Renate Dr. Dillmann

China – ein Lehrstück


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mobilisieren konnten. Die vermutlich weltgrößte Defensivanlage verdankt sich dem Umstand, dass an der nördlichen Grenze Chinas zwei komplett unterschiedliche Produktionsverhältnisse aufeinander treffen. Das auf Ackerbau beruhende chinesische Reich suchte sich und seine Reichtumsgrundlagen gegen Völker abzuschotten, die als kriegerische Reiter vom Überfallen und Ausplündern leben, deren Eroberung schwierig und deren zukünftige Benutzung wenig aussichtsreich erschien. Die dafür errichtete Mauer ist ein riesiger Schutzwall, der über mehrere Jahrhunderte durchgehend ausgebaut wurde. Einige Male wurde die Mauer überwunden, so z.B. von Dschingis Khan Anfang des 13. Jahrhunderts; von den Mandschus im 17. Jahrhundert. Die Gesamtlänge der Mauer »betrug einst mehr als 50.000 Kilometer« und erstreckte sich teilweise in mehreren Ringen über verschiedene Provinzen, durch Wüsten und über Bergketten, wo sie vorzugsweise über die Gipfel geführt wurde. Zu ihrem Bau werden neben Zwangsarbeitern und Strafgefangenen immer wieder die Streitkräfte selbst herangezogen. Während der Qin-Dynastie waren bei einer Bevölkerungszahl von 20 Millionen 500.000 Menschen mit dem Bau der Mauer befasst, während der Ming-Dynastie fast 1 Million Soldaten, die sich gleichzeitig durch Ackerbau und Viehzucht selbst versorgen mussten. »Mit der Verschärfung der Kriege und der Verbesserung der Waffen und der Bautechnik wurden die Mauern an vielen Stellen mit Kampftürmen, Wachtürmen, Zinnenwänden, Festungsstädten, Sperrmauern und Schießscharten versehen. Mit der Zeit entwickelte sich die Große Mauer zu einem riesigen, gut ausgerüsteten militärischen Verteidigungssystem.«

      Bau und Befestigung der großen Mauer dauerten mehr als 2000 Jahre, bis sie 1644 unter Kaiser Kangxi eingestellt wurden. »Mit der Entwicklung der Schusswaffen hatte die Mauer ihre Funktion der Verteidigungsanlage weitgehend verloren.«

       Zahlen und Zitate: Wenguan 1996: 7ff.

      Auf dieser Basis ist das Reich der Mitte politisch bemerkenswert stabil – vom gelegentlichen Wechsel der Herrscherhäuser abgesehen. An denen fällt vor allem auf, dass die jeweiligen Eroberer von außen – Dschingis Khan (ab 1155) oder die Mandschu-Dynastie der Qing (ab 1644) – sich bei der Entfaltung und inneren Absicherung ihrer Herrschaft notgedrungen in das bestehende Staatswesen einfügen.5 Ihre Herrschaft über China organisieren sie so, dass sie selbst dessen Herrschaftsprinzipien übernehmen, also chinesisch werden.

      »Als der britische Botschafter Macartney und sein Gefolge 1793 China bereisten, bot das Land insgesamt ein eindrucksvolles Bild von Prosperität, Ordnung, Dynamik und Selbstvertrauen.« (Stichwort Qing-Dynastie, CL: 600) Vertreter der modernisierten westlichen Nationen des 18./19. Jahrhunderts nehmen dieses Land als eine gegen jeden Änderungswillen geradezu hermetisch abgeschottete Gesellschaft wahr. Das zeugt vor allem davon, dass sie China anders haben wollen. Was sie im Reich der Mitte an »Neuerungen« anstreben und durchsetzen, zerstört dieses Reich mit seinen bestaunten Errungenschaften.

      Die in Europa gerade in Schwung gekommene kapitalistische Produktionsweise gehorcht dem Prinzip, aus Geld mehr Geld zu machen – und dieses Prinzip verlangt überall Geltung. Nur auf dem heimischen Markt, etwa in England, zu produzieren, zu verkaufen, Gewinn zu realisieren und die ganze Operation – vergrößert – von neuem zu beginnen, das stellt vom Standpunkt der Kaufleute und industriellen Unternehmer eine Beschränkung ihrer Geschäftsmöglichkeiten dar, die nicht sein soll und darf. Und genau so radikal wie borniert sehen es die Staatsgewalten, die die Geschäftemacherei zur materialistischen Grundlage ihres Florierens erkoren haben. Die gesamte Welt wird neu betrachtet: als potenzielle Geschäftssphäre, in der man Waren einkaufen und an die man Waren verkaufen kann. Wenn ein Land nicht mitspielt oder gar sich diesem Programm verweigert – aus welchen Gründen auch immer – gilt es als rückständig, unmodern. Und so wird die Welt nicht nur betrachtet. Eine Nation wie China soll »sich öffnen« und Handel zulassen; von diesem Interesse beseelt, segeln die Kaufleute aus Europa mit dem Segen und dem Rückhalt ihrer staatlichen Schutzherrn dorthin.

