Leon Grüne

Die Grenze


Скачать книгу

fiel sogar fünfzehn – Jahre älter aus, als er eigentlich war, und auch der Zustand seiner übrig gebliebenen Gehirnzellen war mehr als fragwürdig.

      Jedes Mal, wenn seine Mutter das Haus für einige Zeit verließ und ihn bat, die Wäsche zu waschen oder das Geschirr in den Geschirrspüler einzuräumen, grenzte es beinahe an ein Wunder, wenn er es tatsächlich ohne Schäden am Inventar geschafft hatte. Meistens allerdings verzweifelte er kläglich daran, und im Endeffekt blieb es immer wieder an seiner fast 70 Jahre alten Mutter hängen, die nur jedes Mal wieder den Kopf schütteln und in sich hineinseufzen konnte, dass er zwar ein lieber Junge wäre, aber eben auch nie ein Mann geworden sei. Er hingegen sah das selbstverständlich ganz anders. In seinen Augen war er ein erwachsener, selbstständiger, lediglich von allen missverstandener Mann, der wichtig und für die Welt unersetzlich ist.

      Wenn man jedoch seinen Kollegen Glauben schenken mochte, dann konnte er froh sein, überhaupt diesen Job bekommen zu haben, und das auch nur, weil Rettungssanitäter so händeringend gesucht wurden. Doch dies war alles außerhalb seiner Wahrnehmung. Aus seinem Blickwinkel heraus war er nicht unnütz und lästig, sondern der gebrauchte Held. Nicht das Alter zeigte sich an ihm und er war keinesfalls unbeweglicher als früher, sondern sein Körper machte nur eine einstweilige Pause, von der er sich jederzeit wieder erholen könne. Er war nicht alleine und kindisch und Frauen widerten sich nicht vor ihm, sondern sie sahen nur, dass er zu gut für sei. Das war seine Sicht der Dinge, und sie war gut so. Für ihn jedenfalls. Es schadete nie, zufrieden mit seinem Leben zu sein. Und eben das war es, weswegen er trotz allem ein glücklicherer Mensch war, als die Meisten. Er wollte nicht viel und gab sich mit dem zufrieden, was das Leben ihm bot. Keine Sucht nach Erfolg, Sex oder der Ferne. Auch wenn es von außen nie so schien, war auch ein solches Leben es wert, akzeptiert und gewürdigt zu werden.

      Hastig drehte Andre den Zündschlüssel herum und ließ den Motor aufjaulen. Er schaltete das Blaulicht mitsamt der Sirene ein und fuhr aus dem geöffneten Tor in die Richtung, aus der der Notruf abgesetzt wurde. Erst einige Stunden, nachdem der Einsatz vorbei war, wunderte er sich, dass er auch dieses Mal wieder aus Dulingen kam. In aller Eile stiegen die beiden aus dem Wagen aus und rannten zur Tür, an der bereits die vollkommen aufgescheuchte Frau Nitz wartete.

      „Helfen Sie ihm! Helfen Sie meinem Jungen!“, kreischte sie in Tränen aufgelöst und zeigte zitternd auf die Treppe, die nach oben zu Eriks Zimmer führte. Ohne nachzufragen, rannten sie die Treppe hinauf und stürmten in das erste Zimmer auf der linken Seite des Flures. Eifrig kniete Andre sich neben das Bett, in dem, regungslos und friedlich wie ein Engel, Erik lag, und versuchte, ihn erfolglos anzusprechen, während Theo am Hals und wenige Sekunden später auch am Handgelenk des Jungen genauso erfolglos dessen Puls suchte. Einen Augenblick später legten die Rettungssanitäter das Kind unter den trauernden und schmerzerfüllten Blicken der Mutter auf den Holzboden und begannen, ihn zu reanimieren.

      Zehn Minuten später kam der Notarzt, der jedoch auch nicht mehr machen konnte, als den Tod des Jungen festzustellen. Wenig später verlagerten sie den toten Jungen in einem Leichensack auf die Trage und brachten ihn aus dem Haus. Mit einem leisen Klick fiel die Haustür ins Schloss. Die einzigen Geräusche, von denen das Haus noch erfüllt war, war das laute Weinen von Eriks Mutter und das des laufenden Fernsehers im Erdgeschoss. Am Boden zerstört kauerte sie sich in der Ecke vom Bett ihres gerade verstorbenen Kindes zusammen und weinte in das Kopfkissen, das sie in ihren Armen hielt.

      „Was ist los?“, fragte Harald aggressiv. Er stand in der offenen Zimmertür und hatte den ganzen Trubel mit einer Dose Bier in der Hand vor dem Fernseher gekonnt ignoriert. Seinem schäbigen Aussehen und seinem Geruch nach zu urteilen, war er betrunken. Die schwarze Dose, auf der in Weiß „5,0%“ geschrieben stand, war mit Sicherheit nicht die erste an diesem Abend gewesen. Auf seinem weißen Unterhemd prangten unzählige Flecken von Soße und Gewürzen, die er daran abgewischt hatte. Mit gereizten, roten Augen sah sie ihren Mann vom Bett aus an und schluchzte unverständlich in das Kissen vor ihrem Mund. Mittlerweile war die Seite, die ihr Gesicht trocknete, stark von Tränen und Speichel durchnässt.

