Barbara E. Euler

Raphael Reloaded


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Bürostuhl angerollt und hielt sich an der Schreibtischkante fest. „Was ist passiert?“

      Raphael machte die Akte zu. „Kann ich noch’n Kaffee? Bitte?“ Es war verdammt erniedrigend, aber darauf kam es jetzt auch nicht mehr an. Er zog einen Euro raus.

      Piet winkte ab und erhob sich. Als er mit dem Kaffee zurück war, begann Raphael seinen Bericht. „Lodewijk und Vandeputte waren als erste dort und hatten die Fundstelle gesichert. Eine Hand ragte aus dem Sand …“, sein Blick flirrte kurz weg und fing sich wieder „Es gab zirka zwei Dutzend Schaulustige. Viele haben gefilmt. Azif … Azif Ibrahim begann die Leiche mit den Händen freizulegen und rief mich hinzu. Während ich zu ihm rüberging …“, er stockte. „Während ich zu ihm rüberging, hielten sie mit den Handys auf mich … Wir haben sie einkassiert“, er schlürfte geräuschvoll. „Die Handys“, schob er nach.

      Piet ballte die Fäuste und öffnete sie wieder. Manchmal spürte er so viel Mitleid, dass es weh tat. „Und weiter?“ raunzte er grob.

      Raphael schaute ihn über den Becherrand an. „Plötzlich wollte er weg. Azif. Ibrahim. Er sagte, die Spusi sei dran und dass das nur so ein Schatten war, was er gesehen hatte. Und dass wir nichts mehr tun könnten. Dann sind wir weggefahren. Piet, ich …“, er leerte die lauwarme Plörre in einem Zug und schleuderte den Becher in den Papierkorb des jungen Kollegen in der andern Zimmerecke.

      André zuckte zusammen. „Mann, Raphael.“ Er lachte. Raphael lachte auch. Dann wurde er wieder ernst. Manchmal erinnerte der Neue ihn an Jan. Nur manchmal. Zum Glück.

      „Was?“, sagte Piet.

      „Mit den Handys, das wird dauern“, sagte Raphael eilig. „Ich komm grad von der Technik. Morgen krieg ich die Filme. Frühestens.“ Er tauchte das Gesicht wieder in die Akte und beließ es dort.

      Piet sah zu Anna rüber, die leise den Kopf schüttelte. Dann rollte er mit dem Bürostuhl an seinen Schreibtisch zurück.

      Raphael blätterte unwirsch in den Unterlagen. Wohin er auch schaute, über allem schwebte das Bild einer schwammigen Wange, die keine Stammesnarben trug. Raphael schloss den Ordner und zog den nächsten vom Stapel. Die Messerstecherin von St. Andries. So hieß die Frau in den Zeitungen. Sie habe, so schrieben sie, dem Geliebten ein Messer in die Hand gerammt und ihn damit auf den Esstisch gepinnt, wo er noch feststeckte, als der Sanitäter ihn fand. Der Mann hatte selbst den Notruf getätigt, mit der anderen Hand. Zeugen Fehlanzeige. Die Frau bestritt alles.

      Beziehungskram.

      Was blieb ihm nicht alles erspart. Raphael kratzte sich am Bauch, da, wo mal ein Dolch gesteckt hatte. Die verdammte Narbe. Der Mann tat ihm leid. Aber vielleicht war alles ganz anders gewesen. Vielleicht war der Mann es selber gewesen. Um seine Freundin in den Knast zu bringen.

      Die Frau tat ihm auch leid.

      Raphael checkte sein Handy. Azif, melde dich. Melde dich, verdammt. Anna sah zu ihm rüber und er legte das Handy weg. Vielleicht hatte er laut gesprochen. Die Tabletten.

      „Der Messerstecherfall von St. Andries“, sagte er, „ich lass die beiden vorladen.“ Piet grummelte was. „Wir befragen sie einzeln“, Raphael griff zum Hörer. „Jetzt.“ Nur nicht nachdenken. Keine Pause machen. Er fühlte nach den Kippen. Dann fiel es ihm wieder ein. Shit.

      „Sie entscheiden: Leben oder Rauchen“, hatte der Arzt gesagt. Die Niere. Flors Armbrustpfeil hatte sie durchbohrt. Es war die gesunde Niere gewesen. Die, die der Zwanzigtonner damals verschont hatte. Raphael stoppte die Suche und rief die Bereitschaft an. „Jetzt. Gleich. Getrennt. Ja. JA!!!“, blaffte er in den Hörer. „Danke.“

      „Pjotrow?“, fragte Anna, als er aufgelegt hatte. „Der Pianist?“

      „Stimmt. Steht in der Akte. Du kennst ihn?“.

