Mark Prayon

Katakomben


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Und sie konnten davon ausgehen, dass sich das Mädchen nachts gerne in den Brüsseler Bars herumtrieb. „Wir sollten die Gegend um den Bahnhof abgrasen, da sind besonders viele Kreuze“, schlug Deflandre vor. „Der Stadtplan könnte uns weiterhelfen“, nickte van den Berg. Die Polizisten waren sich einig, am Abend an den Gare du Nord zu fahren, in eine Gegend, die sie gerne mieden, weil es da immer Ärger gab. Van den Berg würde Nicole mitnehmen.

      Auf dem Weg nach Hause in die Rue de Stassart hielt van den Berg bei Renard. Die Verkäufer der Konditorei kannten ihn alle, er bestellte fast immer das Gleiche. Im Winter wählte er meist die knusprigen Schweineohren, mit feinster Schokolade überzogen. In der warmen Jahreszeit bevorzugte er die kleinen Erdbeertörtchen, die liebevoll mit Schokoguss arrangiert waren. Die süßen Leckereien waren symptomatisch für van den Bergs Lebensstil. Er war ein Genussmensch, und von allem wollte er nur das Beste.

      Van den Berg fuhr zum verabredeten Treffpunkt. Als er auf die Rue de la Loi eingebogen war, klingelte sein Handy. „Komm sofort zur Église Sainte-Catherine!“, brüllte eine erregte Stimme in sein Ohr. Frank De Gruye, der erst seit zwei Monaten im Kommissariat arbeitete, klang kurzatmig. „Mal langsam!“, entgegnete van den Berg cool. „Es gibt eine Tote an der Catherine. Mehr wissen wir noch nicht. Ihr müsst da so schnell wie möglich hin.“ „Okay!“, presste van den Berg hervor. Er fühlte sich, als hätte er einen Matschklumpen im Kopf. „Sag Nicole und Eric Bescheid“, sagte er hastig, bevor er das Gaspedal bis zum Anschlag durchtrat. Als er einen Lastwagen rechts überholte, blieb er beinahe an einem Laternenmast hängen. Van den Berg kannte das Geräusch, wenn das Blech an irgendetwas vorbei schrammte, nur zu gut. Es war ihm egal, er fuhr weiter so schnell es ging.

      Van den Berg bereitete sich darauf vor, dass ihn wieder etwas Grauenhaftes erwartete. Er dachte kurz an das Mädchen an der St. Michel – ihm wurde klar, dass sie es mit einem Serienmörder zu tun hatten. Van den Berg raste auf die Kirche zu und stieg erst kurz vor dem Portal auf die Bremse. Ohne den Motor auszustellen, rannte er zur Tür, die verschlossen war. Es hatte wieder angefangen zu regnen, und es war kalt. Vor der Tür lag ein Mädchen, das in ein weißes Nachthemd gehüllt war, durch den Regen völlig durchnässt. Van den Berg kam sich vor wie in einer Zeitschleife, genau das hatte schon einmal gesehen. Zwei Streifenpolizisten, die zur Kirche gerufen worden waren, standen apathisch neben dem Kommissar. Van den Bergs Gesicht war krebsrot, seine Halsschlagader schwoll bedrohlich an. Intuitiv hob er den Arm des Mädchens an. Da war es wieder: das Brandmal. Wie bei der ersten Toten hatte der Mörder dem Mädchen eine Zahl eingebrannt. Diesmal war es die 1, ebenfalls inmitten eines Kreises.

      Van den Berg verbrachte die nächsten Minuten vor sich hin fluchend auf der Bank vor dem Gotteshaus. Er blickte gen Himmel in den hartnäckigen Nieselregen. „Was ist los?“, rief Deflandre, der mit Nicole am Tatort eintraf. „Wieder ein junges Mädchen“, schrie der Kommissar mit beleidigtem Unterton, denn er empfand das Verbrechen wie eine persönliche Demütigung. „Ich bin mir jetzt sicher, dass wir es mit einem Psychopathen zu tun haben“, meinte Deflandre und schaute zu Nicole, als wollte er eine Zustimmung für seine Feststellung haben.

      Die Psychologin, die mit ihren weichen Gesichtszügen und dem schicken Outfit nicht so recht in den Polizeidienst zu passen schien, dachte nach. Sie ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. „Ich habe leider recht behalten. Er ist auf junge Mädchen abonniert, was bei Sexualverbrechern nicht gerade außergewöhnlich ist. Es hätte mich überrascht, wenn er seinen Opfertypus geändert hätte.“ „Wir haben wieder dieses beschissene Brandmal“, fluchte van den Berg. Die Psychologin schaute sich das Zeichen genau an. „Eine 1“, sinnierte Nicole. „Die 1 – das Sinnbild für den Anfang und das Zeichen für Gott.“ Dann schwieg sie. „Das passt zu allem anderen, zu der Kirche und zu den Allmachtsphantasien, von denen du gesprochen hast“, meinte van den Berg. „Ja, aber ich bin mir nicht mehr sicher – aber frage mich nicht warum.“ „Wir überlassen das Feld den Kollegen. Wir brauchen Spuren“, sagte van den Berg, während er beschwörend die Hände nach oben reckte.

