Barbara E. Euler

Raphael Reloaded


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sein; der Pianist hatte einen kleinen Karriereknick eingeräumt und Annas ermutigende Worte gerne entgegengenommen. Im Übrigen beschuldigte er seine Partnerin hartnäckig und gab an, dass es in Strömen gegossen hatte, was sich nach einem Anruf beim Koninklijk Meteorologisch Instituut als richtig erwies.

      In der zweiten Halbzeit hatten sie das Tempo erhöht – Raphaels Magen hatte geknurrt und er hatte gewusst, bald würde ihm die Konzentration wegbrechen und dann kämen die Schmerzen zurück und etwas, das schlimmer war: Der eine Gedanke, den er so mühsam bezwungen hatte und den er nicht mehr lange würde niederhalten können. Azif.

      Raphael linste nach dem Handy in seinem Schoß. Später. Haddock.

       Haddock war ein Codewort. Sie hatten das ausgemacht. Er und Grit. Für wenn es am schlimmsten war. Kapitän Haddock war seine Lieblings-Comicfigur, ein unbedachter Draufgänger und lieber Kerl, der göttlich fluchte und mit einem Alkoholproblem zu kämpfen hatte. Ein Held.

      Haddock hieß: Nicht aufgeben. Nicht nachlassen. Nicht jetzt. Raphael lächelte den Mann an, der seine feinen Pianistenfinger knetete. „Wie geht das jetzt, das Spielen, mit Ihrer Hand?“, fragte er freundlich. Der Mann sah ihn an. „Schlecht“, sagte er betrübt.

      Raphael lächelte noch immer. „Es lief schon länger schlecht, nicht?“

      „Nein. Eigentlich nicht. Nicht wirklich“, er hörte mit Kneten auf. „Nicht wirklich“, wiederholte er. „Aber es ist schwer, wenn man ganz oben ist.“

      „Man fällt sehr tief“, sekundierte Raphael eifrig. Der Pianist biss sich auf die Lippen.

      „Und man wird fallen gelassen“, Raphael stieß heftig die Luft aus. „Die Leute ziehen weiter. Die Kollegen. Die Freunde. Alle.“

      Maksim Pjotrow fixierte ihn aufmerksam. „Sie kennen das.“

      Raphael erstarrte. „Wir machen eine Pause“, sagte er hart und verließ die Szene. An der Tür drehte er sich nochmal um. „Jep.“ Dann rollte er raus.

      * * *

      „Das hat ihn gebrochen“, erklärte Piet zufrieden und schob den nächsten Quinoa-Berg in den Mund. „Cooler Trick, Raphael!“

      Als Raphaels Blick ihn traf, stoppte er mit kauen. „Kein Trick“, sagte er schnell.

      „Das hat ihn gebrochen“, konstatierte Anna trocken.

      Dann redeten sie nicht mehr davon. Der Mann hatte seine Selbstverstümmelung gestanden, noch ehe die Freundin zugegeben hatte, im regennassen Park jemandem begegnet zu sein, einer Polizistin, die sie weinend am Wegrand gefunden und angesprochen hatte. „Wir hatten gestritten“, gab sie zu. Es war unschwer nachzuprüfen gewesen.

      Raphael riss ein neues Mayo-Tütchen auf und spratzte den Inhalt über den Pommes-Rest. Sich selbst zu verstümmeln. Verdammter Idiot. Er kaute heftig. Der Mann würde einen guten Arzt brauchen. Nicht nur wegen der Hand.

      Zum zwanzigsten Mal zog er sein Handy raus. Wischte Displayfett in die Hose. Keine Nachricht von Azif. Oder von der Spusi. Oder von irgendwem. Anna lächelte ihm zu und er schob das Gerät in den Hosenbund zurück.

      Im Büro grub er sich in die Akten. Er würde die Überwachungsbilder der überfallenen Hotels sichten. Alle. Bloß nicht nachdenken. Machen. „Ja. Jetzt. Alle“, bellte er in den Hörer. Die Sache mit der Fahrerflucht lag auch noch an. Der Typ hatte ein Kind totgefahren. Ein Mädchen. Acht Jahre alt. Dutzende Zeugen und keiner hatte was gesehen.

      Es war sein erster frischer Fall gewesen, nachdem er wieder hier war. Sie hatten ihn nicht schicken wollen. Ein totes Kind, Raphael. Glaubst du, du schaffst das? Du bist doch noch … Du brauchst doch nicht … Anna war dabei gewesen und sie hatten auch die Todesnachricht überbracht.

      Anna hatte sie überbracht: Die Mutter wohnte zwei Treppen hoch, Altbau. Kein Lift.

