ihr käme — es wäre ihr nicht lästig, gelt, Großmama?«
Er trat zu der alten Dame und legte mit ungestümer Zärtlichkeit seinen Arm um ihre Taille. Sie strich zärtlich über das wellige, ziemlich kurz gehaltene Haar und nickte ihm zu.
Ein mokantes Lächeln huschte um Susannes Lippen. Ihrem Wesen lagen alle Gefühlsergüsse fern. Graf Joachim trat zu ihnen.
Er war eine vornehme Erscheinung von etwa vierzig Jahren. Aus seinem schöngeschnittenen Gesichte leuchteten dieselben tiefblauen Augen, wie aus dem seines Sohnes. Auch er hatte das dunkle, leicht gewellte Haar, die langen dunklen Wimpern. Aber seine Züge waren etwas zu weich — weicher noch als in dem Gesichte seines jungen Sohnes. Um Lothars Mund und Kinn bildete sich schon jetzt ein charakteristischer energischer Zug, der seinem Vater völlig fehlte. So ähnlich sich Vater und Sohn auf den ersten Blick waren, so verschieden wirkten sie bei näherer Betrachtung.
Graf Joachim war eine etwas haltlose Natur. Sein verstorbener Vater, ein Mann wie aus Stahl und Eisen, hatte das frühzeitig erkannt und weil ihm jede Schwäche ein unverstandener Begriff war, suchte er diesen Charakterfehler seines Sohnes durch übertriebene Strenge auszumerzen. Aber er schoß über das Ziel hinaus. Statt seines Sohnes Leichtsinn und Haltlosigkeit zu bessern, trieb er ihn durch seine Unduldsamkeit dazu, allerlei Torheiten heimlich zu begehen. Je strenger ihn der Vater hielt, je ärger trieb er es im stillen. Als Joachim vierundzwanzig Jahre alt war, hatte ihn sein Vater, ohne nach seinen Wünschen zu fragen, mit Komtesse Susanne Hagenau verheiratet. Joachim war damals in einer rätselhaften seelischen Depression gewesen und hatte sich fast willenlos in alles gefügt. Komtesse Hagenau schien Joachims Vater die passendste Lebensgefährtin für seinen Sohn. Trotzdem sie erst achtzehn Jahre zählte, war sie vollendete Weltdame, deren kühle Selbstbeherrschung ihm genug Garantien bot, daß sie seinen Sohn nach seinen Wünschen beeinflussen würde.
Es schien auch, als habe er das Rechte getroffen. Joachim schien nach seiner Verheiratung — ja — schon während der Verlobungszeit — ein ganz anderer geworden zu sein. Gräfin Thea hatte sich freilich gegen diese Verbindung gesträubt. Sie kannte ihren Sohn besser, wußte, daß er mit Liebe eher zu leiten war, als mit Strenge und Kälte. Von mancher Torheit hatte sie ihn abgehalten durch liebevolles Zureden. Sie wußte, daß Susanne eine gefühllose Person war, und daß Joachim ein sehr liebebedürftiges Herz hatte.
Aber ihr Widerspruch hatte nicht geholfen. So war diese Ehe zustande gekommen. Graf Joachim war ein artiger, ritterlicher Gatte, der seiner Frau umso ruhiger allen Willen ließ, als sie seine Person nicht in Anspruch nahm. Joachims Vater war sehr zufrieden gewesen mit dem Erfolge seines Experimentes. Es war unleugbar eine große Veränderung in Joachims Wesen zu bemerken.
Aber seine Mutter hatte diese Veränderung nicht mit Befriedigung erfüllt. Im Gegenteil, sie machte ihr heimlich große Sorge. Sie allein hatte auch bemerkt mit den scharfen, sorgenden Mutteraugen, daß Joachim schon in der Zeit kurz vor seiner Verlobung ein anderer geworden war. Ungleichmäßig und gedrückt, nicht mehr in froher Laune überwallend, fast scheu und unruhig war er ihr erschienen. Sie hatte ihn einige Male in liebevoller Weise gefragt, ob ihm etwas fehle, ihn etwas bedrücke. Danach hatte er sich stets eine Zeit lang zusammengenommen, ohne je auf ihre Frage eine rechte Antwort zu geben.
Joachim war ihr einziges Kind — er war so recht ein Sorgenkind von Anfang an gewesen. Aber umso zärtlicher umfaßte ihn ihr Herz. Sie litt fast mehr unter der kalten, liebeleeren Ehe, die er führte, als er selbst. Sorgend suchten ihre Augen wieder und wieder in seinen Zügen.
Joachims Vater hatte noch erlebt, daß ihm ein Enkel geboren wurde. Es gelüstete ihn danach, auch an dem Enkel seine Erziehungstheorien zu erproben. Aber ehe er dazu kam, einen Einfluß auf den Knaben auszuüben, war er gestorben. Seit seinem Tode hatte sich Joachim inniger denn je an seine Mutter angeschlossen, während sein Verhältnis zu seiner Frau immer förmlicher wurde. Mit seiner Mutter und mit seinem Sohne lebte er in herzlicher Gemeinschaft. Seine Frau war ihm im Herzen eine Fremde. — — —
Graf Joachim half seiner Gattin in den Wagen. Lothar stand neben ihm und küßte seiner Mutter die Hand. Seinen Vater umarmte er herzlich.