      „Ich habe dich etwas gefragt“, betonte Harald wütend und näherte sich ihr mit langsamen Schritten.

      „Er ist tot!“, schrie sie ihn an und presste ihr Gesicht wieder laut schluchzend in das Kissen. Einen Moment blieb er stehen und sah seine weinende Frau an. Es war okay, dass sie weinte. Frauen taten so etwas immer wieder. Aus diesem Grund trafen auch Männer die wichtigen Entscheidungen, da sie nicht so schnell zu flennen begannen und sich alles zu Herzen nahmen. Solange sie ihm nicht auf die Nerven ging und Krach machen würde, sollte sie heulen, wie sie wollte. Er würde es nicht tun. Er war ein Mann und kein emotionales Waschweib, das anfangen würde, sich die Augen aus dem Kopf zu heulen.

      „Versager sterben immer früher“, sagte er trocken, als versuchte er, sie damit trösten zu wollen.

      Gleichgültig nahm er einen Schluck aus seiner Bierdose, stieß laut auf und verließ unter dem verstörten Blick seiner Frau das Zimmer, um sich wieder zu seiner Tüte Kartoffelchips vor den Fernseher zu setzen. In diesem Moment hasste sie ihn so abgrundtief, dass ihre Trauer für eine Sekunde in den Hintergrund geriet und sich in Hass verwandelte. Während sie sich selbst hinterfragte, wie sie jemals jemanden wie ihn geliebt haben konnte, versank ihr Gesicht wieder in dem Kissen, auf dem vor einer Viertelstunde noch ihr toter Sohn gelegen hatte.

      18

      Da war sie wieder. Angst. Beklemmende Angst. In den letzten Tagen hatte Kris sie immer wieder und so oft wie selten zuvor erlebt. Er hatte Angst verrückt zu werden, wie sein Bruder Benjamin es gewesen war.

      Im Alter von 15 Jahren wurde sein Bruder von ihrem Vater das erste Mal zu einem Neurologen geschickt. Ständig erzählte er von Feen und Elfen, die ihm den Weg ins Paradies zeigen wollten. Niemand hatte ihm geglaubt und als er wenige Wochen später immer noch nicht damit aufgehört hatte, zog sein Vater die Reißleine und gab ihn bei Dr. Winkler, einem ehemaligen Studienkollegen von ihm, in psychiatrische Behandlung. Doch bereits nach ein paar Sitzungen mit dem Jungen verflog jeder Gedanke daran, dass Benjamin bloß seine pubertäre Seite der Romantik und Weltflucht auslebte, wie es E.T.A. Hoffmanns junger Student Anselmus auch getan hatte. Anders als der Student, der in seiner Welt der Fantasie und der Mystik mit Serpentina in Atlantis bleiben konnte, konnte Benjamin nicht in seiner, in der Feen und Elfen ihn ins Paradies führen wollten, überdauern. So funktionierte die Welt der rational denkenden Menschen nicht, und aus diesem Grund musste man ihn aus seiner Traumwelt herausholen und in die Realität zurückbringen, um in dem System zu arbeiten, das alle anderen genauso hassten, wie er selbst.

      Kris Vater hatte Benjamin immer als das schwierige Kind bezeichnet, das nur Flausen im Kopf hätte und es nie zu etwas bringen würde, wenn er nicht anfangen würde, klarzukommen. Von Anfang an hatte er versucht, ihn in die Zwangsjacke der Realität zu stecken und ihm immer aufs Neue gepredigt, dass es wichtig wäre sich, nicht auf märchenhaften Schwachsinn, sondern auf Erfolg und Bildung zu konzentrieren. Das Märchen bringt dich in die Klinik, die Bildung führt dich in den Wohlstand.

      Auch Kris hatte die Weltanschauung seines Vaters aufgezwängt bekommen, allerdings nicht mit der Härte, die Benjamin erleben musste. Man konnte ihrem Vater zwar viel Realismus vorwerfen, aber nicht, dass er stets in der neuen Zeit lebte. Denn obwohl das Mittelalter bereits lange vorbei war, dachte er immer noch in dem Schema des erbenden Erstgeborenen, weswegen sein Hauptaugenmerk in allen erzieherischen Maßnahmen auf Benjamin ruhte. Kris war bloß die zweite Geige, die erst dann ins Spiel kommen würde, wenn Benjamin entweder tot oder aufgrund irgendeines Umstandes von ihm enterbt worden wäre. Und eben dieser Gedanke hatte sich ihm immer häufiger aufgedrängt, während er seinen Sohn in Behandlung schickte. Er versuchte gar nicht erst, sich selbst als Ursache für die psychischen Probleme seines Kindes verantwortlich zu machen. Den einzigen Vorwurf, den er sich machte, war, dass er ihn auf irgendeine Weise trotzdem liebte.

       Schuld war etwas, das Philosophen und andere Theoretiker diskutieren sollten.

      Er liebte ein Kind, das der Überzeugung war, dass Feen und Elfen existieren würden. Tiefer konnte er schlichtweg nicht mehr sinken. Nachdem Benjamin seine erste Behandlung