen den Rat der meisten Ärzte. Niemand konnte mir prognostizieren, wie dieses gewaltige Wagnis ausgehen würde. Niemand konnte mir garantieren, ob ich danach je wieder laufen könne. Mir war nur eines wichtig: Dies war meine alleinige Entscheidung. Ich würde die volle Verantwortung für diesen großen Schritt ins Ungewisse tragen. Egal, wo es mich am Ende hinführen würde. Befeuert von meinem unverwüstlichen Traum eines besseren und freieren Lebens.

      6. Wie hat sich Dein Leben verändern? Wie hat sich Dein Umfeld verändert?

      136 Tage nach der Amputation habe ich meinen ersten 10-km-Lauf auf meinen