Nina Hutzfeldt

Die Seelen der Indianer


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hing ihr über der Schulter.

      »Hab ich mir gedacht.« Sadie rieb sich den Arm. »Was machst du heute hier in der Stadt?«

      »Ich helfe meiner Mutter beim Einkaufen. Jetzt machen wir eine kurze Pause, bevor wir wieder zurückfahren.«

      »Das ist richtig. Im Moment muss Rachel mir mehr im Haushalt helfen«, sagte Mrs. Douglas und schaute Sadie mit einem prüfenden Blick an. Ihre breiten Hüften und großen Brüste verrieten, dass sie durch und durch Mutter war. Außerdem hatte sie einen gut trainierten Bizeps, der von ihrer täglichen fleißigen Arbeit kam. Deshalb wusste Sadie, dass Mrs. Douglas keine Hilfe benötigte, doch wie sie selbst musste auch Rachel Strafarbeiten verrichten.

      »Und was führt dich hierher?« Mrs. Douglas drehte den Kopf.

      »Ich helfe meiner Mutter ebenfalls.« Sadie deutete zu Caroline, die sich blendend mit Mary-Jane unterhielt und mal wieder von ihrer Umgebung nichts mitbekam.

      Plötzlich polterte es und der zappelnde Matthew fiel mit dem Stuhl um.

      »Mensch, Kind. Ich habe dir gesagt, du sollst dich benehmen.« Mrs. Douglas stand auf und half Matthew auf die Beine, der vor Schreck weinte. Schnell untersuchte sie ihn mit den Augen einer Mutter. Er hatte eine kleine Platzwunde am Kopf. »Ich gehe mit ihm zu Dr. Andrews, bitte bleib hier sitzen«, sagte sie an Rachel gewandt. Sie hob drohend ihren Finger.

      »Matthew. Ich glaube ich sollte ein Buch über ihn schreiben«, scherzte Rachel und spielte an ihrem Zopf.

      »Das würde sich sicher gut verkaufen. Sag mal, hast du deiner Mutter etwas über den Indianer erzählt?« Sadie setzte sich und verschränkte ihre Arme auf dem Tisch. Bevor sie das Wort „Indianer“ in den Mund nahm, blickte sie sich um, als würde sie jemand beobachten.

      »Nein, natürlich nicht«, antwortete Rachel flüsternd. Ihren Zopf mittlerweile fest in der Hand. »Meine Mutter hat sich schon über das Baden im Fluss aufgeregt. Ich meine«, Rachel hielt kurz inne, »sie hat ja recht, die Strömung hätte uns mitreißen können. So gute Schwimmerinnen sind wir ja nicht.« Rachel biss sich auf die Lippe.

      »Bereust du es immer noch, mitgekommen zu sein?«

      »Nein, ich bin froh.« Sie lächelte, doch spürte Sadie diese Anspannung in der Stimme ihrer Freundin, die ihr Angst machte.

      »Irgendwas bekümmert dich doch?« Sadie legte den Kopf schief.

      »Ich habe sehr viel Ärger bekommen und darf mich im Moment nicht mehr mit dir treffen. Sie meinte, du hättest keinen guten Einfluss auf mich.«

      Sadie stockte der Atem, doch wusste sie, dass dieser Satz Rachel schwer über die Lippen kam.

      »Ich dürfte nicht mal mit dir hier sitzen. Meine Mutter tadelt mich sicher daheim.«

      »Das tut mir sehr leid. Können wir uns trotzdem heimlich treffen?« Sadie konnte sich ein Leben ohne Rachel nicht vorstellen. Sie waren fast täglich zusammen.

      »Im Moment ist es besser, ich höre auf meine Mutter.«

      Dabei wollte Sadie Rachel so gerne von ihren Träumen erzählen, von dem Indianer und dass sie ihn wiedersehen musste.

      4

      Lübeck, 2012

      Es dauerte fast eine Woche, bis wir einen Termin bei Dr. Joachim Stein, einen renommierten Anwalt für Erbrecht, bekamen.

      In dieser Woche bekam ich natürlich kein Auge zu. Immer wieder nahm ich mir das Foto und begutachtete das Haus. Es sah gepflegt aus, hatte gehäkelte Gardinen vor den Fenstern und Blumentöpfe auf der schmalen Veranda. Mit dem Daumen strich ich über das Bild. Schade, dass ich kein Foto von Brian und Mary-Ann hatte oder sogar von Sue-Ann. Wie gerne hätte ich gewusst, ob ich eine gewisse Ähnlichkeit mit ihnen hatte.

      Wenige Stunden vor dem Anwaltstermin machte mein Herz einen Satz. Ich war so aufgeregt und doch hatte ich ein mulmiges Gefühl im Magen. Ich versuchte, die Aufregung zu unterdrücken, denn ich wusste, dass Mama das Herz blutete. Sie war schließlich die Frau, die mir zum ersten Mal das Gefühl gab, zu irgendjemand dazuzugehören. Im Herzen war sie meine Mutter.

