Mark Prayon

Katakomben


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wieder mal im Ton vergriffen hatte.

      Das Mädchen war ungewöhnlich schön. Van den Berg betrachtete ihre weichen Gesichtszüge, die rehbraunen Augen, die zarte Figur. Er konnte jetzt nicht viel tun, erstmal waren die Pathologen dran. Und die Kollegen mussten herausfinden, wer die Tote war. Er fühlte sich wie ein Wasserkühler, der zu heiß gelaufen war. Es war definitiv das Beste, nach Hause zu fahren.

      „Da ist noch etwas“, rief ihm Verschacht zu, als er auf dem Weg zum Wagen war. „Sie ist sozusagen tätowiert.“ Der Mediziner hob den Arm des Mädchens an und drehte ihn so, dass van den Berg das Zeichen sehen konnte. Auf der Innenseite war ein Kreis eingebrannt. Exakt in dessen Mitte befand sich eine Zahl: die Acht. „Ein eigenwilliges Motiv für ein Mädchen“, bemerkte van den Berg fragend. „Was ist heute schon noch eigenwillig? Manche lassen sich einen Totenkopf stechen oder die Schamlippen piercen“, erwiderte Deflandre grinsend. „Da ist so was doch ziemlich normal.“ „Normal ist das hier sicher nicht - das ist keine Tätowierung, das ist ein Brandmal“, widersprach der Arzt entschieden.

      Van den Berg war das Teil gleich komisch vorgekommen. „Ein Brandmal also, so was verpasst man doch normalerweise nur Tieren …“ „Bei Pferden werden Brandzeichen gesetzt, zum Beispiel, um die Rasse zu markieren“, erklärte Verschacht. Van den Berg konnte sich keinen Reim darauf machen. In seinem Gesicht spiegelten sich gleichermaßen Ekel und Ratlosigkeit wider - er wollte nur noch weg.

      Der Kommissar verabschiedete sich eilig von seinen Kollegen, aber nicht ohne ihm vorher noch einmal einzubläuen, schnell Ergebnisse zu liefern. Als er die Chaussée d´Ixelles entlangfuhr, schossen ihm tausend Gedanken durch den Kopf. Als er an Marie dachte, war er wieder auf 180.

      Es war kurz nach Mitternacht. Vor den meisten Fenstern in der Rue de la Prairie am Gare du Nord waren die Rollläden bereits heruntergelassen. Nur wenige Huren warteten noch auf Kundschaft. Wenn um diese Zeit Freier in die schmuddeligen Straßen hinter dem Bahnhof kamen, dann waren es meist Männer, die aus den Kneipen am belebten „De Brouckére“ herüber schlenderten.

      Die Gegend war ziemlich heruntergekommen, auf den Bürgersteigen waren Kondome und Bierdosen verstreut. An der Ecke standen zwei Gestalten, denen man von weitem ansehen konnte, dass sie nichts Gutes im Schilde führten. Ein älteres Touristenpaar aus Dänemark, das in der Gegend ziemlich fehl am Platz wirkte, winkte hektisch nach einem Taxi. An einem der Fenster hing die Jalousie auf halber Höhe, das Zimmer war leer. An der Scheibe klebte ein alter Zettel mit einem Foto: „Vermisst! Dorothee Lerisse.“

      Der schwarze BMW bahnte sich zügig den Weg zurück durch den Wald. Hugo warf einen Blick auf das Stück Papier, das ihm der Mann gegeben hatte. Auf dem Blatt fanden sich handschriftliche Notizen, die in einer Art Tabelle geordnet waren.

      Hugo schloss die Wohnungstür auf, warf den Mantel über das italienische Ledersofa, nahm sich einen Martini Bianco aus der Bar und gab zwei Eiswürfel dazu. Er lächelte, als er sich auf einen der schweren Sessel fallen ließ. Der elegante Mann ließ seinen Zeigefinger zärtlich über den goldenen Ring kreisen, der eine dezente Gravur trug, die eine Flamme darstellte. Hugos Wohnung war beinahe steril, die Regale leer und die strahlend weißen Wände völlig nackt. Die Einrichtung entsprach der eines repräsentativen Büros, modern und auf das Wesentliche reduziert. Während Hugo an seinem Glas nippte, studierte er aufmerksam die Liste, in der ein Dutzend Mädchennamen aufgeführt waren.

      Wie immer sah er aus wie aus dem Ei gepellt: olivfarbener eleganter Anzug, graues Seidenhemd, teure Schuhe – alles nach Maß gefertigt. Entschlossen griff er nach seinem Notebook. Eigentlich hatte er für moderne Kommunikationsmittel nicht viel übrig, aber man konnte halt nur schlecht auf sie verzichten. Der Computer stand neben einem ultraflachen Smartphone auf dem frisch polierten Glastisch. Wichtige Dinge besprach Hugo nicht am Telefon. Seine Angst, abgehört zu werden, war zu groß, auch wenn es keinerlei Anhaltspunkte dafür gab, dass man ihn schon einmal angezapft hatte. Hugos E-Mail bestand aus nur einem einzigen Satz. „Morgen, 20 Uhr.“

      Van den Berg hatte in der Nacht wieder nicht viel geschlafen. Um acht Uhr saß er in seiner großen, geschmackvoll eingerichteten Altbauküche und schob zwei Scheiben Weißbrot in den schicken Toaster. Er hatte die Elektrogeräte vor ein paar Jahren günstig bei einem Lagerverkauf erworben. Die modernen weißen Einbauelemente hatte er geschickt mit alten provenzalischen Schränken und einem massiven Holztisch kombiniert.

