Mark Prayon

Katakomben


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seine Bartstoppeln. Hatte er zugenommen? Wenn, dann nur ein wenig. Sein Sixpack war, zumindest ansatzweise, noch vorhanden.

      Die Kathedrale St. Michel war in ein mattes Licht getaucht. Nichts deutete darauf hin, dass irgendwas anders war, als an jedem anderen Tag. Der kleine, mit dünnen Bäumen bepflanzte Park, der vor der Kirche lag, war beinahe menschenleer. Nur ein Clochard hielt sich in der Nähe des Gotteshauses auf, drei Stunden hatte er auf einer Bank gelegen. Es war der 25. November, der erste Advent kündigte sich an. Seit Tagen regnete es in der Stadt, die Temperaturen hatten stark angezogen.

      Der Stadtstreicher hatte vor einer Weile damit begonnen, eine Flasche mit billigem Wodka zu leeren und war dabei eingeschlafen. Der Nieselregen wurde jetzt stärker. Der Alte hatte sich in eine dicke zu große Tarnjacke gewickelt, wie man sie beim Militär hat, dazu trug er eine schmutzige lilafarbene Hose, die grotesk aussah. Die dünne Decke, die er bis ins Gesicht gezogen hatte, war längst zu einem kalten nassen Lappen geworden. Plötzlich drang ein Knall durch die ruhige Nacht, so, als hätte jemand eine Autotüre zugeschlagen, aber es klang heftiger. Es war ein blechernes Geräusch, auf das sich der Penner keinen Reim machen konnte. Er hörte, wie ein Wagen beschleunigte. Das war kein gängiger Benzinmotor, eher schon ein Diesel. Der Alte wunderte sich über den Lärm, denn er wusste, dass der Bereich vor der Kirche für Autos gesperrt war. Dann wurde es still. Mit seiner zittrigen Hand riss der Obdachlose den wasserdurchtränkten Fetzen beiseite, stand auf und taumelte ein paar Meter durch den Regen.

      Es dauerte eine Weile, bis er es schaffte, sich zu orientieren. Der Mann hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten, stolperte mehr in Richtung der Kirchentreppen, als dass er lief. Es ärgerte ihn, dass die Beine nicht gehorchen wollten. Nun stand er vor den schmalen Stufen, die ihm unendlich vorkamen. Er hatte noch immer Probleme, die Balance zu halten, immer wieder kippte er nach vorn. Sein Magen fing an zu rebellieren. Der Mann stützte sich mit seinen erfrorenen Händen auf einer Stufe ab, dann kotzte er den Wodka und das bisschen Linsensuppe auf seine rissigen Hände, die von der Kälte bläulich schimmerten.

      Der Clochard war zäh, und an den Gestank von Erbrochenem hatte er sich in den Jahren auf der Straße gewöhnt. Langsam aber zielstrebig tapste er die Stufen hinauf. Auf der Hälfte verließen ihn die Kräfte, die Knie zitterten auf dem kalten Stein. Dieses Scheiß Rheuma, dachte er. Er richtete seinen Blick nach oben und sah durch die Bindfäden, dass etwas vor dem Eingang der Kirche lag. Was es war, blieb ihm verborgen - seine müden Augen kämpften mühsam gegen das künstliche Licht und die feinen Tropfen. Der Mann holte tief Luft und schaffte es auf allen Vieren bis an die Pforte. Mit dem Ärmel wischte er sich das Nass aus den brennenden Augen und blickte auf ein Mädchen, das hilflos auf dem Rücken lag. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihre Miene ein einziger Hilfeschrei.

      Der Clochard erhob sich, während er das Mädchen fixierte. „Was ist mit ihnen?“, lallte er. Keine Reaktion. Der Alte schüttelte sich, in der Hoffnung so seine betäubten Sinne schärfen zu können. Er legte seine kräftigen Arme um den Körper der jungen Frau und rüttelte sie so heftig er konnte. Der Vagabund war auf einmal wieder ganz klar. Sein Magen zog sich zusammen, als er begriff, dass das Mädchen tot war.

      Das blasse, ungeschminkte Gesicht der jungen Frau war zu einer schiefen Grimasse verzerrt, aber der Clochard sah, dass sie unglaublich schön war. Er fixierte ihre braunen sanften Augen und die makellose weiche Haut. Er schätzte sie auf achtzehn oder neunzehn Jahre. Was sie anhatte, erschien ihm merkwürdig, nicht nur, weil es viel zu dünn war für die Jahreszeit. Die junge Frau trug einen weißen Umhang, der einem Nachthemd ähnelte, sonst nichts. Ihre dunklen Haare waren streng zu einem Zopf zusammengebunden. Ihm wurde speiübel, er kotzte die Reste, die er noch im Magen hatte, neben die Pforte.

      Keine Menschenseele verlor sich auf dem Boulevard de Berlaimont, der direkt an der Kathedrale vorbeiführte. Der patschnasse Alte ging langsam die Stufen herunter. Er vernahm den Dieselmotor eines Autos, das sich mit zügiger Geschwindigkeit näherte. Es war ein Taxi, das in Richtung De Brouckére unterwegs war. Der Clochard sprang auf die Straße, ruderte wild mit den Armen und stellte sich dem heranbrausenden Fahrzeug beschwörend in den Weg. Der Fahrer stieg kräftig in die Eisen und stoppte wenige Zentimeter vor den zittrigen Knien des Hilfesuchenden. Der Chauffeur, ein fast kahler Türke in den Dreißigern, riss die Türe auf und trat auf den nassen Asphalt. Der Fahrer brüllte die traurige Gestalt an, schrie etwas von irre und bescheuert. Der Penner deutete wortlos zur Kirche.

