Renate Dr. Dillmann

China – ein Lehrstück


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kapitalistischen Mächte: So wie diese in jeder Hinsicht überlegenen Staaten soll das zukünftige China aussehen, ein freies und souveränes Land mit einem aufgeklärten und gebildeten Volk. Bewegungen aller Art – religiös-sozial, bildungs- oder reformorientiert, umstürzlerisch – werden in großer Zahl gegründet; so auch die »Gesellschaft zur Wiedererrichtung Chinas«, die 1894 von Sun Yatsen ins Leben gerufen wird, einem Arzt, der in Japan und den USA studiert hat. Sie wird 1912 mit anderen kleinen Parteien zur Guomindang Partei vereinigt. Angesichts der herrschenden Verhältnisse von Geschäft & Gewalt in ihrem Land sind die bürgerlich-nationalen Reformideen ein einziger Idealismus. Aufgrund ausbleibender Erfolge radikalisieren sich immer mehr ihrer Protagonisten: In der »verkommenen« und zu Reformen nicht bereiten Mandschu-Herrschaft machen sie zunehmend das Hindernis für ein neues, modernes China aus.

      Nach zehn erfolglosen Versuchen wird die letzte Dynastie 1911 schließlich weggeputscht und eine chinesische Republik ausgerufen.11 Das beseitigt allerdings wenig von den Problemen, denen sich China gegenübersieht: Weder ziehen sich die westlichen Ausländer aus Respekt vor der neuen volkssouveränen Herrschaft zurück, noch ändert sich etwas an den materiellen Grundlagen von Volk und Staatsgewalt. Letztere muss sich ganz im Gegenteil gegen eine ganze Reihe von separatistischen Aufständen behaupten, die der Zerfall der kaiserlichen Macht auf den Plan gerufen hat, und sieht sich darüber hinaus mit den sogenannten »21 Forderungen« Japans konfrontiert, die aus China eine Art japanisches Protektorat machen wollen. Das staatliche Gewaltmonopol zerfällt zusehends; das Land wird de facto von einzelnen regionalen Militärdiktatoren (warlords) und ihren kriegerischen Auseinandersetzungen beherrscht.

      Die imperialistischen Mächte, die China als Geschäftssphäre benutzen wollen, sehen sich insofern nicht nur mit Unwilligkeit, sondern auch mit zunehmender Unfähigkeit konfrontiert. Weil staatliche Funktionen wie das Eintreiben der Steuern und Zölle nicht mehr zentral funktionieren, kann China seine Schulden nicht mehr bedienen; der chinesische Kredit leidet – und damit die Möglichkeit des Auslands, in China Geld zu verdienen. Das darf nicht sein; auf Schulden und Zinsen wollen die Gläubigerstaaten auch nicht ohne Weiteres verzichten. Also greifen sie im Interesse an der Fortführung ihres Geschäfts mehr und mehr direkt in Staatsfunktionen ein: Im Seezolldienst, Postwesen und anderen Behörden fungieren ausländische Beamte als von der chinesischen Regierung bezahlte Verwalter, die einkassierte Gelder statt in den chinesischen Staatshaushalt direkt an eine internationale Bankenkommission in Shanghai weiterleiten.

      »Die Kommunalpolitik unterstand dem Stadtrat von Schanghai, der 1910 noch von englischen Kaufleuten beherrscht wurde. Der Stadtrat erweiterte seinen Bereich durch den Bau äußerer Straßen. Er beschäftigte chinesisches Personal, die Polizei bestand aus indischen Sikhs. Das Seezollamt unterstand einem englischen Generalinspektor. Alles drehte sich hier um den Handel. Es gab noch Pferderennen; heute ist der Rennplatz ein Park. Die YMCA (Christlicher Verein junger Männer) wirkte zivilisierend, ebenso wie die protestantischen und katholischen Schulen. Die Masse der chinesischen Arbeiter, die aus den unerschöpflichen Menschenreserven des flachen Landes hereinkam, war nicht gewerkschaftlich organisiert. Gewerbeschutzgesetze entwickelten sich nur langsam. Die chinesische Bevölkerung wuchs und wuchs, weil hier ein Zentrum des Handels und der Industrie war und sich eine Zuflucht vor den Plünderungen der Generale bot.

      In dieser halbkolonialen Situation hatte die chinesische Regierung wenig zu sagen. Das internationale Viertel und die angrenzende französische Konzession unterstanden nicht der chinesischen Gerichtsbarkeit. Nur am Rand der Stadt war etwas von der chinesischen Regierung zu bemerken. Ein chinesischer Richter war der Konsularverwaltung bei der Behandlung von Fällen behilflich, die Chinesen betrafen. Bis 1925 gab es ein gemischtes Gericht, ungefähr die einzige Vertretung chinesischer Staatsgewalt.

