Regan Holdridge

Der Ruf des Kojoten


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mit Jon in die Stadt gefahren, unter dem Vorwand, sich im Damenmodengeschäft ein bisschen die neuesten Kleider und Mäntel anzusehen. In Wirklichkeit jedoch war sie bei Doktor Milford gewesen. Sie hatte es schon lange geahnt. Es war ein merkwürdiges, bedrückendes Gefühl nun die Bestätigung von einem Mediziner bekommen zu haben. Das Jahr, das auf sie alle wartete, würde nicht leicht werden, aber Fey war fest entschlossen, die wahren Tatsachen vor ihrer Familie und ihren wenigen Freunden zu verbergen und niemandem Kummer zu bereiten. Insbesondere nicht Harold oder den Kindern, die sie so dringend brauchten. Sie wusste, dass sie gebraucht wurde und das war vielleicht das einzige, was sie immer davon abgehalten hatte, nicht irgendwann verzweifelt die Flucht zu ergreifen oder ihrem Leben einfach ein Ende zu bereiten.

      ‚Nur – was passiert, wenn ich nicht lange genug durchhalte, bis die Mädchen größer sind? Wenn all die Gebete nichts nützen und Doktor Milford rechtbehält?’

      Fey schloss die Augen und lehnte ihren Kopf zurück. Ihr Mann – sie hörte ihn in seinem Arbeitszimmer rumoren, die Papiere in Ordnung bringen, wie er es immer nannte. Die Kinder schliefen längst und Fey fühlte sich auch schrecklich müde. Sie beschloss, es wäre vermutlich das Beste, ins Bett zu gehen – ganz gleich, ob sich Harold darüber wunderte. Sie brauchte jetzt einfach mehr Schlaf. Mit einer langsamen, fast schwerfälligen Bewegung legte sie ihre Stickarbeit auf den kleinen Beistelltisch und knipste die Lampe aus. Im Haus war es still, bis auf das Rascheln von Papier aus dem Arbeitszimmer und das bisweilige Husten von Harold. Sie schlich auf Zehenspitzen zur Garderobe und als sie dort ihren Mantel am Haken entdeckte, hob sie ihn kurzentschlossen herunter. Irgendetwas zog sie noch hinaus, in die klare, frische Winterluft, den sternklaren Himmel betrachten und für ein paar Minuten vergessen.

      Sie trat hinaus auf die Veranda und lehnte sich schwer gegen einen der Pfosten, die das Vordach stützten. Aus den Stallfenstern fiel Licht auf den Schnee. Jon arbeitete noch. Eines der Pferde hatte sich beim Toben auf der Koppel verletzt und die Wunde musste versorgt werden. Es war immer dasselbe. Jedesmal, wenn sie glaubte, jetzt hätten sie die schlimmste Zeit überstanden, passierte wieder etwas Unerwartetes das sie zurückwarf. In der Vergangenheit waren es missratene Ernten, Rinderseuchen oder Pferdediebstahl gewesen, der nie aufgeklärt wurde. Aber im Augenblick kämpften sie gegen ein ganz anderes Problem, für das es vermutlich keine Lösung geben würde.

      Die Stille, die sie umgab, jagte Fey einen Schauer über den Rücken. Sie machte sie verrückt und sie sehnte sich plötzlich schrecklich nach ihren Kindern. Hastig betrat sie das Haus wieder durch die vordere Tür. Harold hatte nichts davon bemerkt, dass seine Frau nach draußen gegangen war und sie beabsichtigte nicht, es ihn wissen zu lassen. Mühsam zog Fey sich am Geländer die Treppe ins Obergeschoß hinauf. Sie brauchte keine Lampe, sie kannte jede Stufe, jede Holzbohle im Schlaf. Sie stellte sich vor, dass es ähnlich sein musste, wenn sie eines Tages sterben würde – dass sie eine Treppe hinaufging und oben warteten ihre Eltern, um ihr die Hand entgegenzustrecken und ihr das restliche Stück hinaufzuhelfen. Vielleicht war diese Krankheit auch ihre Strafe, weil sie so unzufrieden mit ihrem Leben und ihrer Entscheidung war. Hätte sie die Wahl gehabt, Fey wäre längst von hier fort gewesen, irgendwo zurück in einer Stadt und hätte sich eine Stellung gesucht, ganz gleich als was. Nur weg von dieser Ranch und der Knochenarbeit und dem Wissen, dass es bis zum Ende so weitergehen würde.

      Der letzte Januartag begann mit Sonnenschein und sehr viel Schnee, der überall um die Gebäude der Ranch und auf den Koppeln glitzerte und funkelte. Die Welt um sie herum wirkte wie eine Märchenlandschaft, ganz rein und klar. In Wirklichkeit jedoch war sie für Fey wie ein Gefängnis, denn mit dem vielen Schnee kamen sie kaum hier heraus; vielleicht morgen, wenn sie Einkäufe erledigen musste.

