Wolfgang Priedl

PUNKTUM.


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ich schon erwähnt, dass du unmöglich bist?«

      »Öfters, Claudia. Glaube mir … öfters.« Anna lässt sich lachend auf den Sessel fallen.

      »Apropos ›Recherchieren des Lokalkolorits‹ – wenn ich dich ansehe, frage ich mich, wer von uns beiden heute etwas vorhat. Du siehst ja zum Anbeißen aus.« In Claudia Stimme schwingt ein Anflug von Neid mit.

      »Weil du gerade vom Anbeißen sprichst: Ich habe einen Mörderhunger … «, lenkt Anna geschmeichelt vom Thema ab.

      »Der Kellner hat mir soeben Lasagne empfohlen. Steht nicht auf der Speisekarte. Frisch zubereitet. Und Ravioli – stehen ebenfalls nicht auf der Karte.«

      »Überredet, ich nehme die Ravioli«, entscheidet sich Anna, ohne lange nachzudenken.

      »Ich die Lasagne. … Wein? Den Üblichen?«

      »Ja, bitte.«

      Claudia wendet sich an den Kellner, um zu bestellen.

      Die beiden tauschen die Neuigkeiten der letzten Woche aus. Die Redakteurin ist sich nicht sicher, ob sie über die Ereignislosigkeit der vergangenen Tage froh sein sollte oder nicht. Es war ungewöhnlich still gewesen. Um die Seiten des ›Kuriers‹ zu füllen, hatte sie die Beiträge jedes noch so unbedeutenden Ereignisses, breitgewalzt. Keine befriedigende Aufgabe für sie.

      »Wir haben mit einem Artikel über Hundekot eine halbe Seite gefüllt. Stell dir das einmal vor«, alteriert sich Claudia und nippt an ihrem Weinglas. »MMMHHH. – In den könnte ich mich verlieben.«

      »In wen könntest du dich verlieben?«, fragt Anna abwesend.

      »Hallo – Anna. Ich bin’s!«, ruft Claudia aus. »Du bist ja mit deinen Gedanken total woanders. – In den Wein könnte ich mich verlieben, habe ich gesagt.«

      »Ja – der ist sehr gut«, erwidert Anna, ohne aufzublicken.

      Claudia rückt ihren Stuhl näher an ihre Freundin heran. »Wo drückt der Schuh? Probleme im Job? Ärger mit deinen Mitarbeitern?«

      Anna antwortet nicht sofort. Sie legt die Stirn in Falten. »Nein, die Firma läuft. Habe heute sogar ein riesiges Erfolgserlebnis eingefahren. Meine Buben haben sich bei der Implantierung der von uns entwickelten Krypto-Routine schwergetan. Ich hab das Problem gelöst – funktioniert.«

      »Hier programmiert der Chef noch höchstpersönlich. Das nenne ich Mitarbeitermotivation … «

      Der Kellner serviert ihre bestellten Speisen. »Guten Appetit.«

      »Danke.«, flüstert Anna.

      »Komm, lass es dir schmecken. Reden wir nachher weiter … wenn du willst.« Claudia läuft das Wasser im Mund zusammen.

      »Gute Idee. Ich warne dich, ich brauche jemanden, mit dem ich reden kann.«

      »Nur zu, dafür gibt es die beste Freundin. Klingt zumindest spannender als die vergangene Woche … Mahlzeit«, erwidert Claudia voll Neugier.

      Genussvoll speisen die beiden. Wiederholt betonen sie, dass sich der Koch heute wieder selbst übertroffen hat.

      Die karge Konversation lässt in Claudia die Spannung, die Neugier steigen. Ihr beruflicher Instinkt, ständig auf der Jagd nach Neuigkeiten zu sein, ist geweckt worden. Sie wird von Minute zu Minute ungeduldiger. Zuletzt kann sie es kaum mehr erwarten, zu erfahren, was ihre Freundin auf dem Herzen hat. Sie kommt ihr verändert vor. Der Job ist es nicht. So viel weiß sie bereits. Es muss etwas Wichtiges sein, denn selten noch hat sie ihre Freundin so kurz angebunden erlebt.

      Kaum hat sie ihren Teller geleert, fordert sie sie auf, von ihrem Kummer zu erzählen.

