Renate Dr. Dillmann

China – ein Lehrstück


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Visionen ersinnen könnte.«

       Karl Marx für die New York Daily Tribune, 20. September 1858, in: Marx 1955: 70 (weitere Berichte von Marx zum China-Handel und Englands Militäraktionen siehe renatedillmann.de)

      Nach jedem Kriegserfolg gegen die militärisch unterlegene chinesische Regierung werden passende Verträge ausgehandelt. Insoweit wird der »Sohn des Himmels« also noch anerkannt; vermutlich weniger, weil seine Gewalt über Land und Leute für die Umsetzung der Verträge gebraucht wird, als deshalb, weil die imperialistischen Mächte sich in ihrer Konkurrenz um China wechselseitig ausbremsen. Mit Verträgen, die ziemlich offenherzig »ungleiche« genannt werden, wird China peu à peu gezwungen,

       Land abzutreten (Hongkong, Kowloon, die New Territories),

       immer mehr Häfen und Handelsplätze zu öffnen,

       immer mehr Produkte in Zolltarife aufzunehmen und damit zum Verkauf zuzulassen (u.a. Opium),

       für alle Ausländer das Prinzip der Exterritorialität anzuerkennen (d.h. sie sind wie sonst nur diplomatische Vertreter eines Landes »immun« und unterstehen ihrer eigenen Gerichtsbarkeit),

       christliche Missionare frei im Land wirken und Religionsfreiheit zuzulassen,

       ein »Amt für auswärtige Angelegenheiten« einzurichten, d.h. die Auseinandersetzung mit den Anliegen der Ausländer im Land zum Bestandteil ihrer Regierungstätigkeit zu machen,

       die Gründung von Industriebetrieben und den Bau von Eisenbahnlinien durch Ausländer zuzulassen,

       über die »Meistbegünstigungsklausel« das jeweils von einem Staat durchgesetzte Recht gleich allen anderen zuzubilligen,

       immense »Entschädigungen« für die verlorenen Kriege zu zahlen.

      Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich die chinesische Gesellschaft bereits enorm verändert. Opiumhandel und die zerstörerische Konkurrenz ausländischer Produkte haben die bisherige Ökonomie angegriffen. Seit dem chinesisch-japanischen Krieg gibt es erste industrielle Produktionsstätten, die von Ausländern betrieben werden. Während in den meisten kolonialisierten Ländern lediglich Rohstoffe gewonnen und zur Weiterverarbeitung in die entwickelten Industriestaaten exportiert werden,7 stellt das geöffnete China in dieser Beziehung einen Sonderfall dar. Auf Basis der im Land verbreiteten Handwerkskunst und bereits vorhandener Manufakturen und – dank der einsetzenden Landflucht – extrem billiger Löhne erscheint der Aufbau einiger Produktionsstätten, vor allem in der Textilproduktion (Baumwolle und Seide), lohnend. In Shanghai und an der Ostküste, günstig gelegen für den Transport nach Europa und Amerika, werden deshalb Fabriken betrieben; Japan ist im Nordosten aktiv (und übernimmt nach 1919 die deutschen Konzessionen in Qingdao).

      Die Zustände in diesen Fabriken spotten jeder Beschreibung – die »Arbeitsbedingungen in China« sind zu Beginn des 20. Jahrhunderts »vermutlich die schlimmsten in der ganzen Welt, Japan und Indien nicht ausgenommen« (Thomas Chu, Vorstand der industriellen Abteilung des Christlichen Vereins Junger Männer (YMCA), der 1924 eine Untersuchung durchführt, zit. in: de Beauvoir 1960: 174ff.).

      Rewi Alley, ein Neuseeländer, der ab 1932 für den Stadtrat von Shanghai als Fabrikinspektor arbeitet und später der KPCh beitritt, schreibt: »Einmal rief man mich in eine Fabrik, wo der Direktor gerade einen Lehrling totgeprügelt hatte. Zur Rede gestellt, entgegnete der Gentleman: ›Der Bursche hat ohnehin nichts getaugt.‹ Die Polizei verhaftete den Direktor zwar, doch ein paar Monate später sah ich ihn wieder lächelnd hinter seinem Schreibtisch sitzen. Es gehörte wahrhaftig nicht viel dazu, einen Kuli ins Jenseits zu befördern. (...) Übelriechende Aborte und nirgends eine Waschgelegenheit, verdorbene Nahrung, blutendes Zahnfleisch und entzündete Augen, Fußtritte, Prügel und Unglücksfälle am laufenden Band – das war der Lohn dieser Arbeitssklaven, die niemand als menschliche Wesen betrachtete... Unvergesslich sind mir auch die Werkstätten einer Farbenfabrik, wo die jungen Arbeiter in dem ätzenden Staub der Chromsalze schlafen mussten, der ihnen Hände und Füße bis auf die Knochen zerfraß.«

       zit. nach de Beauvoir 1960: 176f.