      Später war Raphael mit der Frau im Krankenhaus gewesen, wo sie die Tochter identifizieren musste. Er hatte ihr versprochen, alles zu tun, um den Täter zu fassen. Er hatte geglaubt, dass es ein Leichtes wäre; es war direkt bei der Schule passiert, kurz vor Unterrichtsbeginn. Die ersten Zeugenbefragungen hatten nichts ergeben – der Schock, hatte er gedacht und dass sich noch wer melden würde vor dem Wochenende, es war am Freitag gewesen. Eine Liste aller Eltern, Schüler und Lehrer bekam er nicht. Datenschutz, sagte die Direktorin, und ob er jetzt bitte gehen könnte. Der Ruf unserer Schule, Sie verstehen. Raphael hatte sie angesehen. Stör ich hier als Krüppel? Als Bulle? Oder beides, verdammt? Überlassen Sie das mir, hatte er gezischt und die Tür zugeschmissen.

      Lackspuren hatten sie auch keine gefunden. So ein Kind war weich. Vermutlich hatte der Wagen nicht mal ‘ne Delle. Raphael ballte die Fäuste.

      Der Fall war jetzt drei Tage alt. Er musste sich dringend was einfallen lassen.

      Dann war da noch ein zweiter Messerstecher. „Ich komm da nicht weiter. Dein Milieu“, hatte Piet gesagt und ihm die Akte weitergereicht. Raphael zog die Mappe aus dem Stapel. Samstagabend war das gewesen, auf dem Eiermarkt. Partyzone. Der Messerstecher nannte sich Ahmed Hadada. Er war erfolgreich gewesen. Wenn man das so sagen konnte. Die Frau war sofort tot gewesen. Durch den Bauch direkt ins Herz getroffen. Keine Rippen, die die Waffe aufhalten konnten. Raphael rieb sich die Stirn. Liebe geht durch den Magen, hatte sein Lehrer für mittelalterliche Kampfkünste das genannt.

      Der Mann war ein Profi.

      Oder er hatte einfach Glück gehabt. Wenn man das so sagen konnte. Oder er war es nicht. In dem Tumult auf dem belebten Platz hatte man einen Mann verhaftet. Das war alles. Der Mann behauptete, unschuldig zu sein, und sie hatten ihn gehen lassen. Sie mussten. Auch wenn irgendjemand irgendwen „Allahu akbar“ rufen gehört haben wollte.

      Allahu akbar. Raphael kniff die Augen zu und versuchte, nicht an ihn zu denken.

      Azif. „Er ist undercover unterwegs. Keine Details. Sorry“, hatte der Kollege von der Federale Politie gesagt, als Raphael anrief, weil er Azif nicht erreichen konnte. „Alles im grünen Bereich“, hatte der Mann noch hinzugefügt. Es hatte belustigt geklungen, aber vielleicht bildete er sich das nur ein.

      Raphael schmiss die Mappe auf den Stapel zurück. Verdammt viel Zeug. Bis vor zwei Wochen war er noch in der Klinik gewesen. Und dann noch das. Raphael fasste nach der untersten Akte und zog die Hand wieder zurück.

      Nachher.

      Gleich nachher würde er sich die vornehmen.

      „Ich bin im Archiv“, sagte er gegen niemand Bestimmtes und verließ das Büro.

      * * *

      Das Sofa war noch immer dasselbe. Raphael plumpste auf das Polster und ließ die Hände über die glänzenden neuen Leder­stücke gleiten, mit denen der iranische Polsterer geschickt die rissigsten Stellen gerichtet hatte. Azif hatte dafür gesorgt, zusammen mit Fanny. Die kleine Archivarin hatte das marode Möbel wie eine Löwin vor dem Sperrmüll verteidigt, für den es von der Hausverwaltung bestimmt gewesen war. Eine Löwin. So hatte Azif das gesagt.

      Raphael suchte eine bequeme Position und fand keine. Fanny war so. Ließ nicht locker, wenn sie wen retten wollte oder was. Er dachte daran, wie sie gekämpft hatte, als ihr Bruder unschuldig im Gefängnis saß. Ronny.

       Das jungenhafte Gesicht hinter der Windschutzscheibe. Die angstvoll aufgerissenen Augen. Das Geheul der Bremsen. Der brandige Geruch gequälter Reifen auf Asphalt. Und dann das Geräusch, das seine Knochen gemacht hatten.

      Raphael mahlte mit dem Kiefer. Der Junge hatte ihn zu Brei gefahren, aber ein Schleuser war er nicht. Fanny hatte an ihn geglaubt. An Ronny. Und an ihn, Raphael, dass er es schaffen würde, Ronnys Unschuld zu beweisen.

      An jemanden glauben – das hatte er auch mal gekonnt. Raphael fühlte nach seinem Handy und ließ die Hand wieder sinken und rieb seine Beine, da, wo es am meisten weh tat. Er sah auf Fanny, die mit einer dampfenden Kaffeetasse ankam.

      Fanny bettete die Tasse zwischen die tätowierten Finger