      Anna würgt den letzten Bissen hinunter. »Claudia, ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll. Ein Beispiel: Du gehst jeden Tag um dieselbe Uhrzeit, zum Bäcker und begrüßt die Verkäuferin. Du kaufst täglich zwei Semmeln. Bestellst sie mit denselben Worten. Und immer hörst du die gleiche Antwort. Es geht so weit, dass dich die Verkäuferin nur zu sehen braucht, um zwei Semmeln – ohne Nachfragen – in eine Papiertüte zu werfen und sie dir anschließend über den Tresen zu reichen. Nonverbale Konversation. Manchmal hat sie sie sogar schon griffbereit, vorbereitet. Die Münzen hast du abgezählt in der Hand und bezahlst. Und eines Tages passiert es: Du betrittst die Bäckerei und es steht eine neue Verkäuferin hinter dem Verkaufspult. Was denkst du in diesem Moment?«

      Claudia runzelt ihre Stirn und setzt zur Antwort an. Doch Anna wehrt ab, lässt sie nicht zu Wort kommen: »Dir schießen tausende Gedanken durch den Kopf. Ist sie auf Urlaub? Ist sie krank? Hat sie gekündigt? Wann kommt sie wieder? Ist sie verunfallt? Liegt sie im Krankenhaus? Könnte man ihr helfen? – Du kaufst das Gebäck. Aber den ganzen Tag über schwirren dir die Gedanken über die Verkäuferin durch den Kopf. Du nimmst dir vor, dich morgen nach ihr zu erkundigen. Solange du den Grund nicht kennst, lassen dir deine Gedanken keine Ruhe … «

      »Worauf willst du hinaus?«, fragt Claudia.

      »Worauf ich hinaus will, ist einfach: Du kennst meine Mutter. Sie ruft mich täglich, oft auf die Minute genau, an. Gestern nicht – heute nicht. Gestern kam nur eine SMS: ›Melde mich später‹, das war’s. Jetzt muss ich ständig an sie denken. Ich habe ein ungutes Gefühl in der Magengegend.«

      »Warum rufst du sie nicht an?«

      »Ich habe es heute mehrmals probiert. – Bin stets in der Mailbox gelandet«, seufzte Anna entmutigt.

      »Hast du es bei ihr im Labor versucht?«

      »Natürlich. Ich habe mit Birgit, mit Frau Santora gesprochen. Sie meinte, Maria hat sich heute freigenommen, weil sie einen Freund besuchen will … «

      »… Deine Mutter hat einen Freund?«, fragt Claudia überrascht.

      »Gute Frage. – Eigenartig – nicht? Ich habe noch keinen Mann an ihrer Seite gesehen. Sie hat auch keinen erwähnt. Und jetzt, so von heute auf morgen, gibt es plötzlich einen Freund. – Sie nimmt sich sogar einen Tag frei, um ihn zu treffen. Das ist merkwürdig. Oder?«

      »Wie soll ich sagen, ich kenne deine Mutter, seit wir beide im Sandkasten gespielt haben. Sie ist zwar mir gegenüber ein wenig reserviert, trotzdem habe das Gefühl, dass sie mich mag. Ich glaube daher, sie einschätzen zu können. Was du mir soeben von ihr erzählt hast, ist nicht die, die ich kenne. Du hast Recht: Ich wäre ebenfalls besorgt. … besser gesagt: beunruhigt – du weißt schon … «

      Mit einem tiefen Seufzer checkt Anna ihr Mobiltelefon. Keine Nachricht. Kein Anruf in Abwesenheit.

      »Andererseits: Deine Mutter ist erwachsen. Sie hat ein Anrecht auf Privatleben. Vielleicht hat sie nach all den Jahren jemanden kennengelernt und macht sich ein heißes Wochenende. … «

      »Das ist nicht dein Ernst.« Anna schüttelt ihren Kopf. »Schließe nicht von dir auf andere. – Schon gar nicht von dir auf meine Mutter. – Und komme mir nicht mit deinen One-Night-Stands Ansichten. Maria ist kein Twen. Sie ist fast sechzig Jahre alt … «

      »Was glaubst du? Mit sechzig spielt Sex keine Rolle mehr in deinem Leben, gibt es keine Liebe auf den ersten Blick und all die Dinge? – Können ihr ihre Hormone keinen Streich spielen? Vielleicht kommt sie dienstags zurück und wird von einer leuchtenden, alles überstrahlenden Aura umgeben. Frei nach dem Motto: Ich hatte vor kurzem Sex. Du nicht. Ich habe gewonnen. – Du nicht.«

      »Claudia, – hallo – aufwachen. Wir sprechen hier von meiner Mutter … «, rügt Anna ihre Freundin scharf.

      »Entschuldige, ich sollte mit meinen Sprüchen ein wenig hinter dem Berg halten. Sorry. … Sag, ist Maria in einem Social Media Kanal vertreten?«

      »Ja, WhatsApp. Sporadisch. Hab ich versucht. Fehlanzeige. Diese App öffnet sie nur, wenn sie Fotos verschickt.«

      »Gut, worauf wartest du? Willst du dich das ganze Wochenende quälen und in nebulosen Sorgen ergehen … «

      Anna zuckt resignierend mit den Achseln. Ihre Freundin hat Recht. Sie kann nur abwarten. Ob sie – bis sie Antworten