Levi Krongold

Viktor


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etwas. Für mich gibt es immer noch nichts Erfreulicheres als in dem kleinen Bistro am See zu sitzen und meine Gedanken schweifen zu lassen. Heute am frühen Nachmittag war hier noch nicht viel los. Ich checkte mittels Chip ein und ließ mir vom Getränke-Bot einen altertümliche. »Cafe Latte« servieren, setzte mich bequem in den Liegesessel vor die Monitorwand und schaltete das sommerliche Seeambiente dazu, denn der reale See lag derzeit im vorwinterlichen Graubraun. Sogleich erblühten die kahlen Bäume in virtueller Blätterpracht, zwitscherten längst ausgestorbene Vogelarten und wehte ein angenehmer, nach frischem Grün riechender Duft heran.

      Was für ein Tag!

      Mit einem Seufzer setzte ich das Kaffeeglas ab und schaute mich nach den wenigen Anwesenden um. Einige saßen mit ihren Virtual-Reality-Brillen ruhig in ihren Sesseln, andere machten es wie ich und benutzten nur den Monitor. Der in die Sessellehne eingebaute Screen zeigte nur eine Person an, die gesprächsbereit gewesen wäre, aber ich beachtete diesen Hinweis nicht, sondern schaltete mich auf offline.

      In Gedanken ließ ich die heutigen Ereignisse Revue passieren. Alles, aber auch alles war bislang an diesem Tag merkwürdig. Ich schien plötzlich in höchst beunruhigende Ereignisse verwickelt, die eine unangenehme Vorahnung in mir hinterlassen hatten, ein unbestimmtes Gefühl der Unruhe in mir erzeugten, ohne dass ich hätte sagen können, wovor ich Angst bekommen hätte. Einerseits drängte es mich, den Fall Montenièr lieber zurückzugeben, andererseits spürte ich auch eine zunehmende Neugierde, geradezu eine Abenteuerlust, mich in dies Unternehmen zu stürzen. Denn abenteuerlich ließ es sich ja bereits an. Ich musste mit jemandem sprechen, nur leider war in meinem Privatleben auf fast allen Kanälen Sendepause. Meine Frau Iris hatte sich in ihren Beruf verabschiedet und dort eine neue Beziehung angefangen. Meine Tochter Clarissa schied ebenfalls aus, ich wollte sie nicht in die Probleme der Erwachsenenwelt hineinziehen. Sie saß derzeit zwischen allen Stühlen und zog es vor, tagsüber lieber in Ruhe ihr Telestudium zu absolvieren. Ohnehin wusste sie derzeit nicht, ob sie Fisch oder Fleisch sein sollte, da sowohl die Pubertät als auch die Trennung von meiner Frau sie in eine schwierige Situation gebracht hatten. Sie meldete sich so gut wie überhaupt nicht mehr bei mir, und wenn, dann nur um Forderungen an mich zu stellen. Das schmerzte.

      Die Kyperbekanntschaften waren erwiesenermaßen genauso fleischlos wie unverbindlich, mein psychiatrischer Supervisor schied momentan aus, weil... weil... Er schied eben aus. Ein Psychobot tat es auch manchmal, wenn man die Erwartungen, die man an ein Gespräch mit einem Computerprogramm hatte, nicht zu hoch ansetzte. Ich schaltete die Musik ein, Vivaldi, das beruhigte mich sonst immer. Aber anstatt ruhiger zu werden, wurde ich immer nervöser, bis ich mich schließlich dabei ertappte, dass ich wie ein Maschinengewehr mit den Fingern auf das Terminal tackerte. Auf dem Screen öffnete sich ein Fenster, in dem das Gesicht einer hübschen Frau zu sehen war, die freundlich nach meinem Befinden fragte. »Kann ich irgendetwas für Sie tun?«, lächelte sie ein professionelles Lächeln. Leider weiß man nie, ob das Gesicht eine Computersimulation ist oder ein reales Abbild. Ich tat so, als wäre mir das im Moment egal. »Nicht dass ich wüsste, danke.«

      »Sind Sie mit irgendetwas unzufrieden, Sie wirken angespannt?«

      »Oh, wirklich?«

      »Ja, wir dachten, vielleicht gefällt Ihnen unsere Simulation nicht.«

      »Oh, doch, doch vielen Dank, sie ist wirklich gut. Wirklich gut. Danke.«

      »Wie schön, wenn wir irgendetwas tun können, um Ihren Aufenthalt hier so angenehm wie möglich zu machen, dann lassen Sie es mich bitte wissen. Für nur 24 Quian können wir Ihnen zum Beispiel eine Wohlfühl-App anbieten, entstressen auf höchstem Niveau, oder eine Harmoniser-XXL-App, neuestes Update, für nur 34 Quians. Gegebenenfalls könnten sie auch eine Libidoseur-Applikation erhalten, im günstigen Jahresabonnement um zehn Prozent günstiger, die erste Rate wird erst nach einer unverbindlichen Probewoche abgebucht.«

      »Oh, danke, ich weiß nicht so genau.«

      Die Dame lächelte ein entzückendes Lächeln. »Na, dann melden Sie sich einfach, wenn Sie möchten. Einen weiterhin schönen Aufenthalt wünsche ich Ihnen.«