      Er überlegte, ob er rausgehen und sein Frühstück bei Renard holen sollte. Das Traditionsgeschäft an der Chaussee d`Ixelles hatte den Ruf, die besten Torten und das feinste Gebäck in Ixelles herzustellen. An diesem Morgen konnte sich der Kommissar nicht dazu aufraffen. Verbissen knabberte er an trockenen Toastscheiben und spülte sie mit Kaffee herunter, den er schwarz mit ein wenig Zucker trank. Der Polizist ließ sich auf das alte Chesterfieldsofa fallen und legte die Smiths auf: „Bigmouth Strikes Again“.

      Er dachte zurück an die wilden Achtziger, in denen er mit seinen Freunden durch die Straßen Gents gezogen war. Nie im Leben hätte er damals daran gedacht, Polizist zu werden. Auf Gesetze hatten er und seine Kumpels gepfiffen. Sie kifften so oft es ging und sie sprühten Graffiti mit den Namen ihrer Lieblingsbands an graue Fabrikmauern. Nachts fuhren sie zugedröhnt und ziellos durch die Gegend.

      Der Dienst bei der Armee hatte van den Berg gründlich umgekrempelt. Da hatte er sich vorgenommen, sein Leben zu ändern, Gas zu geben. Und er wollte Macht haben. Als Polizist konnte er die Hebel bewegen, wie es ihm beliebte, wenn er böse Jungs jagte. Aber er musste sich unterordnen, was er hasste. In seinen ersten Jahren bei der Polizei war er regelmäßig mit seinen Vorgesetzten aneinandergeraten. Aber er hatte mächtige Fürsprecher im Präsidium, die sein kriminalistisches Talent erkannten und ihn förderten.

       Vor allem Henk Wouters, ein Kommissar der alten Schule, hatte van den Berg nach Kräften gefördert, auch wenn der ihm immer eine Spur zu eitel war. Keiner der anderen jungen Polizisten hatte van den Bergs Spürnase und schon gar nicht dessen Willen. Mittlerweile ließ sich van den Berg nicht mehr herumkommandieren. Er fand immer irgendeinen Weg, seinen Kopf durchzusetzen. Was hatten ihn die Schreiberlinge von den bluttriefenden Boulevardblättern genervt, die keine Gelegenheit ungenutzt ließen, ihn zu einem Versager zu stempeln. Denn er weigerte sich, mit ihnen zu kooperieren. Die langatmigen Diskussionen mit Kollegen und Staatsanwälten hatten ihn beinahe zermürbt. Doch inzwischen kannte er die Spielregeln. Er wusste, wie er alle nach seiner Pfeife tanzen lassen konnte.

      Vor drei Jahren hatte van den Berg zum letzten Mal großen Ärger bekommen, als er bei einem Verhör nach einer sehr speziellen Methode vorging. Eine ganze Nacht lang hatte er den Mordverdächtigen mit grellen Scheinwerfern geblendet. Das so erreichte Geständnis hatte das Gericht nicht zugelassen und der Kommissar musste es sich gefallen lassen, dass ihn der Polizeipräsident verbal in den Boden rammte. Seitdem war er wachsam und überschritt die hausinternen Grenzen nur noch dann, wenn man ihm nichts nachweisen konnte.

      Das tote Mädchen weckte seine Kampfeslust, während er auf die Straße herunterschaute. Amüsiert beobachtete er eine junge Frau, die versuchte, ihren alten VW-Golf in eine Parklücke zu manövrieren und nach fünf Versuchen entnervt aufgab. Van den Berg schlüpfte in ein khakifarbenes T-Shirt, nahm seine braune Kapuzenlederjacke vom Sofa und sprang in seinen MG. Er trug fast immer Bluejeans, seine 44er-Füße steckten wahlweise in schwarzen Sneakers oder rustikalen braunen Lederschuhen.

      2

      Im Kommissariat wartete man schon. Auf dem Schreibtisch lag ein Zettel seines Kollegen, der den Kommissar in Großbuchstaben aufforderte, sich schnell bei ihm zu melden. Eric Deflandre stammte wie van den Berg aus Flandern, allerdings nicht aus Gent, sondern Antwerpen. Er war im Gegensatz zu seinem Partner ein leidenschaftlicher Frühaufsteher und schon seit zwei Stunden eifrig bei der Arbeit.

      Der junge Polizist war bei den Kollegen anfangs als Streber verschrien, als Besserwisser, als Neunmalkluger. Seine dunklen Haare trug er vorn und an den Seiten kurz, dafür aber bis in den Nacken, zudem hatte er ein Faible für auffällige Goldkettchen. Deflandre wusste von den Frotzeleien seiner Kollegen und war clever genug, cool zu bleiben.

       Van den Berg hatte ihm ein paar Mal tüchtig den Kopf gewaschen. Mittlerweile zeigte