Mark Prayon

Katakomben


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seiner Dienstwaffe. „Ich bin es nur, Eric“. Van den Berg registrierte amüsiert, dass er seinen Kollegen erschreckt hatte. „Richtig gemütlich hier“, scherzte der Kommissar.

      Die Polizisten diskutierten lebhaft darüber, was von der verlassenen Bude zu halten war. „Wahrscheinlich hat er die Wohnung nur angemietet, um irgendwo gemeldet zu sein", mutmaßte Deflandre. „Oder er hat die Wohnung aufgegeben, weil er schnell wegmusste", warf van den Berg ein. „Was mich viel mehr interessiert: Wie finden wir ihn?“ Der Polizist sah in der Fensterscheibe, dass jemand hinter ihnen stand. Es war Nicole, die sich lässig an den Türrahmen lehnte. Sie hatte die Unterhaltung der beiden schon eine Weile verfolgt.

      Die Psychologin trug eine eng geschnittene weiße Bluse und eine schwarze Hose, die in auffällige Lederstiefel gesteckt war. „Merkwürdige Wohnung. Es wäre gut, wenn wir den Typen schnell finden würden“, sagte sie.

      Grangé war abgetaucht. Die Heimlichtuerei und der bemerkenswerte Zustand seiner Behausung machten den Mann verdächtig, das war aber auch alles. Bis vor fünf Jahren hatte er als verurteilter Mörder in Saint-Gilles gesessen und war nach zehn Jahren Haft wegen guter Führung vorzeitig entlassen worden. Der zuständige Psychologe hatte seinem Patienten in seinem Gutachten attestiert, keine Gefahr für die Allgemeinheit mehr zu sein. Vor seiner Verhaftung waren Fahndungsfotos von Grangé in Umlauf, die einen muskulösen aber dennoch unscheinbaren jungen Mann zeigten.

      Er hatte damals in einem Verlag als Buchhalter gearbeitet. Aber wo verdammt war er jetzt? Wo wohnte er? Was machte er? Wie konnten sie ihn bloß finden? Die Sonderkommission zog in Erwägung, ein Foto des Mannes an die Medien zu geben. Sie verwarfen die Idee. Van den Berg war der Meinung, der Tatverdacht reiche für diese Maßnahme nicht aus. Nicole gab zu bedenken, dass man den Verdächtigen so nur unnötig aufschreckte. Man fände leichter eine Spur zu dem Phantom, wenn man im Verborgenen ermittelte.

      Van den Berg hatte Marie in De Haan kennengelernt. An seinen freien Tagen war der Kommissar häufig in den verschlafenen Küstenort gefahren. Er erinnerte sich gern zurück an den Frühlingstag. Die Sonne kämpfte gegen die grauen Wolken, ein kräftiger frischer Wind strich über das Meer und den breiten Strand. Der Kommissar mochte das raue Klima, das zu seiner temperamentvollen Natur passte.

      Der Blick auf den Sand und das Wasser schärfte seinen Verstand, setzte Gedanken und Emotionen frei, die in Brüssel unter der Dunstglocke blieben. Er setzte sich neben die blonde Frau auf die Bank.

      Es dauerte eine Weile, bis sie begannen, miteinander zu sprechen. Von Anfang an war van den Berg von der Frau fasziniert. Ihm gefielen der Klang ihrer Stimme und ihr Lächeln. Marie lebte in Paris, im vornehmen achten Arrondissement, in der Nähe des Eiffelturms. Sie studierte Deutsch und Spanisch an der Sorbonne. Nie hatte van den Berg eine leidenschaftlichere Beziehung erlebt, als mit dieser zierlichen Frau, die ihn immer wieder mit verrückten Ideen überraschte. Er dachte an den Tag, als sie am Kommissariat mit einer alten Harley-Davidson auftauchte und sie spontan an den Atlantik fuhren und erst im Morgengrauen in Biarritz ankamen.

      Van den Berg verschanzte sich mit Deflandre und Nicole in seinem Büro. Er gab Anweisung, nicht gestört zu werden. Die Stimmung im Kommissariat war gereizt. Journalisten hatten sich am Morgen bei van den Berg gemeldet und ihn gefragt, warum es noch keine heiße Spur gab. Zwei grauenhafte Mordfälle mussten aufgeklärt werden, sie brauchten Ergebnisse und das möglichst schnell.

      Die außergewöhnlichen Umstände des Verbrechens ließen die Phantasie der Journalisten ins Kraut schießen. Eine Boulevardzeitung erfand den „Negligé-Killer“, eine andere erschuf das „Giftmonster“. Van den Berg hatte eine tiefe Abneigung gegen die reißerische Berichterstattung der bunten Blätter.

      Vor einem Jahr, als er sich mit dem bizarren Ritualmord beschäftigen musste, war er mit einem jungen ehrgeizigen Fernsehjournalisten aneinandergeraten, der ihm und seinen Kollegen in einer Live-Sendung Unfähigkeit bei den Ermittlungen vorgeworfen hatte. Er war auf den Provokateur mit Fäusten losgegangen, Deflandre hatte ihn im letzten Moment davon abgehalten, zuzuschlagen. Fotos der Auseinandersetzung, die den aufgebrachten Kommissar mit wutverzerrter Fratze in Großaufnahme zeigten, waren in einigen Zeitungen auf den Titelseiten gedruckt worden.