      Ich ließ mich ermattet zurücksinken und blickte auf das abstrakte Bildschirmmuster, welches auf dem Screen erschienen war und sich im Rhythmus von Vivaldi. »Vier Jahreszeiten« bewegte. Seltsamerweise wurde ich etwas ruhiger. Ich blickte wie im Traum auf die bizarren Figuren, die sich bildeten und wieder vergingen. Auch wenn sie zufällig entstanden, so waren sie doch auch faszinierend. Obwohl es keine ausgeprägte geistige Tätigkeit verlangte, sie anzusehen, brachten sie doch einige Free-bits ein, die ich zu einem kleinen Prozentsatz in mein Arbeitskonto einbuchen konnte und die zum Teil auch mein Payback-Quians-Konto vermehrten. Nach einer geraumen Weile, es war inzwischen schon dunkel geworden, beschloss ich, doch in die häuslichen Gefilde zurückzukehren. Ich schüttelte ein paarmal den Kopf, um die Müdigkeit loszuwerden, rieb mir kräftig über das Gesicht und bestellte ein Abendessen im Nutri-Shop nach Hause, danach ein AuTaX zum Café. Ich blickte nochmals auf den Bildschirm, der nun zwei potentielle Gesprächspartner anzeigte. Einer Frau im Alter meiner Exfrau simste ich eine Offerte für später und checkte mich aus. 50 Quians von meinem Konto für den hiesigen Aufenthalt waren nicht wenig, aber seis drum. Das Ausgangsterminal fragte diesmal nicht nach einem Trinkgeld, der Service gehe aufs Haus. Seit das Bargeld nun endgültig abgeschafft worden war, hätte zwar nur ein Druck auf die Trinkgeldtaste genügt, andererseits wüsste ich nicht, wem ich es in einem automatisierten Café hätte zuweisen sollen. Ich war eben noch ein wenig altmodisch in dieser Beziehung.

      Auf dem Rückweg flimmerten die Lichter der abendlichen Stadt an mir vorbei. Überdimensionale Leuchtreklamen lenkten die Aufmerksamkeit von den Niederungen dieser Welt in eine virtuelle bessere Welt. Die Kabine nahm einige merkwürdige Umwege, wahrscheinlich weil ihr auf der berechneten Route Hindernisse gemeldet worden waren. Tatsächlich stauten sich auf der Hauptstraße die individuell gesteuerten Autos bereits, was zu dieser Tageszeit in Richtung Zentrum normal war. Einige hatten sich sogar auf die Fahrspur der Automatischen gewagt, was üblicherweise mit empfindlichen Geldbußen oder monatelangem Führerscheinentzug geahndet wird.

      Der Himmel über der Stadt, der rötlich leuchtend die von den Wolken reflektierten Lichter zurückwarf, zeigte noch einige schwache Versuche der untergegangenen Sonne, sich mit einem letzten fernen Leuchten zu verabschieden. Jetzt waren wieder mehr Menschen auf den Straßen, obwohl dies eigentlich die riskanteste Zeit ist, das Haus zu verlassen und sich in die Öffentlichkeit zu wagen. Über 80 Prozent aller Anschläge werden nach Einbruch der Dämmerung verübt! Wir passierten die gelblich blinkenden Lichter eines Polizeifahrzeuges und eines wartenden Sanitätswagens. Aber da kein olivgrünes Fahrzeug des Terrorschutzes zu sehen war, handelte es sich wohl nur um einen Unfall. Ich zählte die Anzahl der Videokameras, die auf dem Weg zu entdecken waren, in Abwandlung eines alten Kinderspieles, bei dem wir früher die Autos einer bestimmten Automarke abgezählt hatten.

      Die Welt hat sich in den letzten 20 Jahren sehr verändert. Ich frage mich, ob das Leben leichter geworden ist, seit die neue Regierungsform notwendig wurde? Ich weiß es nicht. Andererseits konnte es so auch nicht weitergehen. Die diversen demokratischen Parteien und Splitterparteien hatten sich im Parlament nicht zu einer konstruktiven Lösung zusammen tun können, sondern sich nur gegenseitig blockiert. Bis auf das gemeinsame Interesse, bei jeder Kleinigkeit die Steuern oder Staatsschulden zu erhöhen, gab es keine erkennbare Gemeinsamkeit. Jeder gut gemeinte Reformansatz wurde daher im Mahlwerk der eigennützigen Interessen bis zur Unkenntlichkeit deformiert, durch eine Heerschar eifriger Juristen und Bürokraten ins glatte Gegenteil gekehrt und schließlich als neue Zumutung der Bevölkerung auferlegt. Wen wundert es, wenn die Netzmedien überwiegend von Hassbotschaften dominiert wurden? Bis zur Wahlreform, die lediglich die Möglichkeit einer einzigen Regierungspartei zuließ, versank das Land im Chaos sich gegenseitig bekämpfender Parteien, revoltierender Bürgerinitiativen, litt unter Terroranschlägen verschiedenster Gruppierungen und Wirtschaftskriminalität, so dass es ein Glück war, als ein chinesischer Konzern seine Wirtschaftsmacht ausnutzend, das Ruder herumriss und die dortigen zentralistischen Strukturen auch bei uns einführte. Nicht, dass dies auf allgemeine Zustimmung gestoßen wäre, aber unleugbar ging es seitdem auch bei uns wieder langsam bergauf.

      Aber war das Leben auch leichter geworden? Es war geordneter, das wohl. Die