Renate Dr. Dillmann

China – ein Lehrstück


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Seite des Projekts ausmacht – dies ist an den einzelnen Etappen der maoistischen Kampagnen deutlich nachzuvollziehen, vor allem natürlich am legendären »Großen Sprung nach vorne«. Immer mehr ist den chinesischen KP-Führern offenbar klar geworden, dass die wirkliche Konkurrenz der Nationen, an denen die sozialistische Volksrepublik sich durchaus messen wollte, nicht als Kampf um die größtmögliche Volksbeglückung funktioniert, sondern mit Geld und Waffen ausgetragen wird. Dass sie mit ihrem Nationalkommunismus in dieser realen Konkurrenz nichts auszurichten vermochten und all ihre sozialen Errungenschaften dafür wenig hergegeben haben, hat ihnen dann so zu denken gegeben, dass sie nach nicht einmal 30 Jahren lieber ihren Kommunismus für ihren nationalen Erfolg weggeworfen haben als umgekehrt ihrer sozialistischen Volksfürsorge zuliebe das Programm einer weltweit erfolgreichen chinesischen Nation sein zu lassen.Das Ziel einer ebenso nationalen wie sozialen Revolution ist also der praktische Ausgangspunkt, von dem aus die Kommunistische Partei Chinas ihre theoretischen wie praktischen Bemühungen startet. Sehr schön bringt das ihr späterer Vorsitzender Mao zur Anschauung, der in einer seiner frühen Schriften 1926 »die Klassen der chinesischen Gesellschaft« analysiert.»Über die Klassen der chinesischen Gesellschaft: Wer sind unsere Feinde, und wer sind unsere Freunde? Das ist die Frage, die in der Revolution erstrangige Bedeutung hat. Der Hauptgrund, weshalb alle revolutionären Kämpfe in China in der Vergangenheit nur sehr unbedeutende Ergebnisse brachten, bestand in der Unfähigkeit der Revolutionäre, die wahren Freunde um sich zu scharen, um den Schlag gegen die wahren Feinde zu führen. (...) Um die wahren Freunde von den wahren Feinden zu unterscheiden, muss man in allgemeinen Zügen die ökonomische Lage der Klassen, aus denen sich die chinesische Gesellschaft zusammensetzt, und deren Einstellung zur Revolution analysieren.« (Mao Zedong 1956, Bd. 1: 11)Das ist schon eine eigenartige Frage, mit der der junge Mao seine Überlegungen beginnt. »Klassen« im ökonomischen Sinn kann und will er auf diese Art sicher nicht bestimmen; für ihn fällt der Begriff einer Klasse schlicht und einfach mit ihrer Rolle in den revolutionären Kämpfen, die er auf den Weg bringen will, zusammen. Ganz dieser Frage entsprechend fällt dann die Charakterisierung der einzelnen Klassen aus: Grundbesitzer und Kompradorenbourgeosie sind »konterrevolutionär«, Halbproletariat und arme Bauern sind »revolutionär«, »Halbpächter sind revolutionärer gestimmt als Bauern auf Eigenland, aber weniger revolutionär als die armen Bauern« usw. usf. Mao bezieht sämtliche Sozialcharaktere auf sein Ziel der angestrebten national-sozialen Revolution und schätzt ein, wie sie sich aus ihren ökonomischen Motiven heraus dazu stellen werden. Insofern enthält diese Frühschrift weniger eine Theorie darüber, wie es um die Klassen des damaligen China und ihre ökonomischen Gegensätze bestellt ist, als dass sie das Interesse eines entschiedenen Revolutionärs verrät. Zumindest auf dem Papier hat die fällige Revolution bereits eine denkbar breite Basis. Sie schließt im Prinzip die gesamte chinesische Gesellschaft ein, ausgenommen »Grundbesitzer« und »Kompradorenbourgeoisie«, die die »rückständigsten und reaktionärsten Produktionsverhältnisse« verkörpern. Alle anderen – von der nationalen Bourgeoisie bis hin zu den ärmsten Bauern – sind dagegen »revolutionäre« Klassen. Dass »Revolution« für aufstrebende chinesische Kapitalisten etwas anders aussieht als für seine kommunistische Partei, nimmt Mao dabei durchaus zur Kenntnis. Er sieht, dass sich diese Klasse ihrem Interesse entsprechend lediglich gegen »die schweren Schläge des ausländischen Kapitals und die Unterdrückung durch die Militärherrschaft« ausspricht und sofort von »Zweifeln über die Revolution gepackt wird«, wenn das »einheimische Proletariat beginnt, kühn und entschlossen an der Revolution teilzunehmen«. Weil er alle (bzw. möglichst viele) Kräfte für den Kampf um die nationale Befreiung mobilisieren will, erklärt er diesen Unterschied aber kurzerhand für momentan unerheblich. Selbstverständlich kann er auch dafür einen »guten« historisch-materialistischen Grund angeben: Über kurz oder lang werden sowieso alle Zwischenklassen zur Entscheidung zwischen weiß und rot gezwungen, »weil die gegenwärtige internationale Situation dadurch gekennzeichnet wird, dass in der Welt der Entscheidungskampf zwischen zwei gleich gigantischen Kräften – der Revolution und der Konterrevolution – im Gange ist«.Maos Klassenanalyse beschäftigt sich also inhaltlich mit der Frage, welche Kräfte in der chinesischen Gesellschaft für den eigenen Standpunkt vereinnahmt werden können. Das Interesse