      Mit einer dicken Mappe unterm Arm stieg ich in den bordeauxroten Fiat Stilo.

      Obwohl Kevin immerzu nach dem Auto fragte, durfte er ihn nie fahren. Unser Vater wollte das Lenkrad nicht aus der Hand geben, denn sonst würde er das Auto nie mehr wiedersehen. Was ja auch stimmte, denn wenn man erst einmal auf den Geschmack gekommen war, dann war es schwer sich wieder zu trennen. Ich schmunzelte bei dem Gedanken, mit meinem Vater morgens zur Bushaltestelle zu gehen, während Kevin hupend an uns vorbeifuhr.

      Wir fuhren am Holstentor, dem wohl bekanntesten Wahrzeichen Lübecks, vorbei.

      Das spätgotische Gebäude gehörte zu den Überresten der Stadtbefestigungsanlage. Im späten Mittelalter war man der Ansicht, die Stadt vor Bedrohung schützen zu müssen, und erbaute daher eine Stadtbefestigung mit vier Stadttoren. Zwei von ihnen standen heute noch. Das Burgtor im Norden und das Holstentor im Westen.

      Wir fanden zähneknirschend einen Parkplatz, nachdem uns dreimal der Parkplatz vor der Nase weggeschnappt wurde.

      »Komm, wir sind spät dran.« Papa blickte auf seine Uhr und zog uns mit sich durch die Altstadt, bis wir in einer Einkaufsstraße standen und nach dem Eingang zwischen den vielen kleinen Geschäften Ausschau hielten.

      Ein schäbiges Treppenhaus führte uns ins Dachgeschoss, wo eine modern eingerichtete Anwaltskanzlei uns empfing. Eine Sekretärin öffnete uns die Tür und begrüßte uns mit einem breiten Lächeln. Sie trug eine weiße Bluse und einen schwarzen Rock mit hochhackigen Schuhen, auf denen sie besonders gut laufen konnte. Sie bot uns Kaffee an und bat uns im Wartebereich Platz zu nehmen, bis Dr. Stein uns aufrief.

      Ich blätterte in den neusten Illustrierten, als ein kahlköpfiger Mann mit großer Nase und kleiner Brille zu uns kam und meinen Namen rief: »Jordan Vogel.«

      »Ja, das bin ich.« Ich meldete mich wie in der Schule und stand auf.

      Wir folgten Dr. Stein in ein kleines Büro mit vielen Familienfotos an den Wänden. Er nahm hinter einem großen Mahagonischreibtisch Platz und bat seine Sekretärin durch eine Sprechanlage, einen weiteren Stuhl zu bringen, da nur zwei schwarze Sessel vor dem Schreibtisch standen.

      »Also.« Er faltete die Hände. »Erzählen Sie mir, warum Sie mich aufgesucht haben.«

      »Ich hatte Ihrer Angestellten schon erzählt, dass wir Post von einer Erbermittlungsagentur aus Gera bekommen haben. Sie müssen wissen, dass wir Jordan mit zehn Jahren aus dem Waisenhaus zu uns geholt haben«, sagte Mama und setzte sich auf den Klappstuhl, den die Sekretärin ins Büro gestellt hatte.

      »Danke, Vivien«, sagte Dr. Stein.

      Nickend lehnte sie die Tür an, um wenig später mit zwei Kaffeebechern und einem Wasserglas zurückzukommen.

      Ich reichte Dr. Stein meine Mappe und beobachtete, wie er die Unterlagen darin studierte.

      »Das klingt doch alles ganz positiv, vorausgesetzt, Sie wollen das Erbe annehmen.«

      Ich fühlte mich auf dem großen Sessel fehl am Platz und rutschte so weit nach hinten, dass meine Beine in der Luft hingen. »Ach, bevor ich es vergesse…« Ich nahm meine Handtasche und holte das Foto, welches ich sorgfältig in die Seitentasche gesteckt hatte, heraus. »Hier, dieses Foto hat die Agentur mitgeschickt.«

      »Mm, nett.« Er räusperte sich. »Wenn Sie möchten, kann ich die Erbangelegenheiten für Sie übernehmen. Ich werde mich mit der Agentur in Verbindung setzen und die Unterlagen anfordern.«

      »Das klingt gut.« Mein Vater saß schweigend in dem Sessel neben mir und rieb sich das Kinn.

      »Falls Sie das Erbe annehmen, verlangt die Agentur 25% vom Erbe. Das ist aber im normalen Bereich. Und wie ich es hier ablesen kann, haben Sie ganz gut geerbt, Frau Vogel.« Er blickte mich an. Mir war das alles