Mark Prayon

Katakomben


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schon ein Täterprofil erstellen?“ „Klar, sofort, bis ins letzte Detail“, meinte Nicole, während sie eine doofe Grimasse zog.

       Van den Berg setzte einen entschuldigenden Blick auf. Sie zog ein Notizbuch aus der Tasche und schrieb einige Stichworte hinein. „Eines ist dir sicher schon aufgefallen: Unser Mann steht auf junge Mädchen - wahllos hat er sie nicht ausgesucht, so wie er die hergestylt hat. Er hatte Sex mit ihr, bevor er sie umgebracht hat. Normalerweise töten Sexualtäter, um Spuren zu verwischen oder weil sie in Panik geraten. Das hier ist das Gegenteil. Er präsentiert das Mädchen wie eine Trophäe.

      Die Frage ist, warum er sie umgebracht hat und dazu noch mit diesem Teufelszeug.“ Der Kommissar lauschte konzentriert. „Vielleicht hat der Typ einen Hass auf junge Frauen, zum Beispiel, weil er gekränkt worden ist.“ Van den Berg hob zweifelnd die Hände. „Das erklärt aber nicht, warum er das Mädchen vor der Kirche abgelegt hat.“ „Der Mann sucht die Öffentlichkeit - wahrscheinlich hat er ein starkes Geltungsbedürfnis. Vielleicht ist das ein religiöser Fanatiker, einer der Opfer bringt.“ „Ist das nicht ein bisschen weit hergeholt?“ „Natürlich ist es das. Das sind reine Hypothesen. Ich brauche einfach mehr Informationen – du bist am Zug“, sagte Nicole und blickte van den Berg herausfordernd in die Augen. „Was soll das mit dem Brandmal?“ „Spricht dafür, dass er gerne Mädchen quält –muss höllisch wehtun, so ein heißes Eisen im Fleisch zu haben.“

      Van den Berg stand nicht nur auf Nicole, weil sie so hübsch war. Genauso mochte er ihren messerscharfen Verstand und ihre Art, ohne Umschweife auf den Punkt zu kommen. „Du sprichst immer von „er“. Bist du sicher, dass „er“ keine Frau ist?“ „Ein zierliches hübsches Mädchen, das Nachthemd – für mich ganz klar eine männliche Handschrift.“ „Keine hohe Meinung, die du von uns Männern hast.“ „Findest du, ich hätte Grund dazu?“ Die beiden lachten. „Kannst du dir einen Reim auf die 8 machen?“ „Wahrscheinlich hat die Zahl weniger mit dem Opfer als mit dem Mörder zu tun. Die 8 ist die Zahl mit der größten Ästhetik – sie strahlt Harmonie aus.“ Van den Berg schaute Nicole skeptisch an. „Vor allem ist die 8 eine heilige Zahl – das ist sie übrigens in vielen Religionen. Im Christentum steht die 8 für Neubeginn.“ „Für Neubeginn? Hoffentlich nicht für den Beginn einer Mordserie. Das wäre das Letzte, was wir gebrauchen können.“

      „Du weißt, dass ich gerne rum spinne, aber für eine fundierte Analyse dieses Brandmals haben wir einfach zu wenig Anhaltspunkte“, sagte Nicole ernst. „Verfluchte Scheiße, das passt mir alles überhaupt nicht. Ich glaube, wir werden uns an dieser Geschichte richtig die Zähne ausbeißen.“ Van den Berg ging zum Fenster und starrte in den Hof. Beide schwiegen und dachten noch eine ganze Weile nach. Dann hatte van den Berg genug. „Wir machen morgen weiter“. Der Kommissar brachte Nicole zur Tür und schaute ihr noch eine Weile nach, während sie den langen Gang entlanglief. Dann blickte er in den Spiegel, der an seiner Bürotür hing, und richtete seine Haare. Er sah viel jünger aus als 45, und das wusste er auch.

      Nicoles Persönlichkeit hatte viele Facetten. Sie kam aus einem streng katholischen Elternhaus, ihre Schulzeit verbrachte sie größtenteils in einem Brüsseler Eliteinternat. Ihr Leben änderte sich schlagartig, als sie das Studium in die großen Metropolen brachte – sie verlor ihre Naivität und lernte die Spielregeln des Erfolges. An der Sorbonne begann Nicole, sich für Geschichte, Philosophie und moderne Kunst zu interessieren. Sie legte sich einen stattlichen Bekanntenkreis zu, mit Universitätsprofessoren, Künstlern, Managern und Musikern. Die meisten Kontakte waren oberflächlich – niemand wusste, wie Nicole wirklich tickte.

      Dass die junge Frau nicht nur schön, sondern auch mit großer Intelligenz gesegnet war, erkannten die Menschen, die sie kennenlernten, schon nach kurzer Zeit. Aber das war schon das Einzige, das sie begriffen.

      Nicoles herausstechende Eigenschaft war ihr Ehrgeiz. Schon in der Schule wollte sie immer die Beste sein und in der Regel erreichte sie das mit beeindruckender Leichtigkeit. Sie war so charmant, dass sie die Menschen blitzschnell um den Finger wickeln konnte. In Paris und Barcelona sprengte sie die Ketten, die ihr die Eltern angelegt hatten. Sie umgab sich mit Männern, die ihr die Eltern garantiert verboten hätten. Nicole stürzte sich in Affären und holte das nach, was ihr in den Jahren zu Hause verwehrt geblieben war. Manche Liaison drang bis in Nicoles vornehmes Brüsseler Elternhaus. Die Beziehung zu ihrem Vater bekam dadurch tiefe Risse.