      Sie entschieden, den Besuch am Gare du Nord erst einmal aufzuschieben, sie wollten später hinfahren. Erst mussten sie die Sonderkommission zusammentrommeln. Wenn sie dem Mörder nicht bald auf die Spur kamen, würden sie von den Schmierfinken zerrissen werden. Van den Berg dachte an die Boulevardpresse, an die lästigen Reporter, die jetzt erst recht penetrante und zynische Fragen stellen würden.

      Zwei Opfer, beide vergiftet vor einer Kirche, dachte van den Berg. Ein hübscheres Thema konnte es für die billigen Blätter nicht geben. Im Besprechungsraum des Kommissariats waren alle Kollegen versammelt, als van den Berg ins Zimmer gehetzt kam. „Das Foto der Toten muss sofort an alle Medien raus. Fernsehen, Zeitungen, Internet!“

      De Coster trat in den Raum, als sich die Zusammenkunft gerade aufgelöst hatte. „Ich bin sicher, dass wir es mit einem Profi zu tun haben. Spuren haben wir kaum gefunden, genau wie an der St. Michel. Das Opfer ist sehr wahrscheinlich wieder vergiftet worden, wir haben die gleichen Einstiche gefunden.“ Van den Berg dachte nach. „Sonst habt ihr nichts?“ „Doch“, sagte De Coster, der es manchmal gerne spannend machte. „Ich habe mir natürlich gleich das Brandzeichen angesehen.“ „Erzähl schon!“ „Es ist blasser als das, was ich mir schon anschauen durfte, ein Hinweis darauf, dass es älter ist. Die Unterschiede sind allerdings marginal, mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen.“ „Vielleicht lasse ich mir auch so was machen, sieht abgefahren aus“, scherzte Deflandre, der glaubte, er müsse die gereizte Stimmung ein wenig auflockern. Nicole lächelte gequält, die Psychologin hatte nicht viel übrig für die Scherze des Polizisten, den sie ziemlich albern fand.

      „Vielleicht kommen wir auf die Bedeutung der Zahlen, wenn wir sie kombinieren, vielleicht stehen sie für die Buchstaben des Alphabets, für A und H.“ „Ich denke, es dürfte Tausende Möglichkeiten geben. Das ist eine große Scheiße!“, echauffierte sich van den Berg. „Das ist doch mal eine schöne Aufgabe für die lieben Kollegen, sie sollen alle Kriminalfälle auflisten, in denen Zahlen und Kreise eine Rolle spielen.“ Van den Berg machte eine wegwerfende Handbewegung. Nicole dachte nach. „Ich weiß nicht, ob es Sinn macht, die Bedeutung des Kreises zu ergründen. Die Zahl ergibt aber ganz bestimmt einen Sinn“, legte sich Nicole fest. „Vielleicht ist es eine Jahreszahl 18 …“, schlussfolgerte van den Berg. „Aber was ist dann mit den beiden fehlenden Nummern?“ Sie waren sich einig, dass sie das Zahlenrätsel nicht lösen konnten – noch nicht.

      Die Telefone im Kommissariat liefen heiß. Hunderte von Hinweisen gingen zum Foto der Toten ein. Die meisten waren wertlos, aber es kamen genügend Anrufe, die jeden Zweifel über die Identität der Toten beseitigten. Die Gesuchte war Dorothee Lerisse - die vermisste Prostituierte vom Gare du Nord.

      Van den Berg fuhr mit Deflandre in die heruntergekommene Bahnhofsgegend. „Jetzt haben wir wenigstens doppelten Grund da aufzutauchen“, frohlockte der Kommissar. „Vielleicht holt der Mörder seine Opfer aus den Puffs“, meinte Deflandre. „Jedenfalls haben wir eine Nutte, aber wir wissen nicht, ob Catherine auch auf den Strich gegangen ist.“

      Über einem Flatscreen tickerten Kurznachrichten von der belgischen Regierungskrise. „Bald ist Flandern unabhängig“, frohlockte Deflandre, der amüsiert in van den Bergs mürrisches Gesicht blickte. „Findest du nicht, dass unser Land schon klein und unbedeutend genug ist?“ „Wenn wir die Wallonen nicht mehr mit durchziehen müssen, haben wir alle mehr Kohle. Das ist es doch, was zählt.“ Van den Berg hob abwehrend die Hand. „Ist dir klar, dass uns die Wallonen auch schon mal durchgefüttert haben?“ „Das ist lange her. Mein Vater hat mir davon erzählt, wie hochmütig die auf uns herabgeschaut haben. Als Bauern haben die uns beschimpft. Jetzt kriegen die das doppelt und dreifach zurück.“ Der Kommissar verdrehte genervt die Augen. „Komm mal runter Eric, wir sind Belgier, basta!“

      In der Rue de la Prairie hing immer noch der ramponierte Zettel, der Dorothee Lerisse als vermisst meldete. Im Fenster nebenan saß eine Frau, die mit der getöteten Hure eine gewisse Ähnlichkeit hatte. Auch sie hatte schulterlange dunkle Haare und ein Dekolleté, das man ohne zu übertreiben als üppig bezeichnen konnte. Die Frau öffnete die schäbige Holztür. „Was wollt ihr? Seid ihr Flics?“ „Erraten“, antwortete van den Berg lachend.

      „Es geht um Dorothee Lerisse. Wie gut kannten sie sie?“ „Wir haben hier ein halbes