      Die chinesische Bevölkerung lebte rechtlich in einem Vakuum. Es wurde von einer Unterwelt ausgefüllt, die von der »Grünen Bande« beherrscht war. Diese Bande hielt ihre Mitglieder mit Geld und Gewalt zusammen. Sie betrieb alle Laster einer modernen Großstadt: Prostitution, Erpressung und Rauschgifthandel. Mit der ausländischen Polizei, besonders der französischen, gab es eine stille Zusammenarbeit. Opium aus dem Gebiet oberhalb der Stadt fand zunehmend den Weg nach Schanghai. Der Stadtrat war gegenüber dieser Tätigkeit machtlos, es kam zu einer Art Vernunftehe zwischen den Ausländern und der chinesischen Unterwelt. Die hier wohnhaften Ausländer, nur wenige Tausend an der Zahl, fühlten sich in ihrer Ansicht bestärkt, dass die Chinesen von Natur aus lasterhaft, Betrüger und Erpresser waren.«

       Fairbank 1989: 184f.

      Im Ersten Weltkrieg erklärt China Deutschland und Österreich-Ungarn den Krieg – auf Anraten Englands und der USA, gegen die Interessen Japans, das China international klein halten will. Militärisch besteht der Beitrag des Landes, seinen Möglichkeiten entsprechend, darin, etwa 140.000 chinesische Arbeiter zum Ausheben von Schützengräben nach Frankreich abzuordnen. Chinas Hoffnung, als Mit-Kriegsgewinner eine Revision der »ungleichen Verträge« zu ernten, wird in Versailles enttäuscht; stattdessen wird Japan in die deutschen Besitzungen (Shandong) eingesetzt. Dagegen erhebt sich unter Führung von Studenten aus Beijing Protest (»Bewegung vom 4. Mai 1919«), der sich auf andere Universitäten ausbreitet; Teile der städtischen Bevölkerung schließen sich an (Professoren & Lehrer, Kaufleute) mit einem Boykott japanischer Waren, Unternehmer & Arbeiter in Shanghai mit einwöchigem Streik). Die Bedeutung dieser Bewegung liegt weniger in ihren praktischen Erfolgen – die chinesische Regierung verweigert letzten Endes ihre Unterschrift unter den Versailler Vertrag – als vielmehr darin, dass sich in ihr die entscheidenden Akteure der Folgezeit herauskristallisieren:

       Die 1912 gegründete Guomindang (Nationale Volkspartei, GMD), die nach dem Putsch von 1911 die ersten Wahlen gewonnen, zugunsten einer starken Zentralgewalt aber sehr staatskonstruktiv auf einen Eintritt in die Regierung verzichtet hatte und 1913 verboten wurde, organisiert sich unter Sun Yatsen neu. Ihr Programm ist jetzt antiimperialistisch und enthält auch sozialpolitische Forderungen. Nach dem Erfolg der kommunistischen Revolution in Russland organisiert sie sich als Kaderpartei nach leninistischem Vorbild und knüpft – nachdem sich Sun lange Zeit erfolglos um westliche Unterstützung für sein Programm bemüht hat – ab 1923 Verbindungen zur Sowjetregierung (Ausbildung in Moskau, Hilfe beim Aufbau einer Armee).

       1921 gründet sich die KP Chinas, motiviert durch den Erfolg der kommunistischen Revolution im ebenfalls unterentwickelten Russland. Die sowjetische Führung hält China nicht geeignet für die Durchführung einer sozialistischen Revolution. Sie setzt auf eine »nationale Revolution« und propagiert eine Einheitsfront beider Parteien, die diese auch eingehen.12 1927 erklärt Ciang Caishek, der nach Sun Yatsens Tod (1925) die Parteiführung der Guomindang erobert, die Kommunisten zur unerwünschten Konkurrenz und lässt sie massenhaft umbringen (etwa 40.000). Der Rest der KP geht in den Untergrund.

      Von 1928 bis 1949 regiert die Guomindang in China. »Ziel war es, die Bevölkerung an die Demokratie heranzuführen, einen modernen Nationalstaat aufzubauen, die Industrialisierung voranzutreiben, das Problem der ungleichen Landverteilung zu lösen, die Zoll- und Rechtshoheit wiederherzustellen und China zu einem gleichberechtigten Mitglied der Völkergemeinschaft zu entwickeln.« (Stichwort Guomindang, CL: 284)

      Diese Ziele zeugen vor allem davon, was es in China nicht gibt: ein durchgesetztes Gewaltmonopol, eine industrielle Basis, verlässliche Staatseinnahmen. Deren Vorhandensein wäre allerdings die entscheidende Voraussetzung dafür, die Mittel zu liefern, mit denen das Land den imperialistischen Mächten, die es nach wie vor zu ihrem Nutzen und seinem Schaden ausplündern, Paroli bieten und sich »zu einem gleichberechtigten Mitglied der Völkergemeinschaft« entwickeln bzw. »einen modernen Nationalstaat« aufbauen könnte. Insofern fordert das Programm die Quadratur des Kreises. Anders gesagt: Die Zerstörung der alten Gesellschaft durch die imperialistischen Mächte erzeugt in China das Bedürfnis nach einer »bürgerlichen Revolution«, einem »modernen Nationalstaat«. Gleichzeitig ist die fortwährende ökonomische Ausbeutung Chinas wie die damit einhergehende Zerstörung der chinesischen Staatsgewalt durch die Imperialisten aber auch der Grund, warum ein solches Programm notwendigerweise scheitert.

      Ciang Caishek hat das im Lauf der 1930er Jahre als mangelnden Erfolg seines »nationalen