      Auch wenn der chinesische Hof wenig Bedarf danach hat und den Wünschen der westlichen »Barbaren« mit Desinteresse und Arroganz begegnet – »Mein Reich hat alles im Überfluss und braucht nichts einzuführen«, schreibt Kaiser Qianlong an Georg III. –, erlaubt er schließlich einen begrenzten Handel. Während chinesischer Tee zum Absatzschlager in England wird, verkaufen sich englische Waren nicht sonderlich gut in China. Die englischen Textilprodukte sind, aller Produktivität der modernen britischen Manufakturen zum Trotz, zu teuer – gemessen an der Billigkeit, mit der die Masse der chinesischen Bauern ihre Baumwollstoffe herstellt. So erwirtschaftet die Ostindische Kompanie zwar Profite, der englische Staat aber konstatiert eine negative Handelsbilanz und fortwährenden Abfluss englischen Silbers nach China.

      Um das zu ändern, verkaufen die Briten Opium nach China. Opiumkonsum ist in China offiziell verboten, der Handel damit ebenso. Zunächst wird es auf den Schiffen der Ostindischen Kompanie geschmuggelt. Als sich zeigt, dass es gut absetzbar ist, steigt die Kompanie in die Produktion ein: Sie lässt den Mohn in ihren indischen Kolonialbesitzungen anbauen und von privaten Händlern in die chinesischen Häfen bringen. Der Erfolg für die englische Handelsbilanz ist durchschlagend; die indischen Kolonien beziehen in der Folge 1/7 ihrer Einkünfte aus dem Opiumhandel. Ebenso durchschlagend sind allerdings die Folgen für China, weil das »Rauschgift ... gleichermaßen verderblich auf Moral, Staatssäckel und Gesundheit im blumigen Reich der Mitte wirkt« (Karl Marx in der New York Daily Tribune; vgl. Marx 1955). Allein zwischen 1829 und 1840 fließen 45 Millionen Silberdollar aus China ab, 6 Millionen Chinesen sind opiumsüchtig, die mit dem Opiumschmuggel verbundene Korruption wirkt demoralisierend auf die chinesischen Beamten, die ihre fürsorgliche Seite zunehmend fahren lassen und damit ihre (und des Kaisers) Autorität beim Volk verlieren.

      Der chinesische Hof beschließt 1839, praktisch gegen den Opium-Handel vorzugehen; ein Beamter6 setzt britische Händler gefangen und beschlagnahmt Schiffsladungen. Das nimmt England zum Anlass, einen Krieg gegen China zu führen, der ihm endlich umfassende neue Freiheiten verschafft. Mit dem »Opiumkrieg« und dem anschließenden Vertrag von Nanjing (1842) beginnt eine ganze Reihe von militärischen Auseinandersetzungen und Friedensschlüssen. Neben England und Frankreich, Amerika, Schweden, Norwegen, Belgien bringen sich auch die neu in imperialistische Weltpolitik einsteigenden Mächte Japan und Russland, schließlich auch die ewig verspätete Nation Deutschland ins Spiel, teilweise unmittelbar kriegerisch, teilweise mehr im Windschatten der anderen segelnd.

      Die damit beginnende Öffnung Chinas ist ein regelrechtes Lehrstück über die imperialistische Erschließung der Welt und den Zusammenhang von privatem Geschäft und staatlicher Gewalt. Aufstrebende und buchstäblich weitblickende Geschäftsleute beanspruchen auf dem gesamten Globus Freiheit für sich und ihre Profitinteressen. Dieser Wunsch stößt in China auf Ablehnung, und zwar in Gestalt einer immerhin so durchorganisierten staatlichen Gewalt, dass diese nicht (wie in vielen anderen Fällen) einfach zu ignorieren oder zu übergehen ist. Das heißt keineswegs, dass man das Land in Ruhe lässt. Die wenigen zugebilligten Geschäfte werden mitgenommen. Sehr schnell registriert man an ihnen, dass sie »zu beschränkt sind« – sowohl vom Standpunkt der Kaufleute wie dem der nationalen Handelsbilanz. Also wird der Anspruch auf Geschäft und Gewinn, den man sich gegenüber diesem Land wie ein Recht herausnimmt, mit aller Gemeinheit und Gewalt durchgesetzt. Das zersetzt das Land nach innen und bringt – von unten wie von oben – praktischen Aufruhr gegen die »barbarischen Ausländer« hervor. Natürlich bedeutet das nicht, dass diese nun abziehen. Ganz im Gegenteil ruft es deren Regierungen erst recht auf den Plan. Diese wollen das Geschäftemachen ihrer rührigen Bürger gegen alle Widerstände ins Recht setzen; dafür zetteln sie regelrechte Kriege an. Dafür bemühen sie sich (auch das schon sehr modern!) um einwandfreie Legitimationstitel – schließlich sollen auch die anderen Staaten ihr Vorgehen anerkennen und die Öffentlichkeit zuhause alles moralisch in Ordnung finden.

      »Dass ein Riesenreich, das nahezu ein Drittel der Menschheit umfasst, das durch künstliche Abkapselung vom allgemeinen Verkehr isoliert, langsam durch die Jahrhunderte dahinvegetiert und es deshalb zuwege bringt, sich mit Illusionen über seine himmlische Vollkommenheit zu täuschen – dass solch ein Reich schließlich zugrunde gehen muss in einem tödlichen Zweikampf, in dem der Vertreter der alten Welt aus ethischen Beweggründen handelt, während der Vertreter der überlegenen modernen Gesellschaft