Leon Grüne

Die Grenze


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fühlte. In seiner eigenen Welt war er kein kleiner, schwacher Junge. In seiner Welt war er ein stolzer und prächtiger Adler, der im Tiefflug über das Gelände der Schule hinweg glitt und die Schüler und Lehrer auf dem Pausenhof beobachtete. Hinter der Schulmensa standen ein Junge aus der neunten und ein Mädchen aus der achten Klasse und küssten sich verlegen, ohne zu bemerken, dass sie von dem majestätischen Vogel beobachtet wurden. Leise schnitten die Flügel des Tieres durch die Luft und er flog an dem jungen Pärchen vorbei auf den großen Hof. An den drei steinernen Tischtennisplatten spielten mehrere Jungen und Mädchen aus der fünften Klasse mit einem Mini-Fußball ein Spiel namens Platte. Es funktionierte ähnlich, um nicht zu sagen genauso wie der Rundlauf beim Tischtennis, nur mit den Händen anstelle des Schlägers. Auch sie bemerkten nicht, wie der Vogel stumm und unsichtbar an ihnen vorbeiflog und sich langsam den Steinen, bei denen Mark saß, nähert.

      Ein paar Meter von dem einsamen Kind entfernt bewegte sich eine kleine Gruppe Jungen mit mäßigen, aber bestimmten Gang auf ihn zu. Der Größte der drei stellte sich genau vor den Jungen, der alleine auf dem Stein saß, packte ihn am Kragen und sagte wütend etwas, das er nicht verstehen konnte. Neugierig setzte sich der Adler auf einen der Äste des Baumes, der den Steinen am nächsten war, und betrachtete die Situation aufmerksam. Unsanft hob der große Junge den kleineren, beleibteren vom Stein und stieß ihn auf den Boden, wo er ihm einen Tritt in die Seite versetzte. Nachdem er ein weiteres Mal eine Beleidigung ausgesprochen hatte, spuckte er auf den korpulenten Jungen, der seine Brille bei dem Stoß verloren hatte und entfernte sich lachend mit den anderen beiden vom Ort des Geschehens. Ein paar Sekunden wartete der Vogel noch, ob der Junge wieder aufstehen würde, dann erhob er sich in die Lüfte, während der Junge sich langsam vom Boden aufrichtete und schluchzend seine Brille aufhob.

      14

      Es war in ungefähr halb zwei gewesen, als Frank aus seiner Mittagspause hinter seinen Schreibtisch zurückkehrte und sich an das Tippen des Berichtes zum gestrigen Einsatz machte. Er war mit seinem Kollegen zusammen auf Streife gewesen und wegen häuslicher Gewalt nach Dulingen gerufen worden. Harald hatte seiner Frau wieder auf seine ganz eigene Art und Weise gezeigt, dass sie gefälligst das tun sollte, was er ihr sagte. Nach einiger Zeit geriet die Situation außer Kontrolle und die Nachbarn hatten die Polizei verständigt. Als Frank jedoch mit seinem Kollegen am Haus der Familie Nitz angekommen war, war bereits alles vorbei und Harald längst wieder einigermaßen zur Beherrschung gelangt.

      Wie in Zeitlupe wanderten seine Finger über die Tastatur des Computers. Er war nie ein sonderlich schneller oder geübter Schreiber am PC gewesen. Zwar hatte er bereits einige Übungen und auch Programme, die ihm helfen sollten, schneller tippen zu lernen, getestet, aber er war jedes Mal aufs Neue daran gescheitert.

      „Natürlich hat es mir etwas gebracht“, hatte er seinen Kollegen immer wieder erzählt, nachdem er ein weiteres Programm erfolglos ausprobiert und schließlich deinstalliert hatte, nur um im Endeffekt seine Einsatzberichte weiterhin mit der Geschwindigkeit einer Gartenschnecke abzutippen. Doch niemand nahm ihm dieses Verhalten großartig übel, stellte es als simple Ausrede dar oder verurteilte ihn dafür. Als er 27 war, hatte er sich einmal seine Wirbelsäule gebrochen und war seitdem nicht mehr der Mobilste unter seinen Kollegen. Von Zeit zu Zeit kam es durchaus noch vor, dass sein Rücken ihm Probleme und äußerst unangenehme Schmerzen bei starken oder ungewohnten Drehungen bereitete. Mit inzwischen fast 30 Jahren, die er bei der Polizei verbracht hatte, wollte ihm niemand mehr etwas Schlechtes wie Eitelkeit oder überschwängliche Selbstzufriedenheit vorwerfen. Wäre er ein junger Bursche von 23 Jahren, der noch grün hinter den Ohren war und mit solchen leeren Sätzen versuchen würde, sein langsames Tippen zu rechtfertigen, dann hätten ihn alle für das Paradebeispiel der immer weicher und schüchterner werdenden jungen Generation gehalten und er hätte sich jede Aussicht auf Respekt gnadenlos verspielt. Aber er war nicht irgendein junger Bursche, der noch keine Erfahrungen in seinem Leben oder in seinem Beruf gemacht hatte. In seinen unzähligen Jahren, die er bei der Polizei verbracht hatte, hatte er viele Kollegen kommen und gehen sehen und auch so manch einen schon betrauern müssen.