      Van den Berg zuckte kurz zusammen, als sein Handy schellte - jetzt wurde ihm klar, wie übernächtigt er war. Am Klingelton erkannte er, dass der Anruf aus dem Präsidium kam. Wenn die Kollegen dran waren, warnte ihn die Titelmelodie der „Bourne“-Reihe, bei allen anderen Anrufern erklang ein beruhigender altmodischer Ring-Ring.

      Eric Deflandre war dran. „Was gibt’s denn?“, fragte van den Berg gereizt. „Ein totes Mädchen“, antwortete der junge Polizist gehetzt. „Na, klasse!“ Van den Berg sparte sich langes Nachfragen und beeilte sich. Im Bad bearbeitete er seinen kräftigen Schopf mit einem Spezialwachs, das dafür garantierte, dass seine Haare ein wenig abstanden. Er zog ein eng sitzendes schwarzes T-Shirt aus dem Schrank und nahm eine dazu passende Lederjacke vom Sofa, die einen leichten Biker-Touch hatte. Keine fünf Minuten später saß der Polizist in seinem MG Cabrio, Typ MGB, Baujahr 84, und raste die Rue de la Loi hinauf zur Kathedrale St. Michel.

      Zur gleichen Zeit bahnte sich ein schwarzer BMW den Weg durch den Wald. Andere hätten Mühe gehabt, das Anwesen zu entdecken, uralte Eichen und Tannen reichten dicht an die imposante Villa heran. Die schmalen kurvigen Wege waren schlecht asphaltiert und erschwerten die Orientierung, zumal sie immer nur ein Stück weit einzusehen waren. Der Fahrer, der sich in dieser Nacht auf das dunkle Haus zu bewegte, kannte die Strecke. Zielstrebig raste er den Weg bis zum Hauptportal des alten Bauwerks.

      Als der Mann aus seinem Fahrzeug stieg, wurde es hell. Selbst aus der Nähe waren die Konturen des Gebäudes nur schemenhaft zu erkennen, so dicht standen die Bäume. Der Besucher war Mitte 30 und wirkte gediegen in seinem dunkelgrauen Kaschmirmantel. Die schwere schmiedeeiserne Tür öffnete sich und fiel überraschend leise ins Schloss, nachdem der Besucher eingetreten war.

      „Sie werden erwartet, Monsieur Hugo“, sagte der kleine unscheinbare Mann, der im Entree gewartet hatte, mit ausgesuchter Höflichkeit.

      Hugo verzichtete darauf, seinen Mantel abzulegen und eilte am Butler vorbei die breite Holztreppe hinauf. Im ersten Stock befand sich ein weitläufiger Raum, der sich fast über die gesamte Etage erstreckte. An den Wänden hingen alte Ölbilder und Zeichnungen. Einige von ihnen zeigten Wappen, die auf Papier oder Stoff geprägt waren. Im Raum standen schwere Eichenmöbel und herrschaftliche alte Sofas. In der Mitte des ovalen Zimmers wartete ein Mann, der Anfang 60 war. Er machte ein paar Schritte auf den Besucher zu. „Es gibt ein Problem“, sagte Hugo. Dabei wanderten seine Augen unruhig hin und her. Er bemerkte sofort, dass sich der Blick des anderen verfinsterte.

      Van den Berg nahm seine coole schwarze Beanie vom Beifahrersitz, zog sie über sein Haar und trabte den kurzen Weg zur Kathedrale. Es regnete noch immer. Deflandre kniete völlig durchnässt bei dem toten Mädchen.

      Van den Berg beugte sich zu der Leiche herunter. Sein Blick fiel auf das Nachthemd, das die grazile Figur des Mädchens betonte. „Ein schönes Mädchen“, flüsterte er wie in Trance. Der Kommissar wandte seinen Blick von der Toten ab und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Ein Sexualverbrechen, soviel war wohl klar. „Der Penner da drüben hat sie gefunden“, unterbrach ihn Deflandre und deutete auf den Clochard, der zerstreut in seinen Plastiktüten kramte.

      Van den Berg hatte in seiner Polizeilaufbahn schon viele Leichen gesehen, die meisten ließen ihn kalt. Aber dieses tote Mädchen hier rührte ihn von der ersten Sekunde an, so sehr, dass es ihm schwerfiel, klar zu denken. Der Anblick dieses toten Engels schnürte seinen Hals zu, er zwang sich, tief Luft zu holen. Ein paar Meter weiter hockte Thomas Verschacht mit einem Notizblock in der Hand. Der Polizeiarzt winkte van den Berg zu sich. „Ich kann dir noch nichts sagen“, sagte er ernst. Das faltige Gesicht des Mediziners schien eingefroren. „Eine schöne Scheiße ist das. Äußerlich ist sie unversehrt, jedenfalls soweit ich das bis jetzt sehen kann.“ Das Mädchen lag noch immer auf dem Rücken, den Kopf zur Seite gedreht, so wie sie der Clochard gefunden hatte. „Beeil dich, ich brauche Informationen“, fuhr van