Leon Grüne

Die Grenze


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hatten und er trotz dessen in der fünften Klasse noch eine Ehrenrunde drehen musste, um nicht auf eine Sonderschule geschickt zu werden. Er war groß, stämmig und außerdem vierzehn Jahre alt und somit fast zwei Jahre älter als der Rest der Kinder aus dem Jahrgang, den er besuchte.

      „Verzieh dich“, drohte Mark ihm zornig, wobei seine Drohung mehr wie eine kleinlaute Bitte, nicht verprügelt zu werden, klang. Erik hatte ihn schon oft mit blauen Flecken und Rissen in seinen Brillengläsern nach Hause geschickt, weil Mark sich aufgrund seiner Angst und Feigheit, den Mund gegenüber einem Lehrer oder gar seinen Eltern aufzumachen, als das perfekte Opfer seiner Gemeinheiten eignete. Mark war klein, ein wenig pummelig und trug eine Brille. Er war im Grunde genommen also wie dafür geboren, die Fresse eingeschlagen zu bekommen.

      „Halt die Klappe, Speckie“, blaffte er ihn an und wandte sich Jonas zu, der immer noch geistesabwesend den Kopf in seinen Armen versteckte und gewissermaßen die Vogelstrauß-Taktik ohne Sand ausführte.

      „Hab gehört, deinen Bruder hats erlegt, hä? Weißt du, was mein Vater gesagt hat?“, fragte er und beugte sich zu ihm hinunter, bis sein Gesicht auf einer Höhe mit Jonas gesenktem Kopf war.

      „Lass ihn in Ruhe, Erik!“, versuchte Mark es dieses Mal mit ein wenig mehr, aber trotzdem kaum hörbarer, Kraft in der Stimme.

      „Wenn du nicht die Schnauze hältst, dann nehme ich deine Brille und schiebe sie dir in deinen Fettarsch, kapiert?“, grunzte Erik ihn wütend an.

      Ängstlich verstummte Mark, blieb aber trotzdem mit rotem Kopf neben seinem Freund sitzen. Vielleicht auch einfach, weil er wissen wollte, was passieren würde. Einen anderen logisch erkenntlichen Grund gab es jedenfalls nicht, denn es war zu offensichtlich, dass Erik nicht vorhatte, die Pause ohne ein paar Schläge seinerseits zu beenden.

      „Weißt du, was mein großer Bruder gesagt hat, als er davon gehört hat?“

      Ein weiteres Anzeichen von Eriks geistiger Schwäche war, obwohl allein seine Art, jedes Wort am Ende eines Satzes unnötig in die Länge zu ziehen, zur Genüge davon zeugte, dass er bei jeder Gelegenheit auf seinen Vater oder seinen großen Bruder verwies. Beide waren wie er nicht sonderlich intelligent, geschweige denn begabt, aber grade deswegen waren sie seine Vorbilder. Sein Bruder, der mit siebzehn seinen Hauptschulabschluss geschafft hatte, war nach absolvierter Ausbildung auf die Baustelle gegangen, wo er sich bis zur für ihn mit Sicherheit mickrigen Rente seine Gelenke und seinen Rücken kaputtschuften durfte. Eriks Vater hingegen hatte es sogar geschafft, eine Ausbildung zum Straßenwärter zu machen und arbeitete nun seit mittlerweile fast dreißig Jahren im öffentlichen Dienst bei der Straßenbauverwaltung der Stadt Dulingen. Keine geistige Meisterleistung, aber die strebte Erik auch nicht an. Alles, was er wollte, war arbeiten und Geld verdienen, ohne sich zu sehr anstrengen zu müssen, wobei Anstrengung für ihn bloß auf geistiger Ebene durch den Versuch zu denken vorkam. So waren sein Vater und sein Bruder in dem Sinne also seine idealen Vorbilder.

      „Gut, dass der kleine Wichser tot ist. Noch eine Schwuchtel weniger“, zitierte er seinen Bruder, während er Jonas schief angrinste.

      „Hör endlich auf, Erik!“, keifte Mark ihn an. Dieses Mal mit hörbarer Wut. Zornig sprang Mark auf und schubste den vor Jonas hockenden Erik um. Erik verlor das Gleichgewicht und plumpste wie ein nasser Sack nach hinten auf die noch leicht vom nächtlichen Regen befeuchtete Erde.

      „Na warte du …“, schimpfte Erik, als er sich wieder aufrappelte und Mark, der den verzweifelten Versuch gestartet hatte wegzulaufen, sämtliche Beleidigungen und Flüche hinterherrief. Mark kam wenige Stunden später mit blutiger Lippe, blauem Auge und einer weiteren zerbrochenen Brille nach Hause. Jonas blieb von Eriks Wutausbruch verschont. Zumindest heute.