an einem möglichst breiten Bündnis für die zunächst anstehende nationale Revolution führt dabei sehr ersichtlich die Feder. Damit führt das junge Parteimitglied Mao Zedong zugleich regelrecht exemplarisch eine Unsitte in den Auseinandersetzungen damaliger Kommunisten vor.Theorie und PraxisUnter »Theorie« verstehen er und seine Genossen nämlich etwas Eigenartiges. Theorie ist für sie weniger die geistige Anstrengung, die es braucht, wenn man den Wunsch nach Verbesserung der vorgefundenen Verhältnisse vom Kopf auf die Füße stellen will. Kommunisten sollten in der Tat erklären können, warum die kapitalistische Ökonomie notwendig auf Kosten der Massen funktioniert, warum der bürgerliche Staat die gewaltsame Klammer einer Klassengesellschaft ist, warum Imperialismus und Krieg notwendig zu dieser Sorte Wirtschaft und Staatmachen dazugehören usw. usf. Dieses Wissen beseitigt erstens Illusionen dahingehend, dass der Wunsch nach Weltverbesserung im kapitalistischen System gut aufgehoben sein könnte. Zweitens verhindert es bei entschiedenen und möglicherweise sogar erfolgreichen Revolutionären folgenschwere Fehler, wie etwa die, ausgerechnet die Ideale von Kapitalismus und Demokratie zur praktischen Leitlinie ihres sozialistischen Aufbaus machen (näher dazu siehe das »Zwischenfazit in polemischer Absicht« in Teil 1, Kapitel 4).Für Mao und seine Mitkämpfer besteht Theoriebildung dagegen vor allem darin, mit marxistisch-leninistischem Vokabular abzuleiten, welche politische Entscheidung, welche Bündnispartnerschaft, welche Linie die passende, historisch notwendige Antwort auf eine gegebene Lage ist. Dass sie über praktischen Auseinandersetzungen die Theorie vernachlässigt hätten, kann man den Kommunisten jener Tage nicht vorwerfen – ganz im Gegenteil. Sie haben erstaunlich viel gelesen, eigene Schriften produziert und engagierte Auseinandersetzungen geführt. Ihre Intentionen beim Nachdenken und Streiten sind allerdings eigenartig. Theoriebildung betreiben sie nämlich mit viel Verve ausgerechnet da, wo es der Sache nach gar nicht um theoretische Probleme geht und wo Fragen gar nicht oder gar nicht allein durch Stichhaltigkeit bzw. Widerlegung von Argumenten zu entscheiden sind. Die kommunistischen Revolutionäre schlagen sich mit Einschätzungen und Entscheidungen in ihrem praktischen Kampf herum. Das, was ihnen als nächster Schritt für den Erfolg der Revolution wichtig vorkommt, wollen sie ihren Genossen einsichtig machen, um möglichst viel Unterstützung in der Partei und bei der Komintern zu sammeln. Zu diesem Zweck berufen sie sich auf die in einer kommunistischen Partei anerkannten Lehren, die – so gebraucht – immer mehr den Charakter von Glaubenssätzen annehmen. Die Klassiker werden mehr und mehr deshalb studiert und zitiert, weil man mit ihrer Autorität den eigenen Standpunkt unwidersprechlich machen will. Und je mehr sich die Auseinandersetzungen praktisch aufs Feld von Strategie und Taktik, auf Fragen der erfolgreichen Durchsetzung usw. konzentrieren, umso mehr Wert legen die Parteimitglieder darauf, objektive Gesetzmäßigkeiten anzuführen, mit denen ihr Handeln im Einklang stehen soll. Ausgerechnet Revolutionäre, die sich daran machen, ihren Standpunkt gegen das bisher in der Welt Geltende durchzusetzen, halten es für ein Vergehen, ihrem Willen zu folgen. Voluntarismus will sich keiner vorwerfen lassen, stattdessen wird viel Wert darauf gelegt, mit seinen Gedanken und Taten einem sowieso waltenden historisch-materialistischen Prinzip zu entsprechen und darin realistisch zu sein.Theoretische Auseinandersetzungen dieser Art sind längst nicht nur in der chinesischen KP Usus. Sie haben ihren Ursprung in unterschiedlichen und konkurrierenden Ansichten über Wege zum gemeinsamen Ziel der Revolution. Deren Erfolg steht in den Augen der Kommunisten unverrückbar fest, er ist »historisch notwendig« – womit sie sich und möglichen Anhängern versichern, auch angesichts momentan widriger Umstände auf der richtigen Seite zu stehen. Erfolg ist damit aber auch so etwas wie ein Wahrheitskriterium: Nichts gibt einer Linie im Nachhinein mehr Recht oder bescheinigt einer Analyse, falsch zu liegen, als die Praxis. Ihr Sieg 1917 macht die russischen Revolutionäre schlagartig und für Jahrzehnte zur geistigen Autorität der kommunistischen Weltbewegung. Große Theoretiker werden nicht an ihren Argumenten gemessen. Genau umgekehrt werden ihre Gedanken in dem Maße zu Dogmen des Marxismus-Leninismus, wie sie sich praktisch parteiintern und gegen ihre Gegner im bürgerlichen Lager durchsetzen: Lenin, Stalin, Mao. Natürlich soll jeder das genau andersherum sehen. Nicht der Erfolg – wie immer er zustande gekommen ist – soll die Theorien adeln, sondern umgekehrt zeigt er ex post nur, welche präzisen Analysen und scharfen Gedanken der siegreichen Linie schon immer zugrunde gelegen haben. Von daher