Leon Grüne

Die Grenze


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er sich mit seinem stillen Gedankengang und versuchte, dessen Präsenz bestmöglich zu unterdrücken.

      „Ich hab dir ein Bild gemalt, Papa“, erzählte Merlin ihm und hoppelte leicht auf seinem Arm auf und ab. Kris schenkte ihm ein ehrliches Lächeln und küsste ihm die Wange.

      „Das ist aber lieb. Hast du Mami denn auch eins gemalt?“, fragte Kris und sah Merlin in die Augen. Sie waren eisblau und ein nahezu perfektes Spiegelbild zu seinen. Aufgeregt begann er zu nicken.

      „Da wird sie sich bestimmt drüber freuen“, sagte er und öffnete die Tür zur Rückbank. In aller Seelenruhe setzte er ihn auf seinen Kindersitz hinter dem Fahrersitz und schnallte ihn an. Als er ihn anschnallte, fiel ihm auf, dass die Ärmel seiner Jacke zu kurz waren und seine Arme bereits mehr aus den Öffnungen herausschauten, als sie eigentlich sollten. Innerlich machte er sich eine Notiz, dass er am Wochenende mit ihm und Juleen in die Stadt fahren müsste, um eine Neue zu besorgen. Vielleicht würde er seiner Frau dann auch ein kleines Geschenk kaufen. Er hatte ihr schon länger nichts mehr einfach so geschenkt. Wahrscheinlich gehörte das zu den Dingen, die, wie man so schön sagte, mit der Ehe immer weniger wurden. Doch Kris wollte nicht das Standardbild des immer weniger fürsorglichen und aufrichtigen Ehemanns sein, denn er liebte seine Frau immer noch über alles. Auch seine gelegentlichen Gedankenspiele, die sich um Merlins attraktive Erzieherin drehten, änderten nichts daran.

      „Ich bin sofort da, okay?“, versicherte er ihm und bückte sich in den Wagen hinunter.

      „Okay“, antwortete er knapp und untersuchte neugierig die Taschen seiner Jacke.

      „Ich liebe dich“, sagte er lächelnd, doch erhielt keine Antwort, da Merlin von der kleinen Superheldenfigur, die er gefunden hatte, so fasziniert war, dass er ihn gar nicht hörte. Leise schlug er die Autotür zu und wandte sich Charlene zu, die mit dem Rucksack von Merlin in der Hand am dunklen Holztor stand.

      „Harter Tag?“, fragte sie freundlich und reichte ihm den gelb-blauen Kinderrucksack.

      „Kann man so sagen“, erwiderte er und nahm ihr dankend den Rucksack aus der Hand. Ihr Dior-Parfum stieg ihm in die Nase. Nichts Billiges, so viel stand mal fest. Es war ein Weihnachtsgeschenk ihres Ex-Freundes gewesen, der als Bankier arbeitete und sie während der Arbeitszeit mit einer seiner Kundinnen auf der Angestelltentoilette betrogen hatte, weswegen sie schlussendlich die Beziehung für beendet erklärt hatte.

      „Kann ich mir gut vorstellen“, sagte sie und schmunzelte verlegen, da sie merkte, dass die Chance, ein richtiges Gespräch zu beginnen, gerade in den Minusbereich sank.

      „Wie macht Merlin sich? Gibt es irgendwelche Probleme mit ihm?“, fragte er höflich, um ihr die Verlegenheit ein wenig zu nehmen.

      „Er ist ein lieber Junge, und er hat eine unglaubliche Fantasie. Aber er ist oft alleine und findet keinen richtigen Anschluss, weil er sich lieber mit seinem eigenen Kopf beschäftigt als mit anderen“, erzählte sie ihm und sah den Jungen durch die Scheibe hindurch leicht bemitleidend an.

      „Er ist ein Träumer. Das sind die meisten Kinder in dem Alter.“

      „Ich hoffe, dass sich das schnell legen wird“, erklärte Kris und sah betreten den Asphalt unter seinen Füßen an.

      „Ich hoffe nicht“, seufzte sie.

      „Wieso?“, fragte er ein wenig beleidigt. Er war kein großartiger Fan von Widersprüchen. Seine ganz eigene Arroganz ließ etwas wie Gegenwehr oder andere Meinung nicht gerne zu, weswegen er ziemlich ungern Diskussionen über Themen führte, zu denen es vielfältige Meinungen gab, wovon er den meisten nichts abgewinnen konnte. Zustimmung war für ihn das höchste Gut, das er erhalten, aber nur sehr selten abgeben konnte.

      „Unsere Träume und unsere Fantasie sind oft das Einzige, das uns vor den Grausamkeiten des Lebens bewahren. Kinder leben sorglos, weil sie Träumer sind. Erst ab dem Zeitpunkt, in dem wir aufhören zu träumen, verlieren wir uns in Problemen und fangen an, das Leben als Krankheit und nicht als das Wunderland anzusehen, das es eigentlich sein sollte“, erklärte sie ihm.