      2011 wurde er zusammen mit drei weiteren Polizisten wegen Ruhestörung nach Dulingen gerufen, um für Ordnung zu sorgen. Frank Lehmann, Herbert Plock, Sebastian Körtel und Bernd Schwartzer. Am Morgen nach dem Einsatz tauchten Körtel und Plock in den Todesanzeigen der Regionalzeitung auf. Der Mann, der den Lärm verursacht hatte, war psychisch krank gewesen und stritt sich grade mit einem seiner Alter Egos, als die vier Polizisten an seiner Haustür klingelten. Völlig aufgescheucht hatte er versucht, sich mit einem Sportbogen zu verteidigen und dabei bewiesen, dass er trotz seiner Panik immer noch zielsicher war. Plock, der den Fehler gemacht hatte die Tür zu öffnen, wurde von einem Pfeil in den Magen getroffen und verstarb innerhalb weniger Minuten. Körtel, der noch unerfahren und somit auch naiv war, hastete augenblicklich auf den Angreifer zu, um ihn zu überwältigen. In seinem Schock und seinem jugendlichen Übermut hatte er scheinbar vergessen, dass er selbst eine Waffe bei sich trug und so hatte auch er wenige Sekunden später einen Pfeil genau in der Brust stecken. Es war sein erster Einsatz überhaupt gewesen. Frank hatte ihn mitnehmen wollen, weil er dachte, dass etwas Einfaches wie Ruhestörung genau das Richtige für den Anfang wäre, um ihn langsam in den Berufsalltag auf Streife einzustimmen. Schwartzer, der hinter den beiden das Haus betreten hatte, reagierte schnell und schoss mit seiner Dienstwaffe auf den Mann, der sofort von den Kugeln getroffen in sich zusammenklappte und die Treppe hinunterfiel.

      Nach der Trauerfeier quittierte Schwartzer seinen Dienst und kehrte zurück zu seinem ursprünglichen Beruf als Maler, wo er wenige Jahre später den Betrieb seines Vaters übernahm. Vetternwirtschaft vom Feinsten. Er wolle nicht noch einmal miterleben müssen, dass einer seiner Freunde und Kollegen auf diese grausame Art und Weise das Zeitliche segnen würde. Besonders nicht in so einem jungen Alter. Frank hingegen war geblieben und hatte jede Beförderung ohne zu zögern ausgeschlagen. Auch er wollte nicht, dass so etwas nochmal passieren würde. Doch anders als Schwartzer, der lediglich das Weite gesucht hatte, um sich von den unangenehmen Tatsachen und Ereignissen zu distanzieren, wollte er sichergehen, dass er derjenige wäre, der als Erster die Tür öffnen würde, um niemanden sonst einer Gefahr auszusetzen. Auch wenn es mit den Jahren, dank seines zunehmenden Alters, der höheren Quote an Hitzköpfen und immer häufiger auftretenden Affekthandlungen, schwieriger wurde, sich und nicht andere in diese zu begeben. Immerhin hatte auch er mittlerweile seine besten Jahre hinter sich, obwohl er selbst es wohl nie für möglich gehalten hätte, dass dieser Zeitpunkt jemals tatsächlich kommen würde. Aber vermutlich war das der Grund, warum man sagte, dass mit dem Alter die Weisheit kommt. Je älter man wird, desto bewusster wird einem, dass das Leben alles andere als unbegrenzt ist. Die Weisheit liegt darin zu erkennen, dass das Leben nicht unendlich, sondern viel mehr das Endlichste ist, das es gibt. Es beginnt, indem wir geboren werden, und es endet als verfaulender Leichnam in einer Holzkiste, als Häufchen Asche in einer Urne auf dem Kamin unserer Kinder oder in ein Leinentuch gewickelt und mit Gewichten beschwert auf dem Grund irgendeines Gewässers. Es ist keine Gerade ohne Anfang und Ende. Es ist nicht mal eine Halbgerade, die zwar einen Ursprung hat, aber nie ein Ende findet. Das Leben ist eine Strecke. Klar begrenzt und auf Anfang und Ende datiert. Schlussendlich muss und wird jeder zu dieser Erkenntnis gelangen. Eine andere Möglichkeit kann es nicht geben.

      Konzentriert auf das Schreiben des recht kurzen Berichts merkte er kaum, wie sein Kollege Melkovich hinter ihm auftauchte und ihm auf die Schulter tippte.

      „Frank?“

      „Hm“, murmelte er fokussiert auf die schwarzen Buchstaben, die nach und nach vor ihm auf dem Bildschirm erschienen.

      „Ein Notruf aus Dulingen. Irgendein Spinner soll wohl versucht haben, sich als Supermarktmitarbeiter auszugeben und an den Schlüssel für die Kasse zu kommen“, erzählte er ihm in fast akzentfreiem Deutsch.

      Ivan Melkovich war Ukrainer und im Alter von zehn Jahren mit seinen Eltern zusammen nach Deutschland gezogen. Er war 2007 zur Polizei gekommen und arbeitete seitdem gemeinsam mit Frank im Streifendienst. Die beiden schätzten und respektierten sich nicht bloß im Berufsleben, sondern waren auch privat dem anderen gegenüber immer respektvoll und freundlich. Mit der Zeit hatte sich zwischen ihnen eine gute Freundschaft entwickelt, in der sie schon bereits das ein