      „Also wenn ihr mich fragt, haben wir es mit einem Geistesgestörten zu tun“, rief van den Berg den Kollegen zu, die ihn im Sitzungszimmer erwarteten. Aber was ist schon geistesgestört, fragte er sich im gleichen Moment. Die anderen Polizisten signalisierten mit ihrem synchronen Nicken, dass sie im gleichen Moment exakt die gleiche Erkenntnis hatten. Allein Nicole signalisierte Skepsis. Van den Berg war klar, dass sie ihre Gedanken ebenso wenig in der Gruppe diskutieren wollte, wie er. „Frank und Robby, ihr geht sämtliche Tötungsdelikte in Brüssel der letzten fünf Jahre durch. Nehmt euch vor allem die Sachen vor, die richtig krank sind. Schaut, ob ihr irgendwelche Sachen findet, die mit Kirchen zu tun haben. Und die Tötungsdelikte, bei denen Gift im Spiel ist. Dann brauchen wir schnellstens eine Liste mit den Leuten, die infrage kommen, vor allem mit vorbestraften Jungs, die draußen rumlaufen. Und zwar schnell – und ich meine schnell.“ Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass sie mit routinemäßiger Recherche nicht weiterkamen. Die Runde löste sich auf. Van den Berg zog sich mit Deflandre und Nicole eilig in sein Büro zurück. Die Blicke der beiden Männer richteten sich auf die Psychologin.

      „Ich glaube nicht an einen Verrückten“, sagte sie lakonisch. „Ich denke, der Täter geht sehr überlegt und strukturiert vor. Er hat sein Opfer bis vor die Kathedrale geschleppt, außerdem hat er am Tatort keine Spuren hinterlassen. Gut, das hat natürlich auch mit dem Wetter zu tun …“ „Dass er klug vorgegangen ist, schließt doch nicht aus, dass er geisteskrank ist“, wandte van den Berg ein. „Ein Psychopath ist nicht geisteskrank“, entgegnete Deflandre. „Eric hat recht“, bestätigte Nicole. „Ein Psychopath ist in der Lage, ganz logisch zu denken, aber er pfeift auf gesellschaftliche Normen und er kennt kein Mitgefühl. Wir haben es hier mit jemandem zu tun, der von etwas besessen ist, der etwas mitteilen will und der offensichtlich ein Spiel spielen will. Der Mann, den wir suchen, schiebt Gesetz und Moral beiseite - er spielt nach eigenen Regeln.“

      „Meinst du nicht, das ist etwas mutig, nach dem, was wir bis jetzt wissen?“ „Wenn es dem Mörder nur darum gegangen wäre, zu töten, hätte er es viel einfacher haben können. Warum hat er die Kathedrale ausgesucht? Für den Täter war es ein großes Risiko, entdeckt zu werden. Nein, ich bin sicher, da steckt viel mehr dahinter.“

      Freddy De Breuyn kam ins Büro – er stolperte über seine offenen Schnürsenkel, konnte es aber so gerade noch verhindern, den Boden zu küssen. Der Polizist war 56 und galt im Kommissariat als eine Art Unikum. Wegen seines unbeholfenen Auftretens wurde ihm meist der Schreibkram zugeschoben, also jene Arbeit, vor der sich die meisten Polizisten gerne drückten. De Breuyn war zwar ungelenk im Umgang mit Menschen, wenn es aber um das Recherchieren von Daten ging, war der Polizist ein unumstrittener Meister, denn dabei ging er überaus akribisch vor. Van den Berg hatte ihm die Detailsuche in der Datenbank nicht zufällig übertragen.

      „Ich habe alles durch den Rechner gejagt“, meinte der Polizist, der mit seiner zu kurzen Hose und seiner schweren und zu großen Brille dem Klischee eines Sonderlings auch äußerlich entsprach. „Ich habe natürlich erstmal an den Ritualmord vor einem Jahr gedacht. Aber der Typ hat sich in der Haft ja gleich die Pulsadern aufgeschnitten- der scheidet ja wohl aus.“ Die Polizisten lachten über die eigenwilligen Ausführungen ihres Kollegen. Auf einen religiösen Zusammenhang und irgendwelche Kirchen bin ich nicht gestoßen, aber ich habe hier zwei Typen - die haben ihre Opfer vergiftet. „Erzähl schon“, zischte van den Berg wie elektrisiert.

      „Der Witz ist, dass beide draußen rumlaufen. Nummer eins: Thierry Muller. Hat seiner Lebensgefährtin in der Nacht eine Spritze verpasst, die es in sich hatte. Ist vor sechs Monaten rausgekommen. Nummer zwei: Yves Grangé, er hat Diskobesuchern etwas in die Cocktails gemischt, das da nun wirklich nicht reingehört – E605, ein Insektengift. Er ist schon seit zwei Jahren draußen, seitdem unauffällig wie eine Betschwester. Wie gesagt: In beiden Fällen ist Gift im Spiel.“ Nicole guckte skeptisch. „Ich weiß nicht, ob das passt. Aber wir überprüfen das auf alle