Barbara E. Euler

Raphael Reloaded


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      „Inshallah“, hatte der Afrikaner geantwortet, mit diesem Gesichtsausdruck, den niemand deuten konnte. Sie besuchten Raphael damals fast täglich in der Klinik. Einmal hatte er gesagt, dass er wünschte, tot zu sein.

      Fanny biss sich auf die Lippen.

      Azif hatte Raphael bei der Hand genommen: „Ich kenne das.“ Dann hatten sie geschwiegen, Hand in Hand, eine lange Weile. „Das ist sehr cool“, hatte er schließlich gesagt.

      „Sich umbringen?“

      „Drüber reden.“

      Raphael hatte nur stumm mit den Schultern gezuckt.

      Fanny betrachtete ihren Gast seufzend. Der Mann sah nicht viel besser aus als an jenem Tag, so wie er sich jetzt an dem Kaffeepott festklammerte und wortlos in die schwarze Brühe starrte.

      „Wie geht's Azif?“, fragte sie jetzt doch und bereute es sofort. Verdammt, sie hätte es wissen müssen.

      „Verdammt, ich hätte es wissen müssen“, warf sie in den Schimpftiradenfluss, der vom Sofa kam, und der Fluss stoppte.

      „Azif …“, Raphaels grobe Finger fuhren durch die Puddeln von übergeschwappten Kaffee auf dem Leder. Sein Blick flackerte hoch. „Fanny, ich weiß es nicht.“

      Fanny sog scharf die Luft ein. Diese Augen. Wenn er von Azif sprach, war da immer so ein Leuchten in Raphaels Augen gewesen. Jetzt war da ein Abgrund, bodenlos. „Verdammt“, sagte sie.

      Sie hasste die Flucherei, aber sie musste ihm nahe bleiben, irgendwie.

      „Hör auf zu fluchen, verdammt“, sagte Raphael heiser. Fanny war wie ein Groupie.

      Sein Groupie. Plötzlich fing er an zu lachen. Mehr Kaffee schwappte. Fanny floh.

      Irgendwann kam sie mit einem Lappen zurück. Raphael sah, dass sie geweint hatte. Wütend feudelte sie durch den Kaffeesee, bis seine große Pranke die kleine Hand stoppte.

      „Fälle mit Magiern …“, sanft zog er den Lappen an sich und begann selber zu wischen, „Zauberern, Gauklern, Illusionskünstlern, irgendwas“, er hielt inne und versicherte sich, dass sie zuhörte. „Haben wir da …?“

      „Ja“, sagte Fanny schlicht.

      Raphael machte den Mund auf, aber sie war schon weg. Reglos hielt er den Lappen in der Hand und wartete.

      Der einzige Gaukler, den er kannte, war Azif.

       Haddock. Haddock. Haddock.

      Raphael kippte den Kaffeerest runter. Seine Kehle war trocken. Irgendwo weit weg hörte er Fannys eifrige Schritte.

      Fanny. Sie war mitten in der Ausbildung zur Kinderschwester gewesen, als die Sache mit Ronny passiert war. Sie hatte schon mehrere Ausbildungen abgebrochen, Bürokauffrau, Mechatroniker, Bauzeichner, aber das mit der Kinderschwester war etwas anderes gewesen. „Man muss sich doch kümmern“, hatte sie Raphael erklärt, und dass ihre eigene Kindheit ziemlich verkorkst gewesen war.

      Raphael sah auf die junge Frau, die mit einem Packen unterm Arm auf ihn zukam. Sie hatte sich dann um ihren Bruder gekümmert. Und jetzt gehörte sie hierher.

      „Schau“, sagte Fanny tapfer und nahm Raphael das nasse Tuch ab. Sie reichte ihm ein Bündel abgegriffener Mappen. „Zuletzt passierte es 2014.“

      „Passierte was?“ Raphael stellte den Becher auf den Boden und begann zu blättern.

      „Fälle mit Magiern. Gauklern. Illusionskünstlern“, Fanny bückte sich nach dem Becher. „Kaffee?“

      Raphael nickte abwesend. Irgendwas in ihm fragte sich vage, warum die junge Frau das tat. Sie hatte bekommen, was sie wollte: Ihr Bruder war frei. Sie könnte Dienst nach Vorschrift schieben oder zurück an die Schwesternschule gehen; sie war ja nicht mal eine Polizistin und würde vermutlich nie eine sein. Ein verdammtes Groupie, das war sie. Bice war auch so gewesen. Ein Kind. Raphael seufzte.

      Wahre Liebe war für die anderen. Er hatte Fanny.

      Und Helen.

