Leon Grüne

Die Grenze


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was er hörte, war nichts Erfreuliches. Wie so oft schien Benjamin sich wieder einen Vortrag über den aktuellen Aktienkurs und sinnvolle Investments der Zukunft anhören zu müssen.

      „...das Gold liegt in den Immobilien. Mit ihnen wirst du dir ein Vermögen aufbauen können, von dem die meisten nur träumen können. Frederick Trump hat das erkannt und so angefangen sein Geld zu machen. Seine Mutter musste sein Unternehmen gründen, weil er noch zu jung dafür war, aber er hat Rückgrat und Können bewiesen und ist zu dem geworden, was er jetzt ist. Ich meine, sieh dir nur an wie ...“

      So ging das Gespräch – eher der Monolog seines Vaters – pausenlos weiter und mit jedem Wort, das von den beiden zu ihm nach vorne durchdrang, war Kris ein Stück weit glücklicher, dass er nicht sein Bruder war.

      „Was ist eigentlich mit diesem Mädchen, mit dem du dich triffst?“, fragte seine Mutter schmunzelnd. Vollkommen perplex und auch mit einer gewissen Röte stierte er sie an.

      „Wie kommst du darauf?“, fragte er überfordert und versuchte seine Unschuld hinter einem verlegenen Lachen zu verbergen. Er war jetzt fünfzehn Jahre alt und zum ersten Mal richtig verliebt in ein Mädchen, das gemeinsam mit ihm in eine Klasse ging.

      „Du hast dich noch nie so oft mit deinen Freunden verabredet wie in den letzten zwei Monaten, und du besetzt andauernd das Telefon“, sagte sie und lächelte ihn verschmitzt an. Im Gegensatz zu Benjamin wurde Kris nicht von allen Freuden und Freizeitaktivitäten isoliert, um sich den wichtigen und intellektuellen Dingen hinzugeben. Es war nicht notwendig, dass auch er auf ein so erfolgsorientiertes Leben geprägt werden würde, wenn Benjamin es bereits wurde. Man brauchte schließlich keine zwei Thronerben. Da war es in Ordnung, wenn die „Vertretung“ des Haupterben nicht demselben Ideal entsprechen würde. Verdutzt und mit einem nervösen Lächeln senkte er den Blick auf die Kieselsteine, die vor ihm auf dem Weg lagen.

      „Aber das muss doch nicht zwangsläufig bedeuten, dass ... nun ja, dass es da jemanden gibt“, versuchte er sich verlegen rauszureden.

      „Ich bin deine Mutter. Du kannst mir nichts vormachen.“

      Sprachlos und überfordert kratzte er sich am Hinterkopf.

      „Wie heißt sie denn?“

      „Mia“, antwortete er nach anfänglichem Zögern und sein nervöses Lächeln verlor mit einem Mal jede Spur von Verlegenheit.

      In diesem Moment liebte er seine Mutter noch mehr, als ohnehin schon und war glücklich, dass er endlich kein Geheimnis mehr aus seiner heimlichen Schwärmerei machen musste. Jeder, der Ähnliches schon einmal erlebt hatte, kannte das Gefühl von Erleichterung und Zuneigung, das einen überkam, wenn man das erste Mal vor seiner Mutter von dem Mädchen zu schwärmen begann, mit welchem man sich eine schöne Zukunft erträumte. Es war kein Gefühl, das man mit Leichtigkeit beschreiben oder in Worten präzise ausdrücken konnte. Man müsste ein eigenes Wort erfinden, das die Emotionen und die Gedanken, die in diesem Moment über einen selbst hineinbrechen, beschreiben könnte, doch es gab kein Wort, welches so viele Gedanken zusammenfassen könnte.

      „Wie ist sie so?“, löcherte seine Mutter ihn gnadenlos.

      „Sie ist ...“, begann Kris glücklich, aber wurde just von seinem Vater unterbrochen, der hinter ihnen zu brüllen anfing.

      „Was machst du denn da?!“, tönte die laute wütende Stimme seines Vaters empört.

      „Sie sind da! Siehst du sie nicht? Da auf dem See!“, entgegnete Benjamin aufgeregt und versuchte, sich von seinem Vater loszureißen, der ihn am Arm gepackt hatte. In Sekundenschnelle hatten Kris und seine Mutter sich zu ihnen herumgedreht und sahen das groteske Schauspiel, das sich gut dreißig Meter hinter ihnen vollzog. Wie ein Wahnsinniger zog Benjamin an dem Arm seines Vaters, um ihn näher an den See zu bringen, und wurde gleichzeitig von diesem festgehalten, dass er nicht wegrennen konnte.

      „Hör sofort auf mit dem Unsinn!“, brüllte er seinen Sohn an und riss ihn gewaltsam einen halben Meter zurück.