      Aufrüstungs- und Kriegskosten haben die Finanzen des chinesischen Staats zerrüttet. China ist bei europäischen Bankenkonsortien hoch verschuldet. Schon die alten Steuern waren für die Bauern kaum tragbar; nun kommen neue hinzu, steigern die Armut und führen vermehrt zu Aufständen.8 Korruptheit und der demoralisierte Zustand der Beamtenschaft untergraben die staatliche Autorität; chinesische Unternehmen und Schmuggler machen sich die »exterritorialen« Privilegien der Ausländer zunutze und unterhöhlen das geltende Recht- und Steuerwesen; Kriminalität und Bandenwesen machen sich breit.

      Als Reaktion auf den Zustand des Landes rührt sich zunehmend und auf verschiedenen Ebenen nationaler Widerstand. Das »Nationale« an diesem Aufbegehren ist in einem doppelten Sinn zu verstehen: Einerseits richtet sich Feindseligkeit und Hass auf die ausländischen Mächte, deren Wirken als ruinös für China und deren Kriegshandlungen wie Friedensschlüsse als demütigend begriffen werden. In diesem nationalen Gefühl gegen die unerwünschten Ausländer sind sich – über alle existierenden sozialen Gegensätze hinweg – Chinesen aus allen Klassen und Schichten einig. Offensichtlich existiert im kaiserlichen China die Vorstellung einer chinesischen Identität, einer Zusammengehörigkeit von Volk und Herrschaft, bzw. bildet sich ein solches Nationalgefühl im modernen Sinn als Reaktion auf das Eindringen der Ausländer heraus. Andererseits zielt der Protest auch auf den regierenden Mandschu-Kaiser. Modernen, patriotisch denkenden Chinesen – in den meisten Fällen Söhne reicher Familien, die im westlichen Ausland oder in Japan studiert haben – gilt die Mandschu-Dynastie, gegen die es von Anfang an vor allem in der herrschenden chinesischen Klasse Vorbehalte gab, immer mehr als Fremdherrschaft. Ihr wird vorgeworfen, dass sie, weil fremd, die Ausländer und ihre expandierenden Ansprüche nicht konsequent bekämpft, sondern ihrer eigenen Machterhaltung zuliebe mit ihnen gemeinsame Sache macht. Angesichts der Schwäche der chinesischen Regierung finden sich genügend Anhaltspunkte für den Vorwurf nationalen Ausverkaufs, sowohl in den »ungleichen Verträgen«, den erzwungenen ökonomischen Konzessionen (etwa beim Eisenbahnbau)9 wie bei politischen Vereinbarungen.10 So wird letztlich die im Vergleich mit den modernen kapitalistischen Staaten wahrgenommene ökonomische, politische und kulturelle Rückständigkeit Chinas als Werk einer unchinesischen Führung gedeutet.

      Die nationale Ausrichtung der Widerstandsbewegungen findet in verschiedenen Schichten mit unterschiedlichen Interessenlagen jeweils besondere Ausprägungen:

       Ein Teil des Volks lässt seine Wut über die zunehmend elenden Zustände unmittelbar an den verhassten Ausländern aus. In Hongkong werden Brote vergiftet, die für westliche Geschäftsleute bestimmt sind; christliche Missionare werden ermordet; in den Fabriken gibt es Fälle von Maschinenstürmerei. 1899/1900 organisieren die Boxer, eine Volksbewegung zur Selbstverteidigung, die nach dem chinesisch-japanischen Krieg großen Zulauf unter den Flüchtlingsmassen in Shandong findet, einen zunächst anti-christlichen, dann allgemein fremdenfeindlichen Aufstand. Aufstände und Rebellionen dieser Art werden im Normalfall von der chinesischen Regierung blutig niedergeschlagen; der Boxeraufstand, den der kaiserliche Hof ein Stück weit berechnend angestachelt hat, wird dagegen von einer gemeinsam aufgestellten Truppe aller imperialistischen Mächte unter deutscher Führung niedergekämpft.

       Teile der alten politischen Klasse Chinas, Beamte aus der unmittelbaren Umgebung des Kaisers, hohe Provinzbeamte, aber auch Intellektuelle (Literaten) protestieren gegen den Verlust an Macht und Prestige, den China durch die zu nachgiebige Behandlung der Ausländer erfährt. Sie versuchen, das alte System durch Reformen zu retten; so gibt es unter anderem eine sehr populäre »Selbststärkungsbewegung«, die pur chinesisch finanzierte Eisenbahnen, die sogenannten Volksbahnen, baut.

       Eine neu entstehende Schicht von patriotisch denkenden chinesischen Intellektuellen und Angehörigen freier Berufe (Rechtsanwälte, Ärzte, Unternehmer) will China durchgreifend modernisieren – wobei wiederum sehr verschiedene Vorstellungen zum Zug kommen. Während die chinesischen Unternehmer sich vor allem gegen ökonomische