Leon Grüne

Die Grenze


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war eine glanzlose Stadt. Sie war weder für ihre vielfältigen Einkaufs- oder Shoppingmöglichkeiten bekannt, noch konnte sie mit einer besonders interessanten Geschichte dienlich sein. Dulingen war ein Nichts. Dulingen war Staub und Ziegel. Im Mittelalter einmal war sie kurz davor, zu einer Grafschaft aufzusteigen und ein nicht grade unbedeutender Handelspartner von Karl IV. zu werden, aber das war auch schon alles, was es Interessantes zu sagen gab. Die Pest, auch bekannt als schwarzer Tod, verwehrte den Dulingern jedoch die Möglichkeit des Aufstiegs. Denn durch die Krankheit halbierte sich die Bevölkerung in der Mitte des 14. Jahrhunderts, und sie verlor sowohl Land, als auch Einfluss und Ressourcen. Inzwischen ist Dulingen zu einer Kleinstadt mit knapp fünftausend Einwohnern, einer weiterführenden Gesamtschule, einem Supermarkt, einem eigentlich viel zu kleinen Sportplatz mit einer Aschelaufbahn, einer veralteten Turnhalle, reichlich Kleinkrämerläden und einem US-amerikanischen Automobilzulieferer, der dort einen seiner vielen Auslandsstandorte bezog, geworden. Nicht mehr als ein unauffälliger Fleck auf der Landkarte zwischen Barsinghausen und Springe, den man nur beim genauen Hinsehen entdecken würde. Alles in allem war es eine ziemlich charme- und reizlose Kleinstadt, die man möglichst schnell hinter sich lassen wollte.

      Die Menschen in Dulingen waren, grob zusammengefasst, zum Großteil junge Erwachsene und frisch gebackene Eltern, die auf der Suche nach einer nicht allzu teuren, aber trotzdem halbwegs annehmbaren Wohngelegenheit dort gelandet waren. Man könnte es ebenso gut als Stadt der gescheiterten Träume bezeichnen, denn die meisten, die nach Dulingen zogen, wollten das große Glück oder noch besser das große Geld machen und recht schleunigst wieder verschwinden, nachdem sie erfolgreich geworden wären. Doch die Zahl derjenigen, die es tatsächlich aus Dulingen geschafft und das große Geld gemacht hatten, war so gering, dass man sie sogar an einer Hand abzählen konnte, die einem Mann – oder auch einer Frau, wenn sie so wollen – gehörte, die bereits den Zeige- und Mittelfinger hätte einbüßen müssen.

      Im März 1992 gelang Christopher Herzig sein endgültiger Durchbruch in seiner jungen Schauspielkarriere, und er wurde für die Hauptrolle eines Filmes engagiert, bei dem der berühmte Wim Wenders Regie führen sollte. Dabei war Wenders so begeistert von ihm, dass er ihn einen Vertrag für vier weitere Filme unterschrieben ließ, die er auf die internationale Bühne bringen wollte. Die Gage des ersten Filmes reichte aus, dass die Bank ihm einen Kredit gewährte, der ihm den Kauf eines eigenen Hauses in einem Vorort von Berlin erlaubte. Noch während der Dreharbeiten des ersten Filmes starben seine Eltern, und er verfiel in eine schwere Depression, die ihn schließlich in den Suizid trieb, indem er sich vor den Zug warf. Genau genommen war er also nie wirklich aus Dulingen weggekommen, denn er hatte zwar das Haus, in das er ziehen wollte, schon gekauft, aber umgezogen war er noch nicht. Doch auch die anderen beiden hatten Dulingen nie tatsächlich verlassen.

      Melvin Stiehl erbte 2004 von seinem verstorbenen Vater ein Haus an der Nordsee, sowie mehrere tausend Euro, mit denen er sich an der Küste ein neues Leben aufbauen wollte. Doch er hatte nicht nur die schönen Dinge im Leben von seinem Alten vererbt bekommen, sondern auch einen Herzfehler, der ihm, kurz nachdem er sein neues Heim betreten hatte, den Gnadenstoß gab.

      Der Letzte der drei, Georg Kempf, war ein junger Mann, welcher im Juni 2006 seine Verlobte geheiratet hatte und sich entschloss, zu ihr nach Göttingen zu ziehen. Als er auf der Autobahn einen LKW überholte, raste ihm ein neunzehnjähriger Bursche schräg von hinten in das Heck, sodass sein Wagen sich mehrmals überschlug, wobei er sich nicht nur seine Arme und Beine, sondern auch sein Genick brach. Zwar wurde der Raser wegen seiner Teilnahme an illegalen Straßenrennen für sieben Jahre in den Bau geschickt, aber auch das brachte das verunglückte Ehepaar nicht wieder unter die Lebenden.

      Man konnte also sagen, dass Dulingen nicht, wie viele es wollten, ein Ort auf der Durchreise, sondern ein Ort für das gesamte Leben vor und nach dem Tod sei. Es war, als wenn der Ort die Menschen verschluckte und nicht wieder freigab. Nicht einmal nach ihrem Tod waren die drei aus Dulingen herausgekommen. Man hatte sie allesamt auf dem christlichen Friedhof von Dulingen, unweit der Kirche, beerdigen lassen.