      „Sie rufen mich Vater, hörst du es nicht?“, redete Benjamin unbeeindruckt weiter vor sich hin. Neben Kris und seiner Mutter kam ein Jogger zum Stehen und beobachtete die Szene aufmerksam.

      „Ich warne dich Benni, wenn du nicht sofort aufhörst, dann stecke ich dich bis an dein Lebensende in die Psychiatrie!“

      „Sieh doch, Vater, wie sie mir zuwinken. Sieh doch, wie sie sich freuen, dass wir zu ihnen kommen.“

      „Du kommst nur noch in eine Gummizelle, so, wie du mich hier zum Affen machst! Du bist ja vollkommen wahnsinnig!“, erwiderte sein Vater aggressiv.

      Geschickt drehte Benjamin sich so aus dem eisernen Griff seines Vaters heraus, dass dieser lang hinschlug und sich die Wange an einem scharfkantigen Stein, der auf dem Weg lag, aufschnitt.

      „Hörst du nicht ihr liebliches Lachen? Siehst du nicht, wie sie mich zu sich winken?“, fragte Benjamin und begann auf den zugefrorenen See zu gehen.

      „Bleib sofort stehen!“, brüllte sein Vater schwer atmend und versuchte, sich auf dem rutschigen Boden aufzurichten. Seine gesamte Kleidung war beschmutzt mit Erde, und einige Wasserflecken von dem geschmolzenen Schnee prangten auf seinem Mantel wie Flecken von verspritzter Tinte. Ein altes Ehepaar ging beschämt an ihm vorbei und versuchte den Blick bestmöglich auf etwas anderes zu richten. Aus irgendeinem Grund schien der Kies, auf dem sie gingen, besonders interessant geworden zu sein.

      „Benni nein!“, brüllte nun auch seine Mutter panisch. Der Schock des Unerwarteten hatte Kris so stark getroffen, dass er immer noch unfähig zu sprechen oder sich zu bewegen auf der Stelle verharrte. Hinter Benjamin begannen sich Risse auf der dünnen Eisschicht des Sees zu bilden. Etwa fünfzig Meter fehlten ihm noch, dann wäre er in der Mitte des Sees angelangt.

      „Führt mich, ihr wundersamen Lichtgestalten. Nehmt mich mit euch ins Paradies“, rief er voller Freude und mit einem Strahlen, das sich über sein ganzes Gesicht ausbreitete.

      „Junge, komm zurück!“, brüllte sein Vater zornig, aber auch mit Sorge in der Stimme. Scheinbar verbarg sich hinter dem harten Kern in seiner Brust doch noch ein Hauch von väterlicher Liebe für sein eigen Fleisch und Blut. Mit einem Mal blieb Benjamin kurz vor der Mitte des Sees stehen und schaute fasziniert in den Himmel.

      „Kris! Mutter! Seht ihr sie? Seht ihr nicht auch Aphrodite? Seht ihr, wie sie uns den Weg ins Paradies zeigen will? Seht ihr sie?“, rief er laut und zeigte hüpfend vor Freude in das blaue unendliche Nichts des klaren Himmels.

      „Benni, komm wieder her!“, schrie sie ängstlich. Die Risse in dem Eis wurden mit jedem Sprung, den Benjamin machte, größer und bedrohlicher. Von diesem Moment an spielte sich Kris Erinnerung an diesen Morgen nur noch wie in Zeitlupe ab. Abrupt hörte Benjamin auf zu springen und warf seiner Mutter ein warmes Lächeln zu. Eine Träne rollte über ihre Wange und fiel lautlos auf den matschigen Kiesweg unter ihren Füßen. In einiger Entfernung machte Kris Vater einen Schritt aufs Eis, um zu Benjamin zu gelangen und ihn vom Eis wieder herunterzuholen. Dann passierte das, was sich von der ersten Sekunde an, in der er auf den See gerannt war, angebahnt hatte, und das Eis begann mit einem deutlich hörbaren Knacken unter seinen Füßen zu brechen. Noch ehe Kris oder seine Eltern realisieren konnten, was passiert war, versank Benjamin in sein dunkles, kühles Wassergrab. Das Einzige, woran Kris sich später noch erinnern konnte, war, dass er Minuten später, als die Rettungskräfte kamen, glaubte, ein paar Lichterkugeln über der Stelle tanzen zu sehen, an der sein Bruder versunken war.

      2 Zwanzig Jahre später

      In der Nacht vom 20. auf den 21. September gingen die Sirenen. Ungestört raste der Rettungswagen über die leeren Straßen auf dem Weg zu dem Einfamilienhaus, aus dem der Hilferuf des völlig aufgewühlten Vaters eingegangen war. Doch an diesem Abend, so wie an vielen folgenden Abenden, lärmten die Sirenen des Rettungswagens vergeblich, denn der Junge war bereits tot.