Dann stieg Joachim selbst ein und der Wagen fuhr davon. Lothar sah ihm eine Weile nach. Dann sprang er mit zwei Sätzen die Freitreppe empor. Oben unter dem Portale stand Gräfin Thea. Lothar umfaßte sie stürmisch. So war auch Joachim als Kind oft zu ihr gekommen, Liebe heischend, Liebe gebend. So ausbrüchlich hatte er auch den Regungen seines Herzens Ausdruck gegeben. Sie drückte Lothar fest an sich und sah ihn ernst an.
»Tut es dir nicht weh, daß Mama auf lange Wochen fortgeht?«
»Weißt du, Großmama, ich habe von Mama auch nicht viel, wenn sie zu Hause ist. Manchmal sehe ich sie kaum bei den Mahlzeiten. Freilich — wenn Papa mit abreiste — dann wäre ich viel mehr betrübt. Ich habe ja dich und Papa.«
Diese Worte kennzeichneten zur Genüge, welche Stellung Gräfin Susanne im Herzen ihres Sohnes einnahm. Er empfand nach Kinderart sehr genau, daß die Mutter nicht viel Liebe für ihn hatte. Ihr kaltes, spöttisches Wesen scheuchte ihn zurück, wenn er sich ihr liebevoll nahen wollte. So suchte er bei Großmutter und Vater die Liebe, die er zum Gedeihen brauchte. Und da fand er sie in reichstem Maße. Fest umschlungen gingen die beiden in die Halle zurück.
»Jetzt muß ich aber wieder ins Schulzimmer, Großmama, meine Geschichtsstunde ist noch nicht zu Ende. Der Herr Kandidat wird schon warten.«
»So geh, mein lieber Lothar.«
»Ich habe noch eine Stunde Latein nach der Geschichtsstunde. Aber dann bin ich frei — dann darf ich doch zu dir kommen?«
Er lief mit schnellen Schritten wieder den teppichbelegten Gang nach dem Schulzimmer zurück. Liebevoll blickte Gräfin Thea dem schönen Jungen nach. Dann stieg sie sinnend die Treppe zum ersten Stock hinauf, wo sich im westlichen Flügel ihre Zimmer befanden.
2.
Als Graf Joachim aus der Stadt zurückgekehrt war, begab er sich in den Salon seiner Mutter. Er fand Lothar bei ihr und wurde von beiden herzlich begrüßt. Sie nahmen zusammen den Tee und Lothar sorgte durch sein lebhaftes, übermütiges Wesen für eine heitere Stimmung. Gräfin Thea sah mit inniger Befriedigung, daß ihr Sohn froher aussah, als seit langer Zeit.
Später gingen sie alle drei zum See hinunter. Auf dem Wege dahin neckte sich Lothar mit seinem Vater, und schließlich brachte er ihn soweit, einen Wettlauf mit ihm zu veranstalten.
Mit glücklichem Gesichte schaute die alte Dame hinter ihnen her. Ein tiefer Atemzug hob ihre Brust. Wie traut und schön war es, wenn Susanne nicht dabei war.
Sie erschrak über diesen Gedanken, aber zu bannen vermochte sie ihn nicht.
Am See lagen zwei Ruderboote und eine kleine Segeljacht. Zu Lothars heller Freude entschloß man sich zu einer Segelfahrt. Joachim half seiner Mutter sorglich beim Einsteigen und hüllte sie in ein warmes Tuch. In glücklichster Stimmung, wie Kinder, die Ferien haben, fuhren sie über den See dahin.
Als sie nach einer Stunde zum Landungsplatze zurückkehrten, stand Lothars Hauslehrer auf dem Stege. Kandidat Wetzel war ein sympathischer, frischer junger Mann, dem man es nicht anmerkte, daß er sein Studium hindurch gehungert hatte. Er wurde von Graf Joachim und Gräfin Thea als zielbewußter Erzieher und tüchtiger Lehrer sehr geschätzt. Mit Lothar stand er auf einem sehr guten, fast kameradschaftlichen Fuße. Herr Wetzel hatte die einträgliche Hauslehrerstelle angenommen, um sich die Mittel zu weiterem Studium zu verdienen. Er sollte Lothar bis zum Abiturium unterrichten, also noch mindestens vier Jahre in Wildenfels bleiben. Ohne dazu aufgefordert zu werden, legte er bei der Landung des Segelbootes hilfreiche Hand an. Graf Joachim und Gräfin Thea begrüßten ihn.
»Wollen Sie auch eine Wasserfahrt machen, Herr Kandidat?« fragte Lothar.