      „Sieh einer an. Schon wieder eine verlorene Seele“, witzelten die Ortsälteren jedes Mal, wenn sie ein neues junges Paar in der Stadt sahen, ohne zu wissen, wie Recht sie im Endeffekt damit hatten.

      4

      Es war ein sonniger Montagmorgen, an dem Kris zusammen mit seiner frisch verheirateten Juleen in das kleine Haus am Ende der Herrenhäuser Straße einzog. Ihr vierjähriger Sohn, Merlin, lief aufgeregt zwischen den Handwerkern und den Möbelpackern der Umzugsgesellschaft hin und her. Während seine Mutter ihn grade zum ungefähr tausendsten Mal ermahnte, dass er das ewige Rumgerenne doch bitte unterlassen solle, wies Kris die Möbelpacker an, das Ehebett, welches sie vorher für den Transport zum Teil auseinandergebaut hatten, in das Schlafzimmer zu bringen. Die Spedition, die sie für ihren Umzug engagiert hatten, war zum Glück alles andere als unkoordiniert, sodass der große Lastwagen mitsamt den Möbelpackern Dulingen gegen Mittag bereits wieder verließ. Eine halbe Stunde später, nachdem die Satellitenschüssel auf dem Dach angebracht und mit dem Fernseher verbunden worden war, verließ auch der schmierige Elektriker mit Haaren, die vor Fett nur so glänzten, das Haus.

      Am Nachmittag waren auch Kris und Juleen mit dem Einräumen der letzten Sachen fertig und ließen sich erschöpft auf das große Sofa neben Merlin fallen, der bereits den Kinderkanal auf dem Fernseher für sich entdeckt hatte. Heute würden sie ihm etwas mehr Freiheiten gewähren als sonst. Schließlich war es auch für ihn ein aufwühlender und mit Sicherheit auch anstrengender Tag gewesen. Sollte er heute ruhig etwas Aufregung abbauen können, ehe er ab morgen wieder seine geregelten Fernsehzeiten – von 12 bis 13 Uhr und von 17 bis 18:30 Uhr - bekommen würde.

      Gegen halb sechs machten die drei sich auf den Weg und erkundeten ihre neue Umgebung ein wenig. Zwar hatten sie das schon, nachdem sie sich das Haus angesehen und für sich entschieden hatten, dass sie es kaufen würden, aber immerhin lag dies auch schon ein paar Monate zurück. Auf dem Rückweg kauften sie in der Bäckerei, die sich im Eingangsbereich des Supermarktes befand, für sich einen Käsekuchen und für Merlin ein Stück Schokoladenkuchen mit Vanillepudding. Beides war verhältnismäßig trocken und schmeckte ziemlich langweilig, aber auch das spielte heute keine Rolle. Heute war es in Ordnung, dass nicht alles nach Plan lief.

      Wieder zuhause angekommen, - Merlin trank einen Kakao mit drei Löffeln Pulver anstatt der üblichen zwei, denn heute war auch das in Ordnung - befüllte Kris die Kaffeemaschine für fünf Tassen Kaffee und setzte sich mit seiner braunen Ledermappe voller Briefe und anderer zu unterschreibender Dokumente auf einen der Holzstühle mit rotem Sitzpolster an den langen, rechteckigen Esstisch. Er war Arzt und hatte sich, nach nicht ganz zehn Jahren im Krankenhaus, entschieden eine eigene Praxis zu führen. Nach etlichen Bewerbungen, die alle gnadenlos abgeschmettert wurden, fand er schließlich einen Arzt in Dulingen, Dr. Beram, der für seine Praxis einen Nachfolger suchte. Umgehend schickte er seine Bewerbung ab und bekam zwei Tage später die Einladung für ein Bewerbungsgespräch.

      Nachdem er zwei Jahre bei ihm als Assistenzarzt gearbeitet hatte, ging Dr. Beram in Rente und übertrug die Führung der Praxis an Kris, der wenig später aus diesem Grund in die nähere Umgebung der Praxis, nach Dulingen, zog. Nicht wenige, um genau zu sein zwei Drittel seiner Patienten, wohnten genau wie er in Dulingen und kamen jeden Montag bis Freitag zu ihm in die Praxis, um ihm von ihren Leidensgeschichten und anderen Wehwehchen zu berichten. Da er weder ein Verfechter der simplen Drei-Minuten-Medizin, noch der unorthodoxen Methode, alles im kompliziertesten und unverständlichsten Fachlatein zu erklären, das nur er selbst verstand, war, nahm er sich immer besonders Zeit für seine Patienten. Natürlich beanspruchte dies auch seine Zeit und seine Sprechstunden dauerten meist deutlich länger, als es auf dem Schild neben der Eingangstür stand, und wie immer beschwerten sich seine Patienten über die langen Wartezeiten, wollten aber zugleich selbst eine halbe Stunde mit dem Herrn Doktor reden. Wenn man selbst etwas hinnehmen muss, ist man der Erste, der direkt zeter und mordio schreit, aber wenn andere einen Nachteil haben, heißt es, dass sie sich doch nicht so anstellen sollen. Manchmal ist es schwer zu glauben, dass der Mensch tatsächlich ein intelligentes Lebewesen sein soll. Würden die verstaubten und knochigen Wissenschaftler eines