      „Jeder kennt ihn. Er ist toll. Er war toll. Lange nichts mehr von ihm gehört.“

      Raphael blätterte. „Er ist sechsunddreißig.“ Wahrscheinlich hatte der Kerl durch das Geklimper genügend Kohle für den Rest seines Lebens gescheffelt und spielte jetzt mit seinen Groupies Flaschendrehen. „Du kannst ihn haben“, grinste er.

      Anna angelte sich die Akte. „Ich klopf ihn dir weich. Und sie?“

      „Übernehm ich. Danach tauschen wir.“

      Good cop, bad cop. Darin waren sie unschlagbar. Raphael fegte Chipsbrösel vom Tisch. Keine Nachrichten auf dem Handy. Die verdammte Spusi ließ auch nichts von sich hören. Er saugte Stirnschweiß in den Hemdenärmel.

      Natürlich nicht. Raphael, es ist grade mal eine Stunde her, dass du da weg bist. Er schwitzte weiter. Hatte Azif die Spusi überhaupt benachrichtigt? Die Spurensicherung ist informiert, die Kollegen kümmern sich um alles. Raphael fasste nach dem Hörer und ließ die Hand wieder sinken. Wenn er das nicht mehr glauben könnte, wäre das das Ende.

      Fahrig tastete er nach dem Aktenstapel, die Augen auf dem Handydisplay. Er spürte Annas Blick und breitete den Ordner über das Smartphone und begann zu lesen.

      Die Raubüberfallserie war eine andere Nummer. Das waren Profis. Immer im Morgengrauen, wenn schlaftrunkene Studenten hinterm Tresen standen, und immer die besten Häuser. Prinsenhof, Tuileries, Grand Hotel Casselbergh. Ein paar fehlten noch auf der Liste. Raphael streckte den Rücken durch. Es war sein Job, dafür zu sorgen, dass es so blieb.

      Und dass auch weiterhin niemand zu Schaden kam. Die Gangster mussten Magier sein; die Überfallenen hatten kaum etwas Verdächtiges gesehen und nicht die geringste Bedrohung erlebt. Da waren Spukgestalten gekommen und gegangen und dann war die Kasse leer. Zack. Raphael schloss die Augen. Er dachte an Bice, wie sie die Hand vor die rot geschminkten Lippen geschlagen hatte bei der albernen Magier-Show, in die sie ihn geschleppt hatte, an ihr helles Lachen und daran, was sie mit ihm danach …

      „… RAPHAEL! Sie sind da-a!!!“ Anna.

      Raphael sah auf und räusperte sich. Anna hatte Bice auch gemocht.

      „Ich komme … Danke.“ Raphael klappte den Ordner zu und hob sich in den Rollstuhl.

      Er nahm sein Handy und folgte der Kollegin auf den Gang. „Sie ist in der Drei“, sagte Anna und berührte ihn sanft am Arm. Sie durfte das. „Lass mir was übrig“, flachste sie und ging zu Maksim Pjotrow in den Nachbarraum hinüber.

      Raphael sah ihr hinterher. Nichts erklären müssen. Einfach da sein. Mit Anna konnte er das. Er straffte die Schultern und ging hinein.

      Kapitel 2

      „Gute Arbeit“, sagte Piet und balancierte einen Berg Quinoa­salat in den Mund. Die mittagsvolle Kantine summte und klang von Geplapper und Geklirr. Eine Frau lachte hell. Raphael musterte Piet misstrauisch. „Schmeckt’s?“

      Piet kaute. „Schmeckt“, sagte Anna an seiner statt, die dasselbe auf dem Teller hatte. „Solltest du auch mal probieren!“

      Raphael stach stoisch mit der Gabel in den Pommes-Berg vor ihm. Klick, machten die Zinken auf dem Porzellan, klick-klick-klick, Pommes bis zum Anschlag und rein in den Mund.

      Anna schüttelte den Kopf. Wie zufrieden er aussah.

      Zufrieden. Bullshit zufrieden. Raphael konnte nicht mal selber sein Tablett an den Tisch bringen; sie war dabei gewesen, als ihm alles runtergekracht war und als es nochmal geschah und als er es aufgab. Und dann die Schmerzen. Er sprach selten darüber, aber manchmal konnte man es in seinen Augen sehen. Anna beugte sich über ihren Teller und aß schweigend weiter. Der Mann hatte jede Freude verdient.

      „Der Werner“, Raphael gestikulierte mit der Gabel, kauend. „Der kocht sowas ständig, verdammt. Ich werf ihn raus! Irgendwann werf ich ihn raus!“

      Anna grinste. Er war gut drauf. Jetzt war er gut drauf. Vorhin war sie nicht so sicher gewesen. Als sie die Freundin des Pianisten von ihm übernommen hatte, hatte die Frau fast geweint. Raphael musste ihr fürchterlich zugesetzt haben; Piet hatte was von Bulldogge