       Mit Journalisten sprach er nicht mehr. Der Polizist hatte damals überlegt, alles hinzuschmeißen. Nur Marie und die Kollegen, die sich geschlossen hinter ihn stellten, hatten ihn umgestimmt. Jetzt war er wieder da, der öffentliche Druck, dem er sich nicht entziehen konnte, der ihn rasend machte.

      Der Kommissar orderte einen ganzen Stapel Bücher über exotische Gifte. Er hatte wenig Lust, das Internet nach Informationen durchzuforsten, ebenso wenig wollte er die Recherche De Breuyn überlassen.

      Er fand vor allem medizinische Abhandlungen über die Wirkungsweise des Giftes und über dessen früheren Einsatz als Medikament, im Wesentlichen das, was De Coster schon lang und breit doziert hatte. Als es ihm reichte mit der anstrengenden Lektüre, stieß er auf eine Passage, die ihn neugierig machte. Das Kapitel beschrieb ausführlich, wie Indianer im Amazonas Curare zur Jagd eingesetzt hatten und um sich gegen die Eroberer zur Wehr zu setzen. Aber ein Zusammenhang zu seinen Fällen fiel ihm nicht ein. Van den Berg eilte in den Besprechungsraum und holte die große Metalltafel aus dem Schrank, die er schon oft für Tatortskizzen und andere Aufzeichnungen benutzt hatte.

       Mit einem schwarzen Filzstift skizzierte der Kommissar die Namen der Opfer, die Tatorte und die Personen im Umfeld der Toten. Dann schrieb er die Namen Muller und Grangé dazu. Van den Berg blickte zu Nicole. „Eric glaubt, dass wir es mit einem Psychopathen zu tun haben.“ „Es spricht einiges dafür, dass der Täter eine Persönlichkeitsstörung hat. Er hat seine Opfer vergiftet, wahrscheinlich wollte er, dass sie elendig ersticken. Mitgefühl ist für diesen Typen ein Fremdwort. Ich bin mir trotzdem nicht sicher, dass es ihm darum geht, seine Opfer leiden zu sehen.“ „Wenn er sie nicht leiden sehen will, warum denkt er sich dann so was Krankes aus?“ „Er will beachtet werden und Schrecken verbreiten. Er hat sich zwei große Kirchen ausgesucht, er hat zwei Menschen umgebracht, mit einem exotischen Gift, er hat Zeichen hinterlassen. Das ist deutlich.“

      Deflandre grinste. „Da hat uns dein wallonischer Genius ja mal wieder ein großes Stück weitergebracht.“ Nicole blieb cool, sie fragte sich nur, woher ihr Kollege wusste, dass ihre Großeltern aus Liège stammten. Dem Kommissar platzte der Kragen. „Wenn du sonst nichts beizutragen hast, hältst du jetzt die Schnauze.“ Deflandre sah ein, dass es besser war zu schweigen.

      Jemand klopfte an die Bürotür. „Ich habe doch gesagt, wir wollen nicht gestört werden“, raunte van den Berg. Es war Freddy De Breuyn, der vor der Tür stand und von der Anweisung offensichtlich nichts mitbekommen hatte. Van den Berg bat ihn herein. „Ich hoffe, du hast was Brauchbares. Das könnte die dicke Luft hier drin vertreiben.“ „Ich habe mich an unser Phantom gehängt. Er ist tatsächlich ein ganz großes Fragezeichen. In dem Verlag kennt ihn kaum noch jemand. Es gibt zwei Leute da, die mit ihm zu tun hatten, das war´s. Dann habe ich die Nachbarn gesucht, die damals in seiner Umgebung wohnten, ich habe dir die Kontaktdaten auf den Schreibtisch gelegt.

      „Gute Arbeit“, lobte van den Berg. „Das Beste kommt doch noch.“ De Breuyn zögerte die Antwort extra ein Weilchen hinaus. Er wusste von den Frotzeleien auf den Fluren über ihn, den schrägen Vogel. Wenn seine akribischen Recherchen wieder einmal etwas Wichtiges zutage gefördert hatten, rächte er sich für die Gemeinheiten. „Erzähl schon“, rief Deflandre, der zu den größten Lästermäulern gehörte.

      De Breuyn zog sein Mobiltelefon aus der Tasche. Die Polizisten schauten sich fragend an, Nicole schaltete am schnellsten. „Du hast seine Mobilnummer?“ „Exakt!“ Die triste Stimmung in van den Bergs Büro schlug blitzschnell in Euphorie um. „Dann wollen wir mal schauen, wo sich unser Freund rum treibt“, meinte van den Berg freudig erregt. Den Aufenthaltsort eines Flüchtigen per Handy zu ermitteln, war eine gängige Fahndungsmethode. Gleich der erste Versuch funktionierte, Grangé war geortet.

      Als van den Berg hörte, dass sich der Gesuchte an der belgischen Küste herumtrieb, musste er an Marie denken und an De Haan. Er fragte sich, was sie gerade machte, was sie sagen würde, wenn er sie anrief. Würde er durchdrehen, wenn sie miteinander sprachen?

      Van den Berg war erleichtert, als sich