      Besorgt legte sich Jons Stirn in tiefe Falten. Er beobachtete Fey nun schon eine ganze Weile bei ihren Vorbereitungen für das Festtagsessen in der Küche, ohne dass sie ihn bemerkte. Vielleicht bildete er es sich nur ein, doch seit dem Tod ihrer Mutter vergangenes Frühjahr, war sie irgendwie stiller und verschlossen geworden. Sie schien oft gedankenverloren in die Gegend zu starren, ohne etwas davon wahrzunehmen, was um sie herum geschah. Harold schien von den Veränderungen an seiner Frau nichts zu bemerken, für Jon jedoch waren sie nicht zu übersehen. Jetzt, als Fey sich von dem schmalen Tisch neben der Hintertür umdrehte, fiel ihr Blick auf den alten Vormann und Freund. Er war beinahe so lange hier, wie sie selbst. Sie lächelte sanft.

      „Probleme?“

      „Ich wollte nachsehen, wie weit du mit dem Essen bist.“

      „Es ginge schneller, wenn nicht alle zehn Minuten jemand käme und verkündete, er habe Hunger!“

      Jon seufzte ungeduldig. Er war schlecht im unsinnige Reden halten. „Wie geht es dir, Fey?“ Er wusste, dass sie ihm nicht ehrlich antworten würde, aber auf irgendeine Art musste er versuchen, an sie heranzukommen. „Ich meine, wie fühlst du dich wirklich?“

      „Gut“, antwortete Fey prompt und nickte heftig, doch ihre blauen Augen blieben trüb und ausdruckslos, ohne Licht. „Es geht mir sehr gut.“

      Jonathan erwiderte nichts. Es war eine Lüge und er wusste es, doch er wusste auch, dass er kein Recht besaß, sie mit weiteren Fragen zu drangsalieren. Er war nur der Vormann, der sich als Freund der Familie fühlte, nichts weiter. Langsam wandte er sich ab und verließ das Wohnhaus über die Veranda.

      Am nächsten Tag waren die Schneemassen vom Winterdienst so weit von den Straßen geschoben worden, dass ein Versuch gewagt werden konnte, mit dem Lieferwagen in die Stadt zu fahren. Jon übernahm die Aufgabe, eine neue Ladung benötigter Lebensmittel zu holen. Die Straßen der Stadt waren schmutzig und nass, weil der Schnee dort bereits taute oder von den Reifen der Räder platt gedrückt wurde. Die Fahrt war ein kleines Abenteuer gewesen und mehrmals wäre er fast steckengeblieben, weil die Nebenstrecken nicht gut geräumt waren. Ächzend kletterte Jonathan aus dem alten Lieferwagen. Sein Kreuz machte ihm heute wieder einmal besonders schwer zu schaffen, das war dieses merkwürdige Wetter, die Kälte und der Schnee. Er fluchte leise.

      „Ah! Schön, Sie wieder einmal zu sehen, Jon!“, erklang in derselben Sekunde eine Stimme hinter ihm, die ihn erschrocken zusammenzucken ließ.

      Der Vormann wirbelte herum. Vor ihm stand Doktor Frederik Milford, der Allgemeinarzt, der in Quincy seine Praxis betrieb. Der einzige Mediziner in einem weiten Umkreis, der aufgrund dessen immer auf dem Sprung zu seinen Patienten war und auch jetzt in Eile zu sein schien. Auf dem sich lichtenden braunen Haar trug er einen schicken Hut, der ihn mit seiner runden Brille wie einen Oststaatler wirken ließ. Die tiefliegenden, dunklen Augen hinter den dünnen Gläsern wirkten müde und erschöpft, beinahe ausgemergelt.

      „Wie geht es Ihnen?“ Aufrichtig erfreut schüttelte Doktor Milford dem anderen Mann die Hand. „Und vor allem: Wie geht es Mrs. McCullough?“

      „Oh, danke der Nachfrage! Wie Sie sehen, lebe und gedeihe ich prächtiger denn je!“ Eigentlich konnte auch Jon keine Zeit für ein Schwätzchen erübrigen, aber wie lange hatte er den Arzt nun schon nicht gesehen? Viel zu lange jedenfalls! Da musste eben selbst die Ranch einmal warten. „Ehrlich gesagt, um Fey mache ich mir ein wenig Sorgen. Vielleicht könnten Sie ja, wenn der Schnee es zulässt, im Laufe der Woche mal rein zufällig bei uns vorbeischauen? Sie verstehen schon.“

      Der Ausdruck auf Doktor Milfords Gesicht wechselte von Erstaunen zu Ungläubigkeit. „Ja, aber…“ Seine Brauen zuckten. „Sie war doch erst vor einigen Wochen bei mir!“

      „Wie?!“ Verdutzt blieb Jon der Mund offenstehen. Seine Gedanken überschlugen sich, er wagte kaum zu atmen. Also, doch! Sein Instinkt hatte ihn auch diesmal nicht getäuscht!

      „Aber ja, natürlich!“ Unangenehm berührt trat Doktor Milford auf der Stelle. Er war Arzt, er hatte ein Schweigegelübde abgelegt, auch, wenn er es in diesem Fall unmöglich einhalten konnte. Das hier war eine Ausnahme, es war seine moralische Pflicht, dieses Gelübde zu brechen und die Wahrheit auszusprechen, selbst, wenn genau dies von seiner Patientin offensichtlich vermieden worden war.

      „Haben Sie etwas Zeit, Jon? Dann würde ich Sie bitten, kurz mit mir in meine Praxis zu kommen.“

      Den ausgetrampelten Pfad zwischen den Schneehäufen zum Wohnhaus war er wohl noch nie in