      „Meine Patienten sagen, dass sie gut ist“, hatte Grit gesagt, als sie ihm damals Helens Nummer gab. Raphael blätterte weiter. Vielleicht war es besser so. Wenn es nur nicht so teuer wäre. Und die Kasse zahlte nichts; Grit hatte alles versucht. „Ja, Kaffee, bitte. Gerne!“, sagte er, aber die Frau war längst zwischen den Regalen verschwunden.

      Eine knappe Stunde später fuhr er ins Büro zurück, die Tasche mit Akten gefüllt. Ein weiteres Bündel balanciert er auf dem Schoß. Er fuhr auf den Hinterrädern, damit nichts runterfiel. Beinahe wäre er vor aller Augen umgekippt.

      Raphael grinste schief und schmiss die Akten auf seinen Schreibtisch, zu den anderen. Er musste mehr trainieren, verdammt.

      Er rief die Spurensicherung an, aber sie hatten noch nichts. Raphael knallte den Hörer auf den Apparat. Piet schaute böse.

      „Gib ihnen Zeit“, sagte Anna. Sie linste durch den Aktenberg, der mittlerweile eine ansehnliche Höhe hatte. „Kommst du zurecht?“

      Sie sahen einander an. Plötzlich begann Raphael zu lachen. Ob er zurechtkam.

      Anna grinste und legte den Finger auf die Lippen. „Zeig mal“, sie rollte mit dem Schreibtischstuhl zu ihm rüber und begann den Berg zu untersuchen. „Zirkus Zarathustra“, las sie belustigt. „2013 abgeschlossen. Was willst du denn damit?“ Raphael verschluckte sich und hustete. Er tastete nach den Kippen. „Ich bin mal kurz weg“, keuchte er und zog den Rollstuhl ran. Er hatte die Woche schon dreimal das Rauchen aufgehört, da kam es auf einmal mehr oder weniger nicht an.

      „Warte!“ Anna, die mit einer Akte wedelte.

      Der Akte.

      Raphael blieb sitzen. „Ach, das“, sagte er gedehnt. Er hasste diese Kindesmissbrauchsfälle. Jeder hasste sie. Plötzlich war ihm kalt. Azif, dachte er. Azif würde ihn verstehen.

       Haddock.

      „Mach ich später“, nuschelte er.

      „Ich könnte das übernehmen“, sagte Anna beiläufig.

      Raphael kniff die Augen zusammen. „Wenn du meinst …“ Er machte eine einladende Geste und hoffte, dass er ebenso beiläufig geklungen hatte, und Anna rollte mit der Akte an ihren Platz zurück. Dann sprachen sie nicht mehr davon.

      Im Auto auf dem Parkplatz ordnete Raphael das Chaos in seinem Kopf, Kippe in der Hand. Ein leichter Regen tickte gegen die Scheiben. Er durfte den neuen Korpschef nicht enttäuschen. Und Piet. Und Anna. Auch ohne den Fall hatte er noch genug zu tun. Bald würden die Überwachungsfilme von den Hotels kommen. Genug Arbeit für Tage. Und Nächte, dachte er bitter, meist saß er ohnehin bis zum Morgengrauen wach und machte irgendwas und kassierte anderntags Rügen von Werner, der es immer merkte, irgendwie. Er war so eine verdammte Mutti.

      Dann waren da noch die Akten von Fanny. Schwarzarbeit, Taschendiebstahl, Tierquälerei. Von wegen Magier. Wanderzirkusse waren das. Und fast alles ungelöst. Naja, sie hatte es gut gemeint.

      Zirkusse. Heißt das wirklich Zirkusse? Raphael blies große Rauchringe. Zirkusse. Zirken. Zirküsse. Gedankenverloren schnippte er Asche aus dem Schritt.

      Raphael, konzentrier dich. Für sowas hatten sie eh kein Budget, verdammt. Er fokussierte seine Gedanken auf den Mann, der als muslimischer Messerstecher Schlagzeilen gemacht hatte. Ahmed Hadada. Oder so. Einer von Tausenden Transmigranten wahrscheinlich, die überall unkontrolliert herumlungerten. Eine Nadel im Heuhaufen.

      Raphael schnaubte. Er zürnte den Kollegen nicht, die den Mann freigelassen hatten. So waren die Regeln und so war es gut. Das hier war Brügge und nicht Guantanamo und er, Raphael, trug sein Teil dazu bei, dass es so blieb. Aber er musste den Täter finden und seiner Strafe zuführen. Das war sein Job.

      Raphael fischte nach der nächsten Belga und versuchte nicht daran zu denken, dass es die vorletzte war, und zündete