      6

      Angestrengt nahm Kris die Lesebrille von seiner Nase und legte sie vor sich auf den Schreibtisch. Er hatte gerade einige Gespräche mit seinen Psychos hinter sich, die den zeitlichen Rahmen mehr als einfach nur gesprengt hatten. Psychos, wie er sie gerne nannte, waren meist ältere Patienten von ihm, die eigentlich nur zu ihm kamen, weil es ihnen zuhause zu langweilig wurde und sie hofften, dass er etwas finden, würde, um sie als krank diagnostizieren zu können. Nicht, weil sie gerne krank sein wollten, sondern weil sie dann etwas hätten, worüber sie sich beklagen könnten, um etwas Abwechslung in ihren öden und langweiligen Alltag zu bringen. Sie waren schon mit einer Erkältung zufrieden, denn dies konnten sie Freunden, falls sie denn welche hatten oder meist einfach dem Nächstbesten, dem sie auf der Straße begegnen würden, als Bronchitis oder schwere Lungenentzündung verkaufen. Sie scherten sich nicht darum, wie es um andere stand, sondern interessierten sich hauptsächlich für das eigene Wohl. Kinder hatten sie meist keine, und wenn doch, waren sie entweder auch zu Psychos mutiert, oder sie hatten sie schon längst vergrault. Ein Psycho unterhielt sich am liebsten mit drei Gruppen von Menschen: Ärzten, anderen Psychos und jungen Erwachsenen, die ihnen, naiv wie sie oft waren, alles aufs Wort glaubten. Kritik oder gar Widerspruch duldeten sie keinen, außer er kam von ihrem Arzt und führte dazu, dass sie Medikamente bekommen oder sich längere Zeit ausruhen sollten, denn auch dies war wieder Gesprächsstoff, den man rumerzählen und dramatisieren konnte. Die Lieblingsbeschäftigungen der Psychos waren zum einen der Besuch bei ihrem Hausarzt, das Recherchieren von alternativen Fakten und Behandlungsmethoden – Krebs lässt sich mit homöopathischen Medikamenten heilen, vielleicht sollten sie das in Erwägung ziehen Doktor – und das Philosophieren über ihre unerträglichen Schmerzen, um sich dann als tapfer und stark aufzutun, dass sie diese durchstehen würden. Was sie außerdem mit Hingabe und viel Leidenschaft taten, war das Kommandieren anderer, denn Psychos liebten es, wenn sie sich selbst mit gutem Gewissen als intelligente und starke Führungspersonen ansehen können. Sie prahlen gerne vor ihrem Arzt mit Geschichten aus ihrem Leben, welches sie in den häufigsten Fällen bei der Post oder als Putzkraft verbracht haben und mit Wissen, welches sie sich durch das wundersame, aber doch allzeit wahrheitsgemäße Medium Internet angeeignet haben. Sie als philiströs oder spießbürgerlich zu bezeichnen, wäre mehr als verwerflich, denn schließlich waren sie ja, neben ihrem Hausarzt und ihrem ganz eigenen Arzt, namens Dr. Google, die einzig wirklich Aufgeklärten. So waren doch eigentlich nicht sie die Philister der heutigen Zeit, sondern der Rest der Menschheit einfach nur zu ignorant, ihren Intellekt zu würdigen. Die Bezeichnung als Erleuchtete oder als Reindenkende wäre der Wahrheit entsprechend weitaus angebrachter.

      Doch zu seinem Glück waren es die letzten Erleuchteten, die er heute in der Sprechstunde betreuen musste. Sie hatten sich, nachdem klar war, dass er die Praxis am Montag wegen seines Umzugs schließen würde, sofort einen Termin für Dienstag machen lassen. Schließlich war der Herr Doktor ja Ewigkeiten nicht erreichbar gewesen, und man würde mit Sicherheit ein leichtes Ziehen im linken Ohrläppchen verspüren, das laut Dr. Google ein Vorbote für ein Magengeschwür, wenn nicht sogar für Hodenkrebs – ja auch bei der weiblichen Fraktion war dies durchaus beängstigend – sein konnte. Kris hatte schon etliche Psychos gehabt, die der Meinung waren, dass sie ihrer Diabetes nicht mit Insulinspritzen, sondern mit Roibuschtee, den man mit einer Hand voll Globuli einnehmen musste, entgegenwirken konnten. Wegschicken konnte er sie nicht, denn schließlich war auch geistige Armut in gewisser Weise eine Krankheit, gegen die es jedoch kein Heilmittel gab. Er könnte sie höchstens an einen Kollegen weiterleiten, der mit Menschen, die geistig verwirrt waren, arbeite, aber auch dabei stellte eine Eigenschaft der Psychos ein Problem dar, nämlich ihre Freude und Bereitschaft, ihr Verhalten in Sekundenschnelle anzupassen, sodass jeder durchschnittliche Neurologe Kris den Vogel zeigen würde, wenn er versuchen würde, ihm beizubringen, dass diese Patienten ein geistiges Problem hätten. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als sich ihnen, ihren Leidensgeschichten und neuen Erkenntnissen aus den Untiefen des World Wide Web zu stellen. Also Augen zu - die Ohren wären ihm in diesem Fall zwar lieber, aber was sollte er schon machen - und durch. Amen.

      Er wischte sich mit den Händen über die Augenlider und gähnte müde. Die Uhr mit dem Schmetterlingsverschluss an seinem Handgelenk tickte fast stumm vor sich hin. Langsam wanderte der Minutenzeiger auf die neun, so dass er mit dem Stundenzeiger beinahe eine grade Linie bildete. Mal wieder war er fast drei Stunden länger in der Sprechstunde gewesen,