      „Es ist besser, wenn die Kinder früh lernen, dass die Welt alles andere als ein Wunderland ist. Die Welt ist Korruption, Betrug, Arbeit und vor allem Geld. Man kann keine Prinzessin wie im Märchen oder Cowboy wie im Wilden Westen werden. Wir belügen sie, um ihnen nicht unverblümt ins Gesicht sagen zu müssen, dass die Welt kein Spielplatz, sondern ein Gefängnis ist“, erwiderte er verärgert. Bemitleidend sah Charlene ihn an.

      „Und genau deswegen mache ich diesen Job und nicht sie“, sagte sie langsam und mit einer Ruhe, die mehr als beneidenswert war.

      „Einen schönen Tag noch, Herr Doktor.“

      Mit diesen Worten machte sie auf dem Absatz kehrt und ging zurück in das Gebäude der Kita. Kopfschüttelnd, aber trotzdem nachdenklich stieg Kris in das Auto und legte den Rucksack zu seinem Sohn auf den Rücksitz. Nachdem er mit gesenktem Kopf einige Sekunden seinen Sohn im Rückspiegel ansah, startete er den Motor und ließ den Wagen vom Parkplatz rollen.

      17

      Eilig riss Andre die Fahrertür des Rettungswagens auf und sprang auf den Sitz hinter das Lenkrad. Theo, ein noch relativ junger Rettungssanitäter, schwang sich ebenfalls in aller Eile auf den Platz neben ihn und legte sich innerhalb von zwei Sekunden den Sicherheitsgurt an. An diesem Abend hätte Andre lieber einen anderen Kollegen bei sich gehabt. Jemanden mit etwas mehr Erfahrung, dem nichts erklärt werden musste, der einfach, ohne zu fragen, handelte und somit auch das ein oder andere Leben retten konnte.

      Doch heute sollte er derjenige sein, der Ton und Tempo vorgab. Es war nicht oft vorgekommen, dass er diese Verantwortung tragen musste. Zwar hatte er in seinem Metier immer eine gewisse Verantwortung, aber er fühlte sich wohler, wenn nicht er derjenige war, der Führungsqualität zeigen musste. 17 Jahre lang arbeitete er jetzt schon als Rettungssanitäter, und trotzdem hatte er in all diesen Jahren, weder im Beruf noch im Leben, gelernt, was es bedeutete, selbstständig zu sein.

      Nachdem er im Alter von 17 seine Ausbildung zum Tischler abgebrochen hatte, war er viel in der Berufswelt herumgekommen und hatte sich nicht selten in einem gänzlich anderen Arbeitsbereich ausprobiert. Nach seiner kurzweiligen Beschäftigung als Azubi bei dem Tischler in seinem Wohnort hatte er sich als Koch in einem Vier-Sterne-Restaurant versuchen wollen, aber schlussendlich die Ausbildung abgebrochen, weil der Beruf ihm keinen Spaß und für die mangelnde Freude nicht genügend Geld einbrachte. Mit 22 hatte er es als Einzelhandelskaufmann versuchen wollen, aber sich nach den ersten praktischen Einheiten dagegen entschieden, da er sich nicht wichtig, beziehungsweise relevant genug gefühlt hatte. Auch mehrere Unterredungen mit seiner Mutter, bei der er nach wie vor wohnte, halfen nicht, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.

      Als Nächstes landete er über einen engen Freund von ihm bei der Werksfeuerwehr des hiesigen Mischkonzerns BOSCH, wo er zum ersten Mal etwas wie einen leichten Anflug von Zufriedenheit verspürte. Doch trotzdem verwarf er auch diese Idee wieder, da er sich in seinem zweiten Ausbildungsjahr mit seinem Ausbilder anlegte, weil dieser ihn als unreif und kindisch bezeichnete, als er herausfand, dass Andre immer noch zuhause wohnte. Aus diesem Grund quittierte er seine dort angefangene Ausbildung und fand mit 26 schließlich seine große Liebe zum Beruf des Rettungssanitäters. Der Beruf bot ihm sowohl das Gefühl, gebraucht zu werden, als auch den nötigen Thrill und die Spannung, die er bisher bei seinen vorigen Ausbildungen so unwissentlich vermisst hatte. Doch er war schon lange nicht mehr 26 und das machte ihm am meisten zu schaffen. Bis er einen festen Job fand, fühlte er sich immer noch wie ein wohlig behütetes Kind unter der Obhut seiner Mutter, das nie erwachsen werden und auf eigenen Beinen stehen musste. Er hatte seit seinen Zwanzigern keine Frau mehr, außer natürlich digital, ohne Oberteil gesehen, und das letzte Mal, dass er in einer Beziehung gewesen war, lag sogar noch einige Jahre weiter zurück. Eigentlich hatte er nie wirklich eine richtige Beziehung, die als solches bezeichnet werden konnte, gehabt. Jetzt war jede Chance auf eine Frau oder gar Kinder für ihn vertan. Jedenfalls machte sein ungepflegt aussehender Bart in Kombination mit seiner großmütterlichen Brille und seinem von Zeit zu Zeit größer